Glaubwürdigkeit von Analysten hat durch Fehlprognosen gelitten
Berlin (vwd/AFP) - Ihr Urteil schickt Aktienkurse in luftige Höhen oder
ins Jammertal. Im rasanten Börsenjahr 2000 sorgten eklatante Fehlprognosen
der Analysten jedoch für Ernüchterung. Unvorhergesagte Kursstürze wie am
Mittwoch am Neuen Markt und Pleiten von als viel versprechend gelobten
Start-ups rückten die Expertise der Finanzprofis ins Zwielicht.
Aktionärsschützer fordern strengere Qualitätsanforderungen für den
Berufsstand und beklagen die fehlende Unabhängigkeit vieler Analysten von
ihren Arbeitgebern, den Banken.
Die Analysten selbst fühlen sich zu Unrecht gescholten und monieren eine
verkürzte Wiedergabe ihrer Prognosen durch die Medien. "Analysten liegen
mit ihren Prognosen oft schlechter als die Wettervorhersage," lautet das
vernichtende Urteil von Wolfgang Gerke vom Lehrstuhl für Bank- und
Börsenwesen der Universität Erlangen-Nürnberg. Gerke beruft sich auf eine
Untersuchung zu Prognosen aus dem vergangenen Jahr. 2000 seien sogar "eher
mehr Fehlprognosen" abgegeben worden. Tatsächlich gab es kaum ein Jahr, in
dem die Experten so schnell optimistische Einschätzungen gegen
pessimistische tauschen mussten, nachdem Standard- ebenso wie HighTech-Werte
seit dem Frühjahr in ungeahnte Tiefen stürzten.
Gerke wirft den Finanzexperten vor, oft nur unzureichende Betrachtungen
zu liefern. "Ein Analyst muss mir zu Chrysler oder den Haffa-Brüdern einfach
mehr sagen, als ich bisher schon gehört habe", verlangt Gerke in Anspielung
auf die plötzlich zu Tage getretenen Probleme bei DaimlerChrysler und dem
Münchner Filmrechtehändler EM.TV. Ulrich Hocker, Hauptgeschäftsführer der
Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), sieht einen Teil des
Problems in der durch den Aktienboom rapide gestiegenen Zahl von Analysten:
"Das ging häufig zu Lasten der Qualität."
Aktionärsschützer warnen zudem schon lange vor allzu blindem Vertrauen
auf Analysten, die fast immer auch Beschäftigte von Banken sind. "Man
sollte sich bewusst machen, dass auch Analysten interessengebunden
arbeiten", sagt Reinhild Keitel von der Schutzgemeinschaft der
Kleinaktionäre (SdK). Anleger müssten "Immer im Auge behalten, dass die
Banken mit ihren Investmentabteilungen selbst am Markt tätig sind und bei
Börsengängen von Unternehmen für die Betreuung engagiert und bezahlt
werden".
Die Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management (DVFA)
weist Vorwürfe fehlender Unabhängigkeit entschieden zurück. Neben strengen
Regeln bei den Banken selbst gebe es für die 1.200 DVFA-Mitglieder
Standesrichtlinien, die Interessenkonflikte ausschließen sollen, sagt
Geschäftsführerin Ulrike Diehl. Verstöße würden von einem Schiedsgericht mit
scharfen Sanktionen geahndet. Im kommenden Jahr werde das Regelwerk nochmals
überarbeitet. Keitel sähe mehr Glaubwürdigkeit der Experten, "wenn sie
regelmäßig offenlegen, in welchen Geschäftsbeziehung ihr Haus zu dem
eingeschätzten Unternehmen steht".
Sinnvoll wäre nach Ansicht der SdK-Vertreterin auch eine
"Black-out-period" bei Börsengängen. "Analysten, deren Banken den Börsengang
eines Unternehmens organisieren, sollten drei Monate vor und nach der
Emission keine Studien zu der betreffenden Firma mehr veröffentlichen",
schlägt sie vor. Nach Ansicht Diehls liegt ein wesentlicher Grund für die
Kritik an den Analysten indes nicht in fehlenden Regeln, sondern in einem
Missverständnis. "Die Verdichtung der Prognosen in den Medien ist
unverantwortlich", klagt die DVFA-Vertreterin. "Das sind manchmal nur noch
Piktogramme der ursprünglichen Research-Berichte."
Anleger erlägen oft dem Irrglauben, sie könnten aus solchen Ausrissen
kurzfristige Anlage-Tipps ableiten. Tatsächlich bezögen sich die Angaben
meist auf Zeiträume von sechs Monaten oder einem Jahr. Auch die
Aktionärsschützer warnen vor Schnellschüssen. Privatanleger dürften sich
ebenso wie die Profis nie nur auf eine Analystenmeinung verlassen und
müssten für ein umfassendes Bild auch die Geschäftsberichte und andere
kursrelevante Veröffentlichungen ihrer Unternehmen studieren.
DSW-Geschäftsführer Hocker: "Letztlich muss sich jeder Privatanleger selbst
der beste Analyst sein."
vwd/20.12.2000/kre