Die Ertragsprognosen an der Wall Street sind im freien Fall
Anleger mit schwachen Nerven nicht mehr im Markt / "Zeit für selektive Käufe"
dri. NEW YORK, 10. Oktober. Die Ertragsprognosen an der Wall Street sind im freien Fall. Seit den Terroranschlägen auf Amerika sind die Analysten damit beschäftigt, ihre Gewinnschätzungen für dieses und das nächste Jahr deutlich zurückzunehmen. Für das gerade zu Ende gegangene Quartal werden die 500 Unternehmen, die im Leitindex von Standard & Poor's (S & P 500) enthalten sind, aller Voraussicht nach eine Gewinneinbuße von insgesamt 22 Prozent zeigen, heißt es bei First Call, das die Schätzungen der Wall-Street-Häuser zusammenträgt. Unmittelbar vor den Terroranschlägen war noch mit einer Einbuße von nur 14 Prozent gerechnet worden. Allein bei den Konsumzyklikern, zu denen Autohersteller und Einzelhandelswerte gehören, hat sich der erwartete Gewinnrückgang von 8 Prozent auf mehr als 22 Prozent vergrößert.
Doch das dritte Quartal selbst wird aus Sicht der Anleger nur mehr eine untergeordnete Rolle spielen, wenn allein in den beiden kommenden Wochen 340 der S-&-P-500-Werte ihre Zahlen präsentieren werden. Viele Unternehmen werden sich freilich angesichts der angespannten geopolitischen Lage mit Prognosen nicht zu weit aus dem Fenster lehnen wollen. Insofern wird sich der dunkle Schleier über dem Ausblick für die nächsten Quartale kaum lüften. Der Eifer, mit dem die Analysten ihre Prognosen zurücknehmen, spricht aber dafür, daß das vierte Quartal dem dritten kaum nachstehen wird. Es bestehe eine gute Chance, daß die operativen Gewinne im Schlußquartal abermals um mehr als 20 Prozent zurückgehen werden, sagt Chuck Hill von First Call. Die Einbußen im zweiten Halbjahr würden somit mit dem Gewinnrückgang während der Rezession von 1990/91 vergleichbar sein. Und seinerzeit handelte es sich um den stärksten Ergebniseinbruch seit den fünfziger Jahren. Doch damit nicht genug. Nach Einschätzung von Hill sei es jetzt klar, daß die Erträge auch noch im ersten Quartal des nächsten Jahres fallen werden. Es wäre das fünfte Quartal in Folge mit negativen Vorzeichen. Dies hatten die Statistiker letztmals während der Rezession von 1969/70 registriert.
Kurzum: Man muß schon sehr weit zurückblicken, um für die derzeitige Misere der Unternehmensgewinne Präzedenzfälle zu finden. Allerdings scheinen die Anleger zunehmend über dieses tiefe Tal hinwegzublicken. Denn die neuerliche Welle von Hiobsbotschaften aus den Unternehmen hat nicht verhindern können, daß der Aktienmarkt die herben Kursverluste, welche die erste Handelswoche nach den Terroranschlägen bescherte, schon fast wieder ausgebügelt hat.
In dieser Woche ist die Erholungsrally aber erst einmal zu Ende gegangen, nachdem mit dem militärischen Gegenschlag die Gefahr weiterer Terroranschläge in Amerika wieder akuter geworden ist. Gleichwohl ist an der Wall Street von Panik nichts zu spüren. Eine denkbare Erklärung ist, daß sich die Anleger mit schwachen Nerven schon weitgehend aus dem Markt verabschiedet haben. Der September war der fünfte Monat dieses Jahres, in dem amerikanische Aktienfonds unter dem Strich Abflüsse verbucht haben. Nie zuvor war es in fünf Monaten eines Kalenderjahres zu Abflüssen gekommen. Daneben hat sich der Kreis der spekulativen Marktteilnehmer stark ausgedünnt. Das Volumen der Effektenkredite ("margin debts"), die an Wall Street das "Heroin der Daytrader" genannt werden, ist seit dem Nasdaq-Höchststand vom März 2000 um 42 Prozent oder fast 120 Milliarden Dollar gefallen, zeigt die Monatsstatistik der New York Stock Exchange per Ende August. Ein großer Teil der Anleger, die Aktien mit Hilfe von Krediten kaufen, ist damit aus dem Markt herausgespült worden. Auch dies verleiht dem Handel mehr Stabilität.
Von einer übertriebenen Euphorie im Markt könne angesichts dieser Daten keine Rede sein, sagt Thomas Galvin, der Investmentstratege von Credit Suisse First Boston. Wenn sich der enorme Fluß von Anlagegeldern, der im Frühjahr 2000 in Aktienfonds und vor allem Technologiefonds geflossen war, im nachhinein als Verkaufssignal erwiesen habe, müsse man heute den Rekordexodus aus Aktien eigentlich als spiegelbildliches Kaufsignal werten. Niedrige Erwartungen und viel Liquidität seien oft die kritische Saat für einen neuen "Bullenmarkt", sagt Galvin. In ein ähnliches Horn bläst Byron Wien, der Investmentstratege von Morgan Stanley.
Eine Periode maximaler Unsicherheit berge oft die größten Chancen, sagt der Wall-Street-Veteran. Jedermann denke jetzt, daß das Wachstum niedriger und die Risikoprämien höher werden würden. Risikoprämien hätten aber die Tendenz, zu Beginn einer Krise hochzuschießen und sich dann wieder zu normalisieren, sagt Wien. Und der fiskalische und geldpolitische Stimulus, der jetzt aus Washington komme, könne zu einer stärkeren wirtschaftlichen Erholung als bisher erwartet führen. Wien: "Wir müssen deshalb Überreaktionen vermeiden." Laut Wien ist es denn auch an der Zeit, selektiv Aktien zu kaufen. Aber da der Tiefstpunkt der Marktmisere wahrscheinlich noch nicht erreicht sei, ist es nach Meinung Wiens noch zu früh, gleich wieder das ganze Geld in den Markt zu pumpen.
Die zehn Werte umfassende Favoritenliste von Morgan Stanley ("Fresh Money Buys") umfaßt derzeit die Aktien von AOL Time Warner, Citigroup, Comcast, Dow Chemical Mattel, Oracle, Schering-Plough, Target, Transocean Sedco Forex und United Technologies. Die Investmentbank hat ihrer Klientel zudem zu Wochenbeginn die Aktie von Berkshire Hathaway nachhaltig ans Herz gelegt ("strong buy"). Berkshire ist der von dem legendären Investor Warren Buffett geführte Mischkonzern, dessen Schwerpunkt inzwischen das Versicherungsgeschäft (General Re, Geico) ist. Nach Angaben von Analystin Alice Schroeder ist Berkshire derzeit eine der wenigen Aktiengesellschaften mit beträchtlicher Liquidität. Mit der starken Kapitaldecke werde das Unternehmen in den nächsten Jahren der bevorzugte Anbieter für viele Formen des Rückversicherungsgeschäfts sein. Berkshire hatte vor knapp drei Wochen berichtet, daß die Anschläge auf das World Trade Center das Unternehmen 2,2 Milliarden Dollar vor Steuern kosten werden. Trotz dieser Schätzung, die bisher die höchste eines einzelnen Versicherers ist, notiert die A-Aktie von Berkshire inzwischen um 8 Prozent über dem Niveau vom 10. September, dem Tag vor den Terroranschlägen. Mit einem Kurs von zuletzt 73 500 Dollar ist die Berkshire-Aktie das schwerste Papier an Wall Street.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.10.2001, Nr. 236 / Seite 33
Anleger mit schwachen Nerven nicht mehr im Markt / "Zeit für selektive Käufe"
dri. NEW YORK, 10. Oktober. Die Ertragsprognosen an der Wall Street sind im freien Fall. Seit den Terroranschlägen auf Amerika sind die Analysten damit beschäftigt, ihre Gewinnschätzungen für dieses und das nächste Jahr deutlich zurückzunehmen. Für das gerade zu Ende gegangene Quartal werden die 500 Unternehmen, die im Leitindex von Standard & Poor's (S & P 500) enthalten sind, aller Voraussicht nach eine Gewinneinbuße von insgesamt 22 Prozent zeigen, heißt es bei First Call, das die Schätzungen der Wall-Street-Häuser zusammenträgt. Unmittelbar vor den Terroranschlägen war noch mit einer Einbuße von nur 14 Prozent gerechnet worden. Allein bei den Konsumzyklikern, zu denen Autohersteller und Einzelhandelswerte gehören, hat sich der erwartete Gewinnrückgang von 8 Prozent auf mehr als 22 Prozent vergrößert.
Doch das dritte Quartal selbst wird aus Sicht der Anleger nur mehr eine untergeordnete Rolle spielen, wenn allein in den beiden kommenden Wochen 340 der S-&-P-500-Werte ihre Zahlen präsentieren werden. Viele Unternehmen werden sich freilich angesichts der angespannten geopolitischen Lage mit Prognosen nicht zu weit aus dem Fenster lehnen wollen. Insofern wird sich der dunkle Schleier über dem Ausblick für die nächsten Quartale kaum lüften. Der Eifer, mit dem die Analysten ihre Prognosen zurücknehmen, spricht aber dafür, daß das vierte Quartal dem dritten kaum nachstehen wird. Es bestehe eine gute Chance, daß die operativen Gewinne im Schlußquartal abermals um mehr als 20 Prozent zurückgehen werden, sagt Chuck Hill von First Call. Die Einbußen im zweiten Halbjahr würden somit mit dem Gewinnrückgang während der Rezession von 1990/91 vergleichbar sein. Und seinerzeit handelte es sich um den stärksten Ergebniseinbruch seit den fünfziger Jahren. Doch damit nicht genug. Nach Einschätzung von Hill sei es jetzt klar, daß die Erträge auch noch im ersten Quartal des nächsten Jahres fallen werden. Es wäre das fünfte Quartal in Folge mit negativen Vorzeichen. Dies hatten die Statistiker letztmals während der Rezession von 1969/70 registriert.
Kurzum: Man muß schon sehr weit zurückblicken, um für die derzeitige Misere der Unternehmensgewinne Präzedenzfälle zu finden. Allerdings scheinen die Anleger zunehmend über dieses tiefe Tal hinwegzublicken. Denn die neuerliche Welle von Hiobsbotschaften aus den Unternehmen hat nicht verhindern können, daß der Aktienmarkt die herben Kursverluste, welche die erste Handelswoche nach den Terroranschlägen bescherte, schon fast wieder ausgebügelt hat.
In dieser Woche ist die Erholungsrally aber erst einmal zu Ende gegangen, nachdem mit dem militärischen Gegenschlag die Gefahr weiterer Terroranschläge in Amerika wieder akuter geworden ist. Gleichwohl ist an der Wall Street von Panik nichts zu spüren. Eine denkbare Erklärung ist, daß sich die Anleger mit schwachen Nerven schon weitgehend aus dem Markt verabschiedet haben. Der September war der fünfte Monat dieses Jahres, in dem amerikanische Aktienfonds unter dem Strich Abflüsse verbucht haben. Nie zuvor war es in fünf Monaten eines Kalenderjahres zu Abflüssen gekommen. Daneben hat sich der Kreis der spekulativen Marktteilnehmer stark ausgedünnt. Das Volumen der Effektenkredite ("margin debts"), die an Wall Street das "Heroin der Daytrader" genannt werden, ist seit dem Nasdaq-Höchststand vom März 2000 um 42 Prozent oder fast 120 Milliarden Dollar gefallen, zeigt die Monatsstatistik der New York Stock Exchange per Ende August. Ein großer Teil der Anleger, die Aktien mit Hilfe von Krediten kaufen, ist damit aus dem Markt herausgespült worden. Auch dies verleiht dem Handel mehr Stabilität.
Von einer übertriebenen Euphorie im Markt könne angesichts dieser Daten keine Rede sein, sagt Thomas Galvin, der Investmentstratege von Credit Suisse First Boston. Wenn sich der enorme Fluß von Anlagegeldern, der im Frühjahr 2000 in Aktienfonds und vor allem Technologiefonds geflossen war, im nachhinein als Verkaufssignal erwiesen habe, müsse man heute den Rekordexodus aus Aktien eigentlich als spiegelbildliches Kaufsignal werten. Niedrige Erwartungen und viel Liquidität seien oft die kritische Saat für einen neuen "Bullenmarkt", sagt Galvin. In ein ähnliches Horn bläst Byron Wien, der Investmentstratege von Morgan Stanley.
Eine Periode maximaler Unsicherheit berge oft die größten Chancen, sagt der Wall-Street-Veteran. Jedermann denke jetzt, daß das Wachstum niedriger und die Risikoprämien höher werden würden. Risikoprämien hätten aber die Tendenz, zu Beginn einer Krise hochzuschießen und sich dann wieder zu normalisieren, sagt Wien. Und der fiskalische und geldpolitische Stimulus, der jetzt aus Washington komme, könne zu einer stärkeren wirtschaftlichen Erholung als bisher erwartet führen. Wien: "Wir müssen deshalb Überreaktionen vermeiden." Laut Wien ist es denn auch an der Zeit, selektiv Aktien zu kaufen. Aber da der Tiefstpunkt der Marktmisere wahrscheinlich noch nicht erreicht sei, ist es nach Meinung Wiens noch zu früh, gleich wieder das ganze Geld in den Markt zu pumpen.
Die zehn Werte umfassende Favoritenliste von Morgan Stanley ("Fresh Money Buys") umfaßt derzeit die Aktien von AOL Time Warner, Citigroup, Comcast, Dow Chemical Mattel, Oracle, Schering-Plough, Target, Transocean Sedco Forex und United Technologies. Die Investmentbank hat ihrer Klientel zudem zu Wochenbeginn die Aktie von Berkshire Hathaway nachhaltig ans Herz gelegt ("strong buy"). Berkshire ist der von dem legendären Investor Warren Buffett geführte Mischkonzern, dessen Schwerpunkt inzwischen das Versicherungsgeschäft (General Re, Geico) ist. Nach Angaben von Analystin Alice Schroeder ist Berkshire derzeit eine der wenigen Aktiengesellschaften mit beträchtlicher Liquidität. Mit der starken Kapitaldecke werde das Unternehmen in den nächsten Jahren der bevorzugte Anbieter für viele Formen des Rückversicherungsgeschäfts sein. Berkshire hatte vor knapp drei Wochen berichtet, daß die Anschläge auf das World Trade Center das Unternehmen 2,2 Milliarden Dollar vor Steuern kosten werden. Trotz dieser Schätzung, die bisher die höchste eines einzelnen Versicherers ist, notiert die A-Aktie von Berkshire inzwischen um 8 Prozent über dem Niveau vom 10. September, dem Tag vor den Terroranschlägen. Mit einem Kurs von zuletzt 73 500 Dollar ist die Berkshire-Aktie das schwerste Papier an Wall Street.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.10.2001, Nr. 236 / Seite 33