Deutsche Anleger haben 55 Milliarden Euro investiert
Zertifikate öffnen neue Horizonte
Gezielt investieren, global anlegen, Risiken begrenzen. Die Verlockungen der Zertifikate sind groß - und mit der richtigen Strategie sind echte Gewinne möglich.
Dieter Lendle präsentierte eine deutsche Erfolgsgeschichte. 55 Milliarden Euro, so die neueste Schätzung seiner Branchenvereinigung Deutsches Derivate Institut (DDI), haben heimische Anleger in Zertifikaten stecken. Noch im Jahr 2000, als an der Börse die Kurse tanzten, waren es gerade mal zwei Milliarden Euro. Mehr als eine Versiebenundzwanzigfachung in einer Zeit, in der Aktien die größte Wertvernichtung der Geschichte erlitten und die Fondsindustrie in eine Sinnkrise stürzte.
3,9 Millionen Bundesbürger im Alter über 14 Jahren haben Anlagezertifikate im Depot; sechs Prozent der Bevölkerung. Viel fehlt nicht mehr zu jenen acht Prozent, die Aktien besitzen - und es sind schon mehr als jene fünf Prozent, die festverzinsliche Anleihen ihr Eigen nennen. "Immer mehr konservative Anleger, die bisher Aktien oder Investmentfonds kauften, setzen zusätzlich Zertifikate ein", sagt Ulrich Hocker, Chef der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz. Innerhalb weniger Jahre entwickelten sich die Zertifikate - neben Anleihen, Aktien und Fonds - zur vierten großen Wertpapierklasse für private Anleger. Jeder kann diese Papiere kaufen, sie sind täglich an der Börse zu handeln und ihr Chance-Risiko-Profil pendelt je nach Ausstattung zwischen dem von Anleihen und dem von Aktien.
Mit kleinen Beträgen global investieren
Die Anbieter werben mit einer ganzen Reihe von Vorteilen. "Schon mit Beträgen von wenigen tausend Euro können Privatanleger flexibel und global investieren, wie das bis vor wenigen Jahren nur Großanlegern und Institutionellen vorbehalten blieb", verspricht Branchenvertreter Lendle. Das beginnt bei deutschen, europäischen oder amerikanischen Aktien, geht über Newcomer wie China, Russland, Brasilien und Indien und reicht hin bis zu Exotenmärkten wie Malaysia oder Indonesien. "Die vielen Zertifikatearten mit unterschiedlichsten Risikograden bieten die Möglichkeit, schnell und unkompliziert in Zielregionen, Rohstoffe oder Branchen zu investieren", sagt Jens Kleine, Professor für Finanzdienstleistungen an der privaten Steinbeis-Hochschule in Berlin und nebenher Partner der Unternehmensberatung ICME. Er ist einer der verlässlichsten Agitatoren der Zertifikatebranche.
Nach der jüngsten Marktanalyse des DDI kann ein Drittel der Deutschen mit dem Begriff Zertifikate als Geldanlage etwas anfangen. Eine andere Frage ist, ob der Anleger angesichts des Dschungels aus ähnlich klingenden Zertifikaten den Durchblick behält, worauf er sich mit seinem Kauf einlässt. Denn angetrieben wird der Investor in den meisten Fällen vom Bankberater, der die Produkte seines Arbeitgebers gern an den Mann bringt. Mehr als die Hälfte der Anleger, die auf Zertifikate setzen, folgen seiner Initiative. Wer die Papiere einsetzt, kommt in seinem Depot im Durchschnitt auf einen Zertifikateanteil von 20 Prozent. Im Vergleich zu Aktien werden Zertifikate von Privatanlegern als weniger riskant eingeschätzt.
Deutschland ist Zertifikate-Weltmeister
Fast 21.000 verschiedene Anlagezertifikate werden derzeit an der Stuttgarter Euwax gehandelt. Dazu kommen als spekulative Ableger mehr als 29.000 Optionsscheine, fast 6000 Hebel- oder Turbozertifikate, 1100 exotische Optionen sowie 2100 Aktienanleihen. Das sind insgesamt an die 60.000 derivative oder abgeleitete Wertpapiere, von denen sich jedes auf einen festgelegte Basiswert bezieht, etwa auf den Dax oder auf eine bestimmte Aktie. Schon mit dieser puren Masse an Varianten ist Deutschland Zertifikate-Weltmeister.
Ausgedacht, gebaut und auf den Markt geworfen werden die Zertifikate von rund 30 Geldinstituten. Unter ihnen ist praktisch alles, was in der Bankenszene Rang und Namen hat: Privatbanken, große Aktienbanken, Landesbanken und internationale Investmenthäuser. Die sechs größten Anbieter haben 80 Prozent des Marktes im Griff. Der Wettbewerb um das Geld von Sparern und Anlegern ist in vollem Gange. Kein Wunder, bei einem Anlagevolumen von 55 Milliarden Euro geht es für die Banken um jährliche Gewinne in dreistelliger Millionenhöhe.
Zertifikate als Milliardenmarkt
Wie viel die Branche mit Zertifikaten genau verdient, weiß kein Mensch. Gerade erst beginnen Verbände wie der DDI oder das Derivate Forum, mit Befragungen und Marktanalysen Licht ins derivative Dunkel zu bringen. Vorsichtige Hochrechnungen gehen von einer jährlichen Nettomarge von 0,2 bis 0,4 Prozent bezogen aufs ausstehende Anlagevolumen aus. Das wäre ein Jahresgewinn von 110 Millionen bis 220 Millionen Euro. Andererseits sprechen Branchenkenner für 2004 von einem Gesamtgewinn der Emittenten von bis zu 400 Millionen Euro. So oder so - der Milliardenmarkt Anlagezertifikate ist für die Emissionsbanken ein lukrativerer Bestandteil ihres Geschäfts mit der breiten Kundschaft und zunehmend auch mit ihrer institutioneller Klientel. Vor allem, seit die Emittenten aus den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit Lehren zogen und die gröbsten Schnitzer im Umgang mit Zertifikaten kaum noch vorkommen.
Das betrifft vor allem die Absicherung, den so genannten Hedge. Für jedes Zertifikat, das die Banken herausgeben, müssen sie ein Gegengeschäft aufbauen. Die Emissionsbanken spekulieren mit einem Zertifikat nicht gegen den Kunden, wie oft angenommen wird. Vielmehr handelt es sich bei der Emission von Zertifikaten um ein Margengeschäft.
Wer finanziert die ganze Geldmaschine?
Die Antwort geben die Transaktionen, die im Hintergrund jedes Zertifikategeschäfts ablaufen und von denen Privatanleger beim Kauf eines fertig konfektionierten Wertpapiers nichts mitbekommen: Der Kaufpreis eines Zertifikats fließt zunächst über den Kauf via Börse an den Emittenten. Der baut daraufhin eine Absicherung auf: Entweder kauft er die Aktien, die in dem Zertifikat stecken; oder er ordert entsprechende Kontrakte an einer Terminbörse, vor allem der Frankfurter Eurex; oder - und das gilt unter Emittenten als besonders elegant - er gibt einfach neue Derivate heraus, die spiegelverkehrt aufgebaut sind und die damit für ihn das Risiko neutralisieren.
Drei Parteien sind dabei immer im Spiel: Einer setzt auf steigende Kurse (Haussier), einer auf fallende (Baissier) - und dazwischen steckt die Emissionsbank als Vermittler. Gibt die Bank etwa ein Zertifikat auf den Aktienindex Dax heraus, kauft sie gleichzeitig am Terminmarkt Dax-Futures. Damit ist sie abgesichert. Denn steigt der Dax, steigen auch die Futures. Die Bank kann damit dem Anleger mit dem Zertifikat bei anziehenden Kursen den Wert des Zertifikats auszahlen. Der Gewinn, der dabei für den Zertifikatebesitzer entsteht, wird über die Futures finanziert. Letztlich zahlt also in diesem Fall ein anonymer Teilnehmer an einer Terminbörse die Zeche.
Sinkt der Dax auf der anderen Seite, macht der Zertifikatebesitzer Verlust - und dafür geht der Verkäufer des Futures an der Terminbörse als Gewinner aus dem Rennen. Die Emissionsbank bezieht in beiden Fällen eine neutrale Position und holt sich bei dem ganzen Deal nur ihre Marge.
Das Spiel um Optionen
Je komplizierter die Zertifikate aufgebaut sind, desto umfangreicher werden die Transaktionen im Hintergrund. Schon bei Discountzertifikaten, mittlerweile Klassiker auf diesem Gebiet, kommen Optionen ins Spiel. Bei Bonuszertifikaten werden komplexe Termingeschäfte eingesetzt, um ein bestimmtes Anlageprofil zu konstruieren. Und selbst Garantiezertifikate, in denen derzeit mit Abstand die meisten Anlagegelder stecken, würden ohne Optionen gar nicht funktionieren.
Ob Privatanleger wollen oder nicht, über Anlagezertifikate werden sie automatisch mit ins Spiel um Optionen und Termingeschäfte gezogen.
Auf dreifache Art und Weise.
Erstens: Immer mehr Emissionsbanken gehen dazu über, Retail mit Retail zu hedgen, wie es im Fachjargon so schön heißt. Auf Deutsch: Es stehen sich also nicht wie bei der Absicherung über Futures Privatanleger und institutionelle Investoren gegenüber, die den Markt entgegengesetzt einschätzen. Vielmehr lassen die Emissionsbanken Privatanleger gegen Privatanleger antreten. Der Vorgang ist reichlich kompliziert. Die Call-Option etwa, die bei einem Discountzertifikat automatisch verkauft wird, gibt der Emittent als Kaufoptionsschein auf der anderen Seite gleich wieder an jemandem aus dem breiten Publikum heraus.
Zweitens: Die Kurse dieser Optionen sind von einer Vielzahl von Stellgrößen abhängig. Besonders wichtig ist die so genannte Volatilität des Basiswerts. Sie gibt an, wie heftig die Aktie oder der Index schwankt, auf die sich Optionen beziehen. Das heißt: Kippt an den Börsen etwa die Stimmung, schlägt das unmittelbar auf die Depotwerte tausender privater Sparer durch, die mit spekulativer Geldanlage eigentlich gar nichts im Sinn haben und nur ein Zertifikat mit Rabatt oder Garantie wollten.
Drittens: Wenn Optionen das Auf und Ab eines Zertifikats prägen, entsteht daraus für Anleger auch eine Kostenfrage. Denn die Preisbildung ist für viele Private ein Buch mit sieben Siegeln; erst recht, wenn es sich um ausgefallene Optionen mit exotischer Ausstattung handelt. "Bei vielen Produkten ist ein Ermitteln der verdeckten Kosten für den Anleger schwierig, aufwendig oder nicht möglich", kritisiert selbst der notorische Zertifikate-Verfechter Kleine.
Von Margen und wahren Werten
Preisfrage: Wo liegt dann der wahre Wert eines Zertifikats, wo schlägt der Emittent eine Marge drauf - und ab wann beginnt der Wucher? Eine Antwort darauf gibt der Markt selbst. Wissenschaftler der Universität Göttingen nahmen Discountzertifikate unter die Lupe. Bei diesen Papieren gingen, so ihr Ergebnis, in den vergangenen Jahre die Gewinnspannen der Banken deutlich zurück. Allerdings handelt es sich bei Discountzertifikaten um Standardprodukte. Die sind leicht vergleichbar, deshalb funktioniert der Wettbewerb unter den Emittenten.
Bei komplizierteren Produkten sieht das anders aus. Finanzmathematiker Rainer Baule von der Uni Göttingen: "Hier besteht für die Banken die Möglichkeit, mehr Marge herauszuholen." Und damit sinkt die Ertragschance des Anlegers. Ohnehin ziehen nicht nur die Emissionsabteilungen der Banken Gewinne aus dem Geschäft. Weil immer mehr Zertifikate über Bankfilialen abgesetzt werden, ist auch der Vertrieb auf Provisionen scharf. Bei den meisten Anlagezertifikaten wird deshalb von Beginn an eine zusätzliche Marge draufgeschlagen, die dann im Laufe des ersten Jahres abgebaut wird. Je nach Zertifikat kann das bis zu zwei Prozent des Einsatzes ausmachen. Privatanleger, die sich auf neue Papiere stürzen, zahlen also in der Regel drauf. Da ist es ein schwacher Trost, dass an Börsenplätzen wie Frankfurt und Stuttgart bei der Zeichnung neuer Zertifikate seit einiger Zeit die Maklercourtage von 0,08 Prozent entfällt.
Börse als zusätzlicher Kostentreiber
Ausgerechnet die Deutsche Börse in Frankfurt könnte sich zudem als zusätzlicher Kostentreiber entpuppen. Dabei geht es um die Lizenzgebühren, die Emittenten zahlen müssen, wenn sie rechtlich geschützte Instrumente wie den Aktienindex Dax für ein Zertifikat verwenden wollen. Bisher mussten die Banken neben einer Grundgebühr von 75.000 bis 100.000 Euro noch 500 Euro Lizenz pro Papier berappen. Diese Kosten reichen die Banken bei der Preisfestsetzung für die Papiere an die Anleger weiter. Die Deutsche Börse will die Gebühr künftig staffeln, am Ende dürften damit höhere Einnahmen bei ihr hängen bleiben. Einmal pro Monat sollen die Emittenten einen Report an die Deutsche Börse liefern, damit die Frankfurter überprüfen können, ob sie genug Lizenzen kassieren. Die Auseinandersetzung zwischen den Emittenten und der Deutschen Börse um diese Frage laufen derzeit auf Hochtouren.
Ebenfalls offen ist eine ganz andere Frage: Sollten Zertifikate in einer Art Rating bewertet werden? Solche Ratings kennen Anleger von den Einstufungen für Staaten und Unternehmen, die Anleihen herausgeben. Deren Zins richtet sich ganz wesentlich nach der Kreditwürdigkeit, ausgedrückt in der Ratingnote. Und in einem Punkt ähneln sich Anleihen und Zertifikate: Geht der Emittent Pleite, bekommt der Anleger nicht sein Geld zurück. "Gedanklich ist daher ein Aufschlag für das zusätzlich getragene Risiko zu addieren", bestätigt Kleine.
Noch ist kein Emittent ausgefallen, der Schadensfall nicht eingetreten. "Spätenstens wenn das passiert, wird der Gesetzgeber aktiv werden", meint Anlegerschützer Hocker. Kein Wunder, dass die Zertifikateindustrie die Flucht nach vorn antritt und in ihren Verbänden wie dem DDI und dem Derivate Forum über Standards und Markttransparenz debattiert. Andreas Willius, Vorstandschef der Stuttgarter Börse, geht davon aus, dass sich das in Anlagezertifikaten investierte Geld bis ins Jahr 2008 auf 200 Milliarden Euro nochmals vervierfachen kann. So vertrauensselig bleiben die Investoren aber nur, wenn sich alle Beteiligten des Zertifikatemarkts - Banken, Profis und Privatanleger - mit offenem Visier gegenübertreten.
Quelle: HANDELSBLATT, Samstag, 04. Juni 2005, 11:21 Uhr
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Der Einsame Samariter
Zertifikate öffnen neue Horizonte
Gezielt investieren, global anlegen, Risiken begrenzen. Die Verlockungen der Zertifikate sind groß - und mit der richtigen Strategie sind echte Gewinne möglich.
Dieter Lendle präsentierte eine deutsche Erfolgsgeschichte. 55 Milliarden Euro, so die neueste Schätzung seiner Branchenvereinigung Deutsches Derivate Institut (DDI), haben heimische Anleger in Zertifikaten stecken. Noch im Jahr 2000, als an der Börse die Kurse tanzten, waren es gerade mal zwei Milliarden Euro. Mehr als eine Versiebenundzwanzigfachung in einer Zeit, in der Aktien die größte Wertvernichtung der Geschichte erlitten und die Fondsindustrie in eine Sinnkrise stürzte.
3,9 Millionen Bundesbürger im Alter über 14 Jahren haben Anlagezertifikate im Depot; sechs Prozent der Bevölkerung. Viel fehlt nicht mehr zu jenen acht Prozent, die Aktien besitzen - und es sind schon mehr als jene fünf Prozent, die festverzinsliche Anleihen ihr Eigen nennen. "Immer mehr konservative Anleger, die bisher Aktien oder Investmentfonds kauften, setzen zusätzlich Zertifikate ein", sagt Ulrich Hocker, Chef der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz. Innerhalb weniger Jahre entwickelten sich die Zertifikate - neben Anleihen, Aktien und Fonds - zur vierten großen Wertpapierklasse für private Anleger. Jeder kann diese Papiere kaufen, sie sind täglich an der Börse zu handeln und ihr Chance-Risiko-Profil pendelt je nach Ausstattung zwischen dem von Anleihen und dem von Aktien.
Mit kleinen Beträgen global investieren
Die Anbieter werben mit einer ganzen Reihe von Vorteilen. "Schon mit Beträgen von wenigen tausend Euro können Privatanleger flexibel und global investieren, wie das bis vor wenigen Jahren nur Großanlegern und Institutionellen vorbehalten blieb", verspricht Branchenvertreter Lendle. Das beginnt bei deutschen, europäischen oder amerikanischen Aktien, geht über Newcomer wie China, Russland, Brasilien und Indien und reicht hin bis zu Exotenmärkten wie Malaysia oder Indonesien. "Die vielen Zertifikatearten mit unterschiedlichsten Risikograden bieten die Möglichkeit, schnell und unkompliziert in Zielregionen, Rohstoffe oder Branchen zu investieren", sagt Jens Kleine, Professor für Finanzdienstleistungen an der privaten Steinbeis-Hochschule in Berlin und nebenher Partner der Unternehmensberatung ICME. Er ist einer der verlässlichsten Agitatoren der Zertifikatebranche.
Nach der jüngsten Marktanalyse des DDI kann ein Drittel der Deutschen mit dem Begriff Zertifikate als Geldanlage etwas anfangen. Eine andere Frage ist, ob der Anleger angesichts des Dschungels aus ähnlich klingenden Zertifikaten den Durchblick behält, worauf er sich mit seinem Kauf einlässt. Denn angetrieben wird der Investor in den meisten Fällen vom Bankberater, der die Produkte seines Arbeitgebers gern an den Mann bringt. Mehr als die Hälfte der Anleger, die auf Zertifikate setzen, folgen seiner Initiative. Wer die Papiere einsetzt, kommt in seinem Depot im Durchschnitt auf einen Zertifikateanteil von 20 Prozent. Im Vergleich zu Aktien werden Zertifikate von Privatanlegern als weniger riskant eingeschätzt.
Deutschland ist Zertifikate-Weltmeister
Fast 21.000 verschiedene Anlagezertifikate werden derzeit an der Stuttgarter Euwax gehandelt. Dazu kommen als spekulative Ableger mehr als 29.000 Optionsscheine, fast 6000 Hebel- oder Turbozertifikate, 1100 exotische Optionen sowie 2100 Aktienanleihen. Das sind insgesamt an die 60.000 derivative oder abgeleitete Wertpapiere, von denen sich jedes auf einen festgelegte Basiswert bezieht, etwa auf den Dax oder auf eine bestimmte Aktie. Schon mit dieser puren Masse an Varianten ist Deutschland Zertifikate-Weltmeister.
Ausgedacht, gebaut und auf den Markt geworfen werden die Zertifikate von rund 30 Geldinstituten. Unter ihnen ist praktisch alles, was in der Bankenszene Rang und Namen hat: Privatbanken, große Aktienbanken, Landesbanken und internationale Investmenthäuser. Die sechs größten Anbieter haben 80 Prozent des Marktes im Griff. Der Wettbewerb um das Geld von Sparern und Anlegern ist in vollem Gange. Kein Wunder, bei einem Anlagevolumen von 55 Milliarden Euro geht es für die Banken um jährliche Gewinne in dreistelliger Millionenhöhe.
Zertifikate als Milliardenmarkt
Wie viel die Branche mit Zertifikaten genau verdient, weiß kein Mensch. Gerade erst beginnen Verbände wie der DDI oder das Derivate Forum, mit Befragungen und Marktanalysen Licht ins derivative Dunkel zu bringen. Vorsichtige Hochrechnungen gehen von einer jährlichen Nettomarge von 0,2 bis 0,4 Prozent bezogen aufs ausstehende Anlagevolumen aus. Das wäre ein Jahresgewinn von 110 Millionen bis 220 Millionen Euro. Andererseits sprechen Branchenkenner für 2004 von einem Gesamtgewinn der Emittenten von bis zu 400 Millionen Euro. So oder so - der Milliardenmarkt Anlagezertifikate ist für die Emissionsbanken ein lukrativerer Bestandteil ihres Geschäfts mit der breiten Kundschaft und zunehmend auch mit ihrer institutioneller Klientel. Vor allem, seit die Emittenten aus den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit Lehren zogen und die gröbsten Schnitzer im Umgang mit Zertifikaten kaum noch vorkommen.
Das betrifft vor allem die Absicherung, den so genannten Hedge. Für jedes Zertifikat, das die Banken herausgeben, müssen sie ein Gegengeschäft aufbauen. Die Emissionsbanken spekulieren mit einem Zertifikat nicht gegen den Kunden, wie oft angenommen wird. Vielmehr handelt es sich bei der Emission von Zertifikaten um ein Margengeschäft.
Wer finanziert die ganze Geldmaschine?
Die Antwort geben die Transaktionen, die im Hintergrund jedes Zertifikategeschäfts ablaufen und von denen Privatanleger beim Kauf eines fertig konfektionierten Wertpapiers nichts mitbekommen: Der Kaufpreis eines Zertifikats fließt zunächst über den Kauf via Börse an den Emittenten. Der baut daraufhin eine Absicherung auf: Entweder kauft er die Aktien, die in dem Zertifikat stecken; oder er ordert entsprechende Kontrakte an einer Terminbörse, vor allem der Frankfurter Eurex; oder - und das gilt unter Emittenten als besonders elegant - er gibt einfach neue Derivate heraus, die spiegelverkehrt aufgebaut sind und die damit für ihn das Risiko neutralisieren.
Drei Parteien sind dabei immer im Spiel: Einer setzt auf steigende Kurse (Haussier), einer auf fallende (Baissier) - und dazwischen steckt die Emissionsbank als Vermittler. Gibt die Bank etwa ein Zertifikat auf den Aktienindex Dax heraus, kauft sie gleichzeitig am Terminmarkt Dax-Futures. Damit ist sie abgesichert. Denn steigt der Dax, steigen auch die Futures. Die Bank kann damit dem Anleger mit dem Zertifikat bei anziehenden Kursen den Wert des Zertifikats auszahlen. Der Gewinn, der dabei für den Zertifikatebesitzer entsteht, wird über die Futures finanziert. Letztlich zahlt also in diesem Fall ein anonymer Teilnehmer an einer Terminbörse die Zeche.
Sinkt der Dax auf der anderen Seite, macht der Zertifikatebesitzer Verlust - und dafür geht der Verkäufer des Futures an der Terminbörse als Gewinner aus dem Rennen. Die Emissionsbank bezieht in beiden Fällen eine neutrale Position und holt sich bei dem ganzen Deal nur ihre Marge.
Das Spiel um Optionen
Je komplizierter die Zertifikate aufgebaut sind, desto umfangreicher werden die Transaktionen im Hintergrund. Schon bei Discountzertifikaten, mittlerweile Klassiker auf diesem Gebiet, kommen Optionen ins Spiel. Bei Bonuszertifikaten werden komplexe Termingeschäfte eingesetzt, um ein bestimmtes Anlageprofil zu konstruieren. Und selbst Garantiezertifikate, in denen derzeit mit Abstand die meisten Anlagegelder stecken, würden ohne Optionen gar nicht funktionieren.
Ob Privatanleger wollen oder nicht, über Anlagezertifikate werden sie automatisch mit ins Spiel um Optionen und Termingeschäfte gezogen.
Auf dreifache Art und Weise.
Erstens: Immer mehr Emissionsbanken gehen dazu über, Retail mit Retail zu hedgen, wie es im Fachjargon so schön heißt. Auf Deutsch: Es stehen sich also nicht wie bei der Absicherung über Futures Privatanleger und institutionelle Investoren gegenüber, die den Markt entgegengesetzt einschätzen. Vielmehr lassen die Emissionsbanken Privatanleger gegen Privatanleger antreten. Der Vorgang ist reichlich kompliziert. Die Call-Option etwa, die bei einem Discountzertifikat automatisch verkauft wird, gibt der Emittent als Kaufoptionsschein auf der anderen Seite gleich wieder an jemandem aus dem breiten Publikum heraus.
Zweitens: Die Kurse dieser Optionen sind von einer Vielzahl von Stellgrößen abhängig. Besonders wichtig ist die so genannte Volatilität des Basiswerts. Sie gibt an, wie heftig die Aktie oder der Index schwankt, auf die sich Optionen beziehen. Das heißt: Kippt an den Börsen etwa die Stimmung, schlägt das unmittelbar auf die Depotwerte tausender privater Sparer durch, die mit spekulativer Geldanlage eigentlich gar nichts im Sinn haben und nur ein Zertifikat mit Rabatt oder Garantie wollten.
Drittens: Wenn Optionen das Auf und Ab eines Zertifikats prägen, entsteht daraus für Anleger auch eine Kostenfrage. Denn die Preisbildung ist für viele Private ein Buch mit sieben Siegeln; erst recht, wenn es sich um ausgefallene Optionen mit exotischer Ausstattung handelt. "Bei vielen Produkten ist ein Ermitteln der verdeckten Kosten für den Anleger schwierig, aufwendig oder nicht möglich", kritisiert selbst der notorische Zertifikate-Verfechter Kleine.
Von Margen und wahren Werten
Preisfrage: Wo liegt dann der wahre Wert eines Zertifikats, wo schlägt der Emittent eine Marge drauf - und ab wann beginnt der Wucher? Eine Antwort darauf gibt der Markt selbst. Wissenschaftler der Universität Göttingen nahmen Discountzertifikate unter die Lupe. Bei diesen Papieren gingen, so ihr Ergebnis, in den vergangenen Jahre die Gewinnspannen der Banken deutlich zurück. Allerdings handelt es sich bei Discountzertifikaten um Standardprodukte. Die sind leicht vergleichbar, deshalb funktioniert der Wettbewerb unter den Emittenten.
Bei komplizierteren Produkten sieht das anders aus. Finanzmathematiker Rainer Baule von der Uni Göttingen: "Hier besteht für die Banken die Möglichkeit, mehr Marge herauszuholen." Und damit sinkt die Ertragschance des Anlegers. Ohnehin ziehen nicht nur die Emissionsabteilungen der Banken Gewinne aus dem Geschäft. Weil immer mehr Zertifikate über Bankfilialen abgesetzt werden, ist auch der Vertrieb auf Provisionen scharf. Bei den meisten Anlagezertifikaten wird deshalb von Beginn an eine zusätzliche Marge draufgeschlagen, die dann im Laufe des ersten Jahres abgebaut wird. Je nach Zertifikat kann das bis zu zwei Prozent des Einsatzes ausmachen. Privatanleger, die sich auf neue Papiere stürzen, zahlen also in der Regel drauf. Da ist es ein schwacher Trost, dass an Börsenplätzen wie Frankfurt und Stuttgart bei der Zeichnung neuer Zertifikate seit einiger Zeit die Maklercourtage von 0,08 Prozent entfällt.
Börse als zusätzlicher Kostentreiber
Ausgerechnet die Deutsche Börse in Frankfurt könnte sich zudem als zusätzlicher Kostentreiber entpuppen. Dabei geht es um die Lizenzgebühren, die Emittenten zahlen müssen, wenn sie rechtlich geschützte Instrumente wie den Aktienindex Dax für ein Zertifikat verwenden wollen. Bisher mussten die Banken neben einer Grundgebühr von 75.000 bis 100.000 Euro noch 500 Euro Lizenz pro Papier berappen. Diese Kosten reichen die Banken bei der Preisfestsetzung für die Papiere an die Anleger weiter. Die Deutsche Börse will die Gebühr künftig staffeln, am Ende dürften damit höhere Einnahmen bei ihr hängen bleiben. Einmal pro Monat sollen die Emittenten einen Report an die Deutsche Börse liefern, damit die Frankfurter überprüfen können, ob sie genug Lizenzen kassieren. Die Auseinandersetzung zwischen den Emittenten und der Deutschen Börse um diese Frage laufen derzeit auf Hochtouren.
Ebenfalls offen ist eine ganz andere Frage: Sollten Zertifikate in einer Art Rating bewertet werden? Solche Ratings kennen Anleger von den Einstufungen für Staaten und Unternehmen, die Anleihen herausgeben. Deren Zins richtet sich ganz wesentlich nach der Kreditwürdigkeit, ausgedrückt in der Ratingnote. Und in einem Punkt ähneln sich Anleihen und Zertifikate: Geht der Emittent Pleite, bekommt der Anleger nicht sein Geld zurück. "Gedanklich ist daher ein Aufschlag für das zusätzlich getragene Risiko zu addieren", bestätigt Kleine.
Noch ist kein Emittent ausgefallen, der Schadensfall nicht eingetreten. "Spätenstens wenn das passiert, wird der Gesetzgeber aktiv werden", meint Anlegerschützer Hocker. Kein Wunder, dass die Zertifikateindustrie die Flucht nach vorn antritt und in ihren Verbänden wie dem DDI und dem Derivate Forum über Standards und Markttransparenz debattiert. Andreas Willius, Vorstandschef der Stuttgarter Börse, geht davon aus, dass sich das in Anlagezertifikaten investierte Geld bis ins Jahr 2008 auf 200 Milliarden Euro nochmals vervierfachen kann. So vertrauensselig bleiben die Investoren aber nur, wenn sich alle Beteiligten des Zertifikatemarkts - Banken, Profis und Privatanleger - mit offenem Visier gegenübertreten.
Quelle: HANDELSBLATT, Samstag, 04. Juni 2005, 11:21 Uhr
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