Schröder gegen Stoiber, Deutschland gegen Bayern. Wenn die Wähler allein nach diesem Schema entscheiden, hat der Kanzler schon verloren. Egal, ob Wachstum, Arbeitslosigkeit, geringe Verschuldung oder Exportquote - überall liegt Bayern auf dem ersten oder zweiten Platz im Bund. Die Folge: mehr Wohlstand. "Oberbayern ist heute die reichste Flächenregion in Europa", sagt Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner ifo Instituts.
Noch vor 50 Jahren verdiente im Voralpenland jeder Dritte seinen Lebensunterhalt mühsam auf den Feldern. Bayern war unten in Deutschland, geografisch wie ökonomisch. Heute ist Bayern oben, und das liege vor allem an der CSU und an ihm, dem Ministerpräsidenten - das wird Edmund Stoiber den Deutschen im Wahlkampf entgegenrufen.
Tatsächlich müsste er es so formulieren: Bayern ist oben, und das liegt zunächst einmal an den Russen. Aus Angst vor den Sowjets zog kurz nach dem Krieg der Siemens-Konzern aus Berlin nach München um - und brachte moderne Elektrotechnik mit. "Siemens war der Standortbildner", sagt der Kölner Wirtschaftsgeograf Rolf Sternberg, der den bayerischen Aufschwung erforscht hat.
Den Bayern kam zugute, was Ökonomen "die Gnade der späten Industrialisierung" nennen. Lebte das Ruhrgebiet noch Jahrzehnte im Rhythmus von Zechen und Stahlöfen, "konnte Bayern direkt von der Agrar- in die Dienstleistungsgesellschaft springen", so Thomas Straubhaar, Präsident des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA).
Wie folgenreich diese Gnade war, zeigt sich in Landstrichen, denen sie nicht zuteil wurde. Auch die gibt es in Bayern. Verwandelten sich in München und Umgebung Bauerndörfer in High-Tech-Zentren, dominieren in Oberfranken noch heute alte Textil-, Glas- und Keramikunternehmen. "Wir haben hier den dritthöchsten Anteil von Industriearbeitern in der EU", sagt Joachim Hunger, Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer in Hof. Und die höchste Arbeitslosenquote in Bayern. Mit 10,4 Prozent liegt sie weit über dem westdeutschen Schnitt von 7,7 Prozent.
Zum Glück für den Wahlkämpfer Stoiber sind die bayerischen Problemzonen klein. Zudem wachsen die Boomregionen - und dazu, da sind sich die Experten einig, hat die Landespolitik viel beigetragen. Insbesondere einige Vorstöße von Landesvertretern beim Bund. Was die Finanzierung von Forschung angeht, haben die Bayern, vor allem die Münchner, mehr Geld vom Bund bekommen als vom Land, hat Rolf Sternberg ausgerechnet. Die Folge: In keiner deutschen Großstadt gibt es mehr bundeseigene Forschungseinrichtungen, mehr Fraunhofer- und Max-Planck-Institute als in München.
Was nicht heißt, der Freistaat selbst sei geizig. Im Gegenteil. "Bayern gehörte zu den Ersten, die eigene Technologieförderprogramme auflegten", so Sternberg. Unter dem Ministerpräsidenten Stoiber privatisierte der Freistaat 25 Unternehmen, vom Energieversorger Bayernwerk (heute E.on) über die Bayerische Versicherungskammer bis zur Molkerei Weihenstephan. Vom Erlös, mehreren Milliarden Euro, profitierten Existenzgründer, Hochschulen und Forschungsinstitute. So entstand eine Vielzahl neuer Jobs.
Das klingt, als würde Stoiber einer Politik anhängen, wonach sich der Staat besser aus der Wirtschaft zurückzieht. Im Freistaat ist eher das Gegenteil der Fall. 25 Unternehmen wurden privatisiert, aber: "Der Freistaat Bayern (ist) neue Beteiligungen an insgesamt 29 Unternehmen eingegangen", heißt es in einem Bericht der Staatsregierung. Ökonomisch gesehen habe derartiges Gebaren weniger mit Markt- als mit Planwirtschaft zu tun, meint HWWA-Präsident Straubhaar. "Der Staat maßt sich an zu wissen, welche Unternehmen und Branchen Zukunft haben." Das kann durchaus funktionieren - etwa wenn all die von der Staatsregierung geförderten Bio-Tech-Unternehmen irgendwann dicke Gewinne abwerfen. Vor allem aber zeigt es, was Edmund Stoiber 30 Jahre nach seinem Job im bayerischen Umweltministerium noch immer nicht ist: ein Vertreter der reinen Marktlehre.
Das erkennt man auch daran, dass Stoiber nicht nur High-Tech fördert. Seit Mitte der Achtziger versucht die Staatsregierung, die Maxhütte zu retten. Das Stahlwerk ist einer der größten Arbeitgeber der Oberpfalz und "ein Paradebeispiel für Staatsinterventionismus", wie Emma Kellner, Landtagsabgeordnete der Grünen, kritisiert. Inzwischen ist das Unternehmen insolvent, der Freistaat habe 260 Millionen Euro verloren, rechneten die Grünen vor. Viel Geld für eine Industrie aus dem 19. Jahrhundert.
Ein noch größeres Desaster könnten die Kredite der halbstaatlichen Landesbank an den Filmhändler Leo Kirch werden. Nach Aussagen von Kirch-Managern und CSU-Abgeordneten summieren sich die Verbindlichkeiten dort auf "rund 2,2 Milliarden Euro". Den vorläufig letzten Kredit benötigte der Filmhändler, um in die Vermarktung der Formel 1 einzusteigen. Das Geld bekam Kirch mithilfe der CSU. Es sei "der Einsatz der Staatsregierung notwendig" gewesen, sagte Erwin Huber damals. Der Chef der Staatskanzlei hatte vergeblich versucht, private Kreditinstitute wie die HypoVereinsbank einzuspannen. Schließlich wurde die Bayerische Landesbank größter Gläubiger von Kirch, bei dem nicht sicher ist, wie er dieses Jahr finanziell übersteht.
Solche Probleme rühren auch daher, dass Stoiber - wie Schröder - ein unverkrampftes Verhältnis zu Unternehmern pflegt. Wie der Kanzler ist auch er ein Repräsentant der Verhandlungsdemokratie, in der ein erfolgreicher Politiker flexibel sein muss. Das gilt auch für sein Verhältnis zu den Gewerkschaften, zu denen Stoiber lange Zeit engen Kontakt hielt. 1996 gründete er den Bayerischen Beschäftigungspakt mit Arbeitnehmervertretern und Arbeitgebern. Fritz Schösser, bayerischer DGB-Vorsitzender und SPD-Bundestagsabgeordneter, lobt noch immer die ersten Verhandlungsrunden.
Inzwischen aber ist das Klima rauer geworden. "Wir wollen seit langem ein Weiterbildungsgesetz, das zum Beispiel einen Anspruch auf freie Tage für die berufliche Bildung festlegt", so Schösser. "Stoiber hat das im Prinzip zugesagt - aber nichts passiert." Auf Bundesebene wird zudem aufmerksam registriert, dass Stoiber die Gesetze für 325-Euro-Jobs und die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes zurücknehmen will. Der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte monierte, Stoiber habe sich "nicht gerade als ein Freund der Gewerkschaften gezeigt".
Dabei hatte Stoiber einst Kohls vermeintlich "unsoziale" Politik kritisiert - wohl wissend, dass er als Landespolitiker für Folgen wie hohe Sozialabgaben nicht verantwortlich war. Jetzt, scheint es, will er sich auf Berlin einstellen - und darauf, dass er dort ohnehin nicht allen alles recht machen kann. Härtere Auflagen für Arbeitslose, mehr Eigenvorsorge im Gesundheitssystem, tiefere Einschnitte im Sozialstaat, um die Lohnnebenkosten unter 40 Prozent zu drücken, zugleich niedrigere Steuern für Spitzenverdiener und den Mittelstand - all das steht auf seiner Wunschliste. Gleichzeitig soll die Schuldenlast sinken. Eine Quadratur des Kreises, meinen manche.
Mit dem Subventions- und Ausgleichsmodell Bayern wird Stoiber dabei nicht weit kommen. "Landespolitik und Bundespolitik, das ist wie Regionalliga und Bundesliga", sagt Ökonom Straubhaar. Viele, die ihn kennen, halten Stoiber allerdings ohnehin nicht für den Prinzipienreiter, den sein schneidiges Auftreten vermuten lässt. Will er Erfolg haben, wird er sich wandeln müssen: Von einem interventionistischen Landespolitiker zu einem eher marktliberalen Wirtschaftskanzler. Wenn die Wähler das wollen.