Vor ihrem EU-Beitritt stecken fast alle postkommunistischen Staaten in einem Sumpf von Vetternwirtschaft, Bestechung und Kungelei. Die politische Kultur hat sich mehr als ein Jahrzehnt nach der Wende dramatisch verschlechtert - alte wie neue Seilschaften behindern die Rückkehr nach Europa.
Selten war in Litauen einer so populär wie Rolandas Paksas, jener Mann, der den Erfolg im Doppelpack liebt. Zweimal holte der tollkühne Flieger den Titel eines sowjetischen Kunstflugmeisters in die kleine Ostseerepublik, zweimal war er Bürgermeister der Hauptstadt Vilnius, zweimal Regierungschef. Zu Beginn dieses Jahres trug ihn die Begeisterung seiner Landsleute bis ins Präsidentenamt - nach einer brillanten Wahlkampfshow, in der Paksas sogar mit einem Flugzeug unter einer acht Meter hohen Brücke durchflog.
Dass er auch ein zweites Mal Staatsoberhaupt werden könnte, muss sich der 47-jährige Überflieger wohl aus dem Kopf schlagen, alles spricht dafür, dass er nicht einmal die erste Amtszeit übersteht. Denn der Sonnyboy, der den Armen mehr Geld, den Rentnern mehr Rente und den Sparern die Rückgabe verlorener Einlagen versprach, schmiert derzeit im Sturzflug ab: Das Parlament will diesen Dienstag ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn einleiten.
Gestolpert ist Litauens Politikerhoffnung über einen Russen namens Jurij Borissow. Der Besitzer eines Unternehmens, das Hubschrauber verkauft, hatte 400 000 Dollar in Paksas' Präsidentenwahlkampf investiert. Als Gegenleistung soll der ihm einen Generalstitel, einen Orden und einen Beraterposten in der Präsidial-Administration versprochen haben, dazu die Ausschaltung unliebsamer Konkurrenz; nach der Wahl schenkte Paksas, der alle Vorwürfe bestreitet, seinem Gönner die litauische Staatsbürgerschaft.
Borissow wird inzwischen vorgeworfen, beste Kontakte zur russischen Unterwelt wie zum Moskauer Geheimdienst unterhalten und Paksas erpresst zu haben. Die Nato fürchtet gar, er habe Geheimdokumente nach Moskau durchgereicht.
Ist der Fall Paksas ein auf Litauen begrenztes Problem? Wohl eher nicht. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass auch anderswo in Osteuropa eine Korruptionsaffäre ruchbar wird, deren Schwingungen bis in die obersten Etagen der Macht zu spüren sind.
In Polen läuft seit eineinhalb Wochen ein Prozess, der einen mutmaßlichen Erpressungsversuch des Filmmagnaten Lew Rywin beim Pressekonzern "Agora" durchleuchten soll. Gegen die Zahlung von 17,5 Millionen Dollar, so die Staatsanwaltschaft, habe sich Rywin empfohlen, an entscheidender Stelle ein für Agora günstiges Mediengesetz durchzuboxen - laut Rywin angeblich mit Wissen von Ministerpräsident Leszek Miller. Das Geld sollte nach Angaben von Agora auf das Konto von Millers postkommunistischem Linksbündnis SLD gehen.
In Danzig ist ein früherer stellvertretender Minister für Infrastruktur wegen Geldwäsche und Betrugs angeklagt. In Ostrowiec Swietokrzyski steht ein lokaler SLD-Fürst unter Korruptionsverdacht - beim Verkauf einer Stahlhütte soll er kräftig abkassiert haben.
Willkommen in Bakschikistan, dem Reich der Kleptokraten. Wo immer sich die Gelegenheit zu einer lukrativen Nebeneinkunft bietet, so scheint es, greifen die Herren im Neuen Europa zu.
In Tschechien räumte jüngst sogar die Regierung ein, die Korruption habe ein "groteskes Niveau" erreicht. Dort wurde jetzt die Immunität von Senator Alexander Novak aufgehoben - er soll bei der Privatisierung eines Energiekonzerns in seinem Heimatort Chomutov Schmiergeld in Höhe von knapp 1,3 Millionen Euro eingestrichen haben. Im Sommer wurde Karel Srba, Ex-Generalsekretär im Außenministerium, zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, weil er einen Killer angeheuert hatte, um die Journalistin Sabina Slonkova aus dem Weg zu räumen. Sie war illegalen Geschäften des Politikers auf die Spur gekommen.
In Rumänien musste Ministerpräsident Adrian Nastase ausgerechnet die für die EU-Integration zuständige Ministerin Hildegard Puwak feuern, weil sie Firmen ihres Mannes und ihres Sohnes Brüsseler Fördergelder zugeschustert haben soll. In Ungarn zieht ein Brokerskandal an der Budapester Börse Kreise bis in die Regierung des Sozialdemokraten Péter Medgyessy.
Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch des Staatskommunismus stecken die meisten ost- und mittelosteuropäischen Länder in einem Sumpf aus Vetternwirtschaft, Bestechung und Kungelei - vorneweg ausgerechnet jene Länder, die in schon viereinhalb Monaten in die EU aufgenommen werden, darunter Ungarn, Polen, Tschechien, die Slowakei sowie die baltischen Staaten.
Bei den Verhandlungen über eine neue EU-Verfassung fordern sie selbstbewusst mehr Mitsprache in der Union, daheim aber knirscht es im Gebälk. Peinlich, dass die Brüsseler Kommission vor wenigen Wochen in ihren "Fortschrittsberichten" etliche Beitrittsländer an den Pranger stellte: Die Korruption in Staat und Gesellschaft, so klagte sie, hätte zum Teil "endemische Ausmaße" angenommen. Die Brüsseler sorgen sich zu Recht, überweisen sie doch jährlich Milliarden Euro an Aufbauhilfen in den Osten.
In der Korruptionsrangliste 2003 der Organisation Transparency International stürzten fast alle Beitrittskandidaten im Vergleich zum Vorjahr ab. Polen traf es am schlimmsten, es büßte 19 Plätze ein und landete nun auf Platz 64 von 133 Ländern - es gilt damit als noch korrupter als Kuba, Botswana oder Brasilien. Rumänien, voraussichtlich ab 2007 EU-Mitglied, liegt in Sachen Korruption gleichauf mit dem afrikanischen Malawi.
Kein gutes Omen für den Aufbruch Osteuropas. Die politische Kultur in den postkommunistischen Ländern habe sich "in den letzten Jahren wieder verschlechtert", diagnostizieren Soziologen in Warschau, Intransparenz und Korruption seien derzeit die schwerwiegendsten Entwicklungshindernisse. Auch die Bilanz von Václav Havel, dem einstigen Vorzeige-Dissidenten und tschechischen Präsidenten, fällt bitter aus: Er sieht die Politik in den Umbruchsländern in den Händen alter und neuer Seilschaften, "postkommunistischer Mafiosi" und "politischer Spekulanten".
Vor allem dort, wo wie in Polen, Rumänien oder Ungarn gewendete Marxisten regieren, läuft die Staatsmaschine wie in alten Zeiten: Die kommunistischen Parteien, nach der Wende abserviert, eroberten erneut die Macht. Sie haben ihre Programme modernisiert und geben sich nun sozialdemokratisch; Spitzenpolitiker wie Leszek Miller und Péter Medgyessy gelten als Pragmatiker.
Doch "die postkommunistischen Parteien betrachten den Staat nach wie vor als ihr Eigentum", sagt der Warschauer Soziologe Jerzy Szacki. Vor allem die noch nicht oder nicht vollständig privatisierten Unternehmen seien "dicke Knochen für Korruptionshunde", warnt auch der Rumäne Mircea Toma von der Media Monitoring Agency in Bukarest. In seinem Land würden alte Mitglieder der Polit-Nomenklatura und des berüchtigten Geheimdienstes Securitate in gewohnter Disziplin und Loyalität zusammenarbeiten, um sich wichtige Posten und lukrative Geschäfte unter den Nagel zu reißen.
Die Öffentlichkeit nimmt es fast gelassen hin, dass Politiker - egal welcher Couleur - korrupt seien, gilt in ganz Osteuropa als Axiom. "Die Menschen haben sich daran gewöhnt, sich zu beschweren, statt sich zu organisieren und die Mächtigen zu kontrollieren", so Szacki. Laut einer Umfrage bestätigen 68 Prozent der Polen, dass Korruption sehr häufig vorkomme, 23 Prozent befürchten eine weitere Verschlechterung. Und drei von vier Bulgaren geben zu, dass Korruption ihr alltägliches Leben beeinträchtigt - bei umgerechnet 130 bis 250 Euro liegen die durchschnittlich anfallenden Bestechungsgelder in ihrem Land.
Denn nicht nur Politiker kassieren Bakschisch. Ärzte behandeln vielerorts nur nach Erhalt von Sonderzahlungen, Lehrer stellen gegen Geld gute Zeugnisse aus, Polizisten und Zöllner streichen Phantasiestrafgelder ein. Genehmigungsverfahren bei Behörden werden vielfach nur dann abgeschlossen, wenn unter dem Tisch Geld fließt. Auch der Zugang zu Universitäten ist oft nicht wirklich frei: In Polen können Interessierte trotz gescheiterter Aufnahmeprüfung einen Studienplatz erkaufen - Kostenpunkt mindestens 200 Euro.
Auch ausländische Geschäftsleute werden immer wieder verschreckt. In Rumänien erhalten Firmen regelmäßig höfliche Aufforderungen, doch bitte schön das zuständige Finanzamt zu "sponsern". Kommt die Geschäftsleitung der Einladung nicht nach, rückt der Steuerprüfer an, und zwar gleich mehrmals monatlich. "Diese Spielchen sind ein unkalkulierbarer Faktor", klagt Martin Kleinbrod, Geschäftsführer des deutschen Reifenherstellers Continental in Temesvar, des derzeit größten deutschen Investors im Lande.
Der Grund für diese Zustände liegt auf der Hand: Öffentlich Bedienstete - Staatsbeamte, Lehrer, Professoren oder Krankenhausärzte - werden in Osteuropa miserabel bezahlt. Vor allem aber fehlt eine effiziente Kontrolle der Mächtigen: Mager entlohnte Richter, Staatsanwälte und Ermittler erliegen allzu häufig der Versuchung, außer der Reihe abzukassieren. Zudem sind vielerorts Exekutive und Judikative nicht sauber getrennt.
Oft sind es Politiker, die über die Besetzung von Richterposten entscheiden - und vor allem willfährige Parteigänger befördern. So durchzieht der Ruch der Korruption auch jene Institutionen, die sie eigentlich bekämpfen sollten. Bulgariens Chefankläger Nikola Filchev zum Beispiel, der in der Öffentlichkeit gern zum Kampf gegen die Bakschisch-Plage bläst, wird in den bulgarischen Medien selbst mit Mauscheleien und Schmiergeldzahlungen in Verbindung gebracht.
Die politische Opposition dagegen ist in den jungen Demokratien schwach aufgestellt und oft zerstritten, nie haben die ehemaligen Dissidenten-Bewegungen den Organisationsgrad ihrer postkommunistischen Kontrahenten erreicht. Zudem haben sie die moralische Aufbruchstimmung, für die sie Anfang der neunziger Jahre standen, durch eigene Affären mit zu Grabe getragen.
Häufig einigten sich Regierung und Opposition auf gütliche Machtteilung. Moralisch verheerend wirkte in Tschechien jener Deal, den sozialdemokratische CSSD und bürgerliche ODS nach dem Wahlpatt von 1998 schlossen: Die Bürgerlichen tolerierten die Regierung des Sozialdemokraten Milos Zeman, als Gegenleistung erhielten sie Posten in staatlichen Institutionen und Unternehmen. Seit dem "Oppositionsvertrag" kungeln die Parteien politische wie Personalentscheidungen in informellen Zirkeln aus. Das Prinzip, nach dem eine Hand die andere wäscht, "wurde zum zentralen Mechanismus der Prager Politik", klagt der Politologe Jirí Pehe.
So geht fast überall in Osteuropa ein Riss durch die Gesellschaft. "Der Staat, das sind die da oben - im Zweifel also unsere Feinde" - eine Haltung, die Soziologe Szacki häufig beobachtet und die noch aus kommunistischen Zeiten stammt. Denn vielen gilt auch die neue Polit-Riege als inkompetent: Rentner verarmen, Arbeitslose können mit staatlichen Hilfen nicht überleben, Kranke müssen ohne Medikamente auskommen. Diese Zwangslage treibt so manchen zum Gegenschlag: Einen von den Eliten als Selbstbedienungsladen missbrauchten Staat, so die Schlussfolgerung, dürfe man betrügen, wenn sich nur die Gelegenheit dazu biete.
Das Austricksen der Obrigkeit ist schierer Volkssport: Trotz neuer Steuersysteme wird das Gros der Einkünfte weiter am Finanzamt vorbeigeschleust, Staatsangestellte schaffen Kohle oder Baustoffe beiseite, Manager zweigen Gelder aus der Unternehmenskasse für private Geschäfte ab.
In Polen ist es sehr beliebt, sich eine Rente als Taschengeld zu erschleichen. Gegen kleine Sonderzuwendungen stellen Ärzte wegen harmloser Zipperlein Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aus - so streichen selbst junge Leute Altersfürsorge ein. Mittlerweile gibt das Land jeden fünften Zloty seines Haushalts für Renter aus - das ist Rekord in Europa.
In den baltischen Ländern ist inzwischen ein Politikertypus herangewachsen, der aus der katastrophalen Wahrnehmung der politischen Klasse Kapital schlagen konnte: Mit diesem Frustpotenzial gewann auch Rolandas Paksas die Präsidentschaftswahl in Litauen als selbst stilisierter Saubermann. Seine Bewegung konnte sich als Anti-Partei etablieren, die den Kampf gegen die Korruption zum wichtigsten Programmpunkt erklärte. Umso tiefer ist jetzt die Enttäuschung.
Dabei können die Osteuropäer froh sein, wenn gemäßigte Politiker mit dem Thema Korruption reüssieren. Der rechtspopulistische polnische Bauernführer Andrzej Lepper platzierte sich mit seiner Partei "Samoobrona" ("Selbstverteidigung") zeitweise als zweitstärkste Kraft. Leppers Strategie: Er kriminalisiert die politischen Gegner und bezichtigt sie wüstester Verbrechen. Seine Tiraden kommen an, weil wirklich jede Woche eine neue Affäre bekannt wird.
Korruption also als einstweilen unabänderliches Übel? In Vilnius, Budapest oder Prag hoffen viele Beobachter dennoch auf schnelle Abhilfe - vor allem durch den EU-Beitritt, wie die hohen Zustimmungsraten bei den EU-Referenden belegen. "Die Einbindung in den Westen wird Korruption weiter erschweren", meint Václav Zak, der in Prag das Intellektuellenblatt "Listy" herausgibt. Die Anpassung des tschechischen Rechts an EU-Standards habe schon Fortschritte gebracht.
Bis auf die Regierung in Warschau haben alle Beitrittskandidaten Anti-Korruptions-Programme aufgelegt, wie Transparency International lobt. Kein Wunder: Fördergelder aus Brüssel gibt es nur, wenn die Systeme weitgehend ohne Korruption funktionieren.
Vielleicht auch werde sich - so hoffen viele Intellektuelle in den Beitrittsländern - mit der "Rückkehr nach Europa" etwas in den Köpfen der Menschen verändern: Nach der Abschaffung des Kommunismus, glaubt Jan Rokita, Politiker der polnischen Bürgerplattform, bedürfe es nun einer weiteren "Revolution" - einer moralischen.