Wie der betrügerische Spekulant Nick Leeson die britische Barings Bank zu Fall brachte
Von Robert von Heusinger
Der Markt wird ins Bodenlose fallen.“ Nur dieser eine Gedanke schießt Nick Leeson durch den Kopf, als er von dem schweren Erdbeben in der westjapanischen Industriestadt Kobe erfährt. Es ist Dienstag, der 17. Januar 1995. „Der Markt“, das ist der japanische Aktienmarkt. Auf diesen hat der 28-jährige Händler der britischen Merchantbank Barings hohe Wetten laufen. Sie gehen nur auf, wenn sich der japanische Aktienindex Nikkei in den nächsten Monaten nicht groß bewegt, nicht unter 19000 Punkte fällt und nicht über 20000 steigt. Nur dann besteht für den „Top-Händler des Jahres 1994 am Singapurer Terminmarkt“ überhaupt eine Chance, seine horrenden, aber gut kaschierten Verluste – mehr als 200 Millionen Dollar – auszugleichen. Ein einstürzender Nikkei würde die Verluste dramatisch ausweiten. Alles würde auffliegen. Der Bluff, sein Geheimkonto, verbotene Transaktionen. Sein Leben wäre ruiniert.
Leesons Ahnung war richtig. Gleich nach der Eröffnung des Marktes bricht der Nikkei regelrecht zusammen, kommt 19000 Punkten bedrohlich nahe. Allein an diesem Dienstag addieren sich weitere 80 Millionen Dollar zu seinen Verlusten. Leeson muss zwischen zwei Extremen wählen: Entweder er kapituliert, oder er setzt alles auf eine Karte. Er entscheidet sich, aufs Ganze zu gehen, will den Markt in seine Richtung lenken – nach oben. Getreu dem alten Händler-Motto „if in trouble, double“ (Verdopple, wenn du schief liegst) beginnt Leeson zu kaufen, was das Zeug hält: 10000 Future-Kontrakte auf den Nikkei am 20. Januar, so viel hatte er noch nie an einem Tag gekauft. Am Folgetag sackt der Index auf 18000 Punkte ab. 30000 Kontrakte am 27. Januar – 19000 Indexpunkte sind noch immer in weiter Ferne. Leeson gelingt es, die rasante Talfahrt zu verlangsamen, stoppen kann er sie nicht.
In den nächsten Tagen verliert Leeson völlig die Kontrolle, handelt wie ein Besessener, addiert nicht einmal mehr die Verluste und wird immer häufiger auf der Toilette gesichtet. Die Schlinge zieht sich zu. Leesons Bosse in London befehlen ihm, Positionen zu verringern, und die Wirtschaftsprüfer verlangen Erklärungen, die der Händler nicht liefern kann, ohne aufzufliegen. In immer kürzeren Abständen fälscht er Urkunden, manipuliert Abwicklungssysteme, vollführt Buchungstricks, um den Anschein zu wahren, alles gehe mit rechten Dingen zu.
Doch das Rad, das Leeson dreht, ist längst zu groß. Am Donnerstag, dem 23. Februar, betritt er ein letztes Mal in dem blau-gelb gestreiften Händlerjackett der Barings Bank die Terminbörse. Wieder sackt der japanische Index ab – deutlich unter 18000 Zähler. Allein dieser Tag bringt Verluste von mehr als 220 Millionen Dollar – Weltrekord für einen einzelnen Händler. Leeson hält fast 50 Prozent aller Risikopositionen in Singapur. Er ist der einzige Käufer weit und breit. Nichts geht mehr. Nach Börsenschluss fliehen er und seine Frau Lisa nach Malaysia.
1,4 Milliarden Dollar Verlust
Erst am nächsten Morgen dämmert es Barings’ Managern in London: Ihr „Wunderhändler“ Leeson, der „Turbo-Arbitrageur“ aus Singapur ist tatsächlich ein Zocker und Betrüger. Entsetzt stellen sie fest, dass Leeson seine Positionen nie abgesichert hat, dass sich seine Wetten auf die Kursbewegungen eines Nominalvolumens von rund 60 Milliarden Dollar beziehen. Sie müssen einräumen, dass die Bank nicht genug Geld hat, um den verlangten Sicherheiten der Terminbörse Simex nachkommen zu können. Die Bank ist zahlungsunfähig. Zerknirscht sehen sie zu, wie die Bank of England, der Regulierer, ihr Institut schließt. Als alle Terminkontrakte Leesons verkauft sind, steht ein Verlust in Höhe von 1,4 Milliarden Dollar zu Buche. Barings’ Eigenkapital liegt bei 615 Millionen Dollar.
London hat seinen Skandal: Der Sohn eines Handwerkers aus Watford ruiniert eine der feinsten Londoner Bankadressen. Barings ist die Bank der britischen Könige. 1762 wird sie von Francis Baring, dem Sohn eines Bremer Tuchhändlers, als erste reine Merchantbank gegründet: Sie handelt selbst mit Rohstoffen, gleichzeitig finanziert sie den Handel, berät und fädelt Geschäfte ein. Innerhalb weniger Jahrzehnte erlangt sie enormen Einfluss. Im späten 18. Jahrhundert finanziert Barings Britanniens Kriege: den Kampf gegen die abtrünnigen USA, den Feldzug gegen Napoleon. Als die Vereinigten Staaten 1802 den Franzosen den Staat Louisiana abkaufen wollen, gibt es für sie nur eine Geldquelle: Francis Baring. Im frühen 19. Jahrhundert gilt die Bank als Europas „sechste Großmacht“. 180 Jahre später hat sie jene Bedeutung zwar verloren, Ruhm und Arroganz aber sind geblieben – auch weil mit Peter Baring als Chairman die siebte Generation der Familie an den Schalthebeln sitzt.
Genau das schafft die Voraussetzungen für den Skandal: Barings tickt noch immer so wie in der guten alten Zeit vor dem Big Bang von 1985, jenem radikalen Deregulierungsprojekt, das den Londoner Finanzplatz revolutioniert und zum internationalen Zentrum in Europa werden lässt. Mit dem Einzug ausländischer, vor allem amerikanischer, Banken verändert sich das Geschäftsgebaren nachhaltig. Es wird schneller, flexibler und aggressiver. Der Big Bang bedeutet das Ende des Old-Boys-Network und der Bowler-Hüte. Die ehedem einträglichen Nischen der alten Merchantbanks werden immer kleiner. Kaum eine bewahrt ihre Unabhängigkeit: Morgan Grenfell, Kleinwort Benson, Warburg, Schroders, Flemings, sie alle werden von ausländischen Häusern übernommen. Wer in der neuen Bankenwelt etwas werden will, muss nicht mehr in Oxford studiert haben, sondern Geld verdienen für sein Haus. Es ist der Beginn der Yuppie-Ära.
Barings überlebt den Big Bang, passt sich aber nicht an. Das Leitbild bleibt das des Gentlemans, das Motto: „Überwachung ist gut, Vertrauen ist billiger.“ So ist der Anfang von Barings’ Ende leicht definiert: Mitte 1992, als Leeson nach Singapur geschickt wird, um den Derivate-Handel aufzubauen. Wider besseres Wissen verstoßen die Vorgesetzten gegen eine uralte Vorsichtsmaßnahme beim Wertpapierhandel: Lass den Händler nie die Abwicklung seiner eigenen Transaktionen übernehmen. Die Versuchung ist zu groß, Verluste zu verschleiern und Gewinne zu manipulieren. Leeson erliegt der Versuchung. Der Junge aus einfachen Verhältnissen will ein berühmter Händler werden und viel Geld verdienen. Bei Barings bekommt er die besten Karten dafür. Er ist Händler und Abwickler zugleich. Auch nachdem interne Prüfer anregen, einen Mitarbeiter für die Überprüfung und Buchung von Leesons Geschäften abzustellen, ändert sich nichts. „Zu wenig zu tun und zu teuer“, befinden die feinen Manager in London.
Leeson soll in Singapur den Arbitragehandel aufbauen und Kundengeschäfte ausführen. Ein fast risikoloses Geschäft. Geringe Preisdifferenzen in den japanischen Derivaten, die parallel an der japanischen Terminbörse in Osaka und in Singapur gehandelt werden, soll er ausnutzen. Den Kontrakt dort verkaufen, wo gerade der höhere Preis zu erzielen ist und gleichzeitig dort kaufen, wo er zum niedrigeren angeboten wird. Eigenhandel, mit dem Geld der Bank auf steigende und fallende Kurse zu spekulieren, ist ihm strikt untersagt. Doch genau das tut Leeson, und niemand in London wundert sich, wie sein vermeintlich risikoloses Geschäft derartige Gewinne abwerfen kann. Leeson scheint die moderne Finanztheorie zu widerlegen: kein Risiko, aber satte Renditen.
In Wirklichkeit macht Leeson alles, aber kaum Arbitrage. Das Vehikel für seinen Betrug ist das Konto mit der Nummer 88888, fünfmal die chinesische Glückszahl. Dieses Geheimkonto benutzt er, um die Verluste und nicht genehmigten offenen Positionen zu verbergen. Auf dem Handelsparkett stellt Leeson die besten Kurse. Bietet die Konkurrenz einen Kontrakt für 1950 Yen an, verlangt Leeson nur 1940. Kauft die Konkurrenz für 1920 Yen, zahlt Leeson 1930. Er kalkuliert so knapp, dass er oft Geld an seine Handelspartner verschenkt. Die Verluste wandern auf das Konto 88888. Bald stehen die Kunden Schlange, um mit Leeson zu handeln. Die Terminbörse ehrt ihren aktivsten Händler. Dabei ist Leeson ein gnadenlos schlechter Händler. Schon in seinem ersten Monat an der Simex verliert er 60000 Dollar. Nur einmal, Mitte 1993, gelingt es ihm, seinen Gesamtverlust in Höhe von knapp 10 Millionen Dollar durch gewagte Transaktionen in Gewinne zu wandeln. Leeson ist total erleichtert und schwört sich, nie wieder Positionen zu verstecken. Doch sein riskantes Spiel geht nicht spurlos an ihm vorbei. Er kaut Fingernägel, stopft unablässig Bonbons in sich hinein und trinkt immer mehr Alkohol. Der Vorsatz hält nicht lange. Schon einen Tag später erliegt er der Verführung von Konto 88888.
Das schwarze Konto 88888
Unterdessen macht er sich in London beliebt, indem er ansehnliche Gewinne ausweist – mehr als ein Fünftel des Gewinns der Gesamtbank. Nur: Der Gegenposten ist ein Verlust auf dem Konto 88888, der Gewinn hat also nie existiert. Um sein Geheimkonto nicht auffliegen zu lassen, muss Leeson Geschäfte frisieren, Gelder umbuchen, Optionen verkaufen und Lügen erzählen. Als Abwicklungskünstler ist er brillant. Bis zum letzten Tag gehen die Londoner Kontrolleure davon aus, dass die hohen offenen Positionen Kunden gehören, für die Barings lediglich handelt. Sie überweisen fast wöchentlich mehr Geld nach Singapur, um die Sicherheitsleistungen für die Terminbörse zu erfüllen. Sie fragen aber nie nach, für welche Kunden sie eigentlich die Millionen überweisen.
Das Ende des Falls Barings ist rasch erzählt: Der holländische Finanzkonzern ING übernimmt die britische Nobeladresse für den symbolischen Preis von einem Pfund. Die Führungsebene wird fast komplett ausgetauscht. Der Name Barings verschwindet im April 2002 endgültig. Nick Leeson wird zu einer tragischen Figur. Im Moment seiner Niederlage erreicht er, wovon er immer geträumt hat: Er ist auf einen Schlag weltberühmt. Seine Flucht endet auf dem Frankfurter Flughafen, wo die Journalistenmeute schon auf ihn wartet. Großbritannien stellt kein Auslieferungsersuchen. London will es vermeiden, den Ruf seines Finanzplatzes durch diesen spektakulären Fall noch weiter zu schädigen. Auch die zuständige Aufsichtsbehörde, die Bank of England, hat keine rechte Lust, ihr eklatantes Versagen allzu ausführlich in der Öffentlichkeit diskutiert zu sehen. Nick Leeson wird in Singapur zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Bald darauf verlässt ihn seine Frau, sein einziger Halt, und heiratet einen erfolgreicheren Händler. Leeson erkrankt an Krebs und wird in der Haft operiert. Als er nach vier Jahren wegen guter Führung vorzeitig entlassen wird, steht er wieder im Mittelpunkt. Er bedient die Sehnsüchte und Klischees der Massen. Der gefallene Starhändler, das Arbeiterkind, das als Sündenbock für die Managementfehler herhalten muss. Leeson kehrt nach England zurück, kämpft gegen seinen Krebs und wird zum gefragten Konferenzredner.
Der Fall Barings wird zum Lehrstück des Finanz- und Risikomanagements. Niemals wurde so eklatant gegen die Vorsichtsprinzipien im Bankgeschäft verstoßen und so offensichtlich. Im September 1993 erklärt Peter Baring zufrieden: „Bei Barings setzte sich die Ansicht durch, dass es eigentlich gar nicht so schrecklich schwer ist, im Wertpapiergeschäft Geld zu machen.“ – Hochmut kommt vor dem Fall.
Von Robert von Heusinger
Der Markt wird ins Bodenlose fallen.“ Nur dieser eine Gedanke schießt Nick Leeson durch den Kopf, als er von dem schweren Erdbeben in der westjapanischen Industriestadt Kobe erfährt. Es ist Dienstag, der 17. Januar 1995. „Der Markt“, das ist der japanische Aktienmarkt. Auf diesen hat der 28-jährige Händler der britischen Merchantbank Barings hohe Wetten laufen. Sie gehen nur auf, wenn sich der japanische Aktienindex Nikkei in den nächsten Monaten nicht groß bewegt, nicht unter 19000 Punkte fällt und nicht über 20000 steigt. Nur dann besteht für den „Top-Händler des Jahres 1994 am Singapurer Terminmarkt“ überhaupt eine Chance, seine horrenden, aber gut kaschierten Verluste – mehr als 200 Millionen Dollar – auszugleichen. Ein einstürzender Nikkei würde die Verluste dramatisch ausweiten. Alles würde auffliegen. Der Bluff, sein Geheimkonto, verbotene Transaktionen. Sein Leben wäre ruiniert.
Leesons Ahnung war richtig. Gleich nach der Eröffnung des Marktes bricht der Nikkei regelrecht zusammen, kommt 19000 Punkten bedrohlich nahe. Allein an diesem Dienstag addieren sich weitere 80 Millionen Dollar zu seinen Verlusten. Leeson muss zwischen zwei Extremen wählen: Entweder er kapituliert, oder er setzt alles auf eine Karte. Er entscheidet sich, aufs Ganze zu gehen, will den Markt in seine Richtung lenken – nach oben. Getreu dem alten Händler-Motto „if in trouble, double“ (Verdopple, wenn du schief liegst) beginnt Leeson zu kaufen, was das Zeug hält: 10000 Future-Kontrakte auf den Nikkei am 20. Januar, so viel hatte er noch nie an einem Tag gekauft. Am Folgetag sackt der Index auf 18000 Punkte ab. 30000 Kontrakte am 27. Januar – 19000 Indexpunkte sind noch immer in weiter Ferne. Leeson gelingt es, die rasante Talfahrt zu verlangsamen, stoppen kann er sie nicht.
In den nächsten Tagen verliert Leeson völlig die Kontrolle, handelt wie ein Besessener, addiert nicht einmal mehr die Verluste und wird immer häufiger auf der Toilette gesichtet. Die Schlinge zieht sich zu. Leesons Bosse in London befehlen ihm, Positionen zu verringern, und die Wirtschaftsprüfer verlangen Erklärungen, die der Händler nicht liefern kann, ohne aufzufliegen. In immer kürzeren Abständen fälscht er Urkunden, manipuliert Abwicklungssysteme, vollführt Buchungstricks, um den Anschein zu wahren, alles gehe mit rechten Dingen zu.
Doch das Rad, das Leeson dreht, ist längst zu groß. Am Donnerstag, dem 23. Februar, betritt er ein letztes Mal in dem blau-gelb gestreiften Händlerjackett der Barings Bank die Terminbörse. Wieder sackt der japanische Index ab – deutlich unter 18000 Zähler. Allein dieser Tag bringt Verluste von mehr als 220 Millionen Dollar – Weltrekord für einen einzelnen Händler. Leeson hält fast 50 Prozent aller Risikopositionen in Singapur. Er ist der einzige Käufer weit und breit. Nichts geht mehr. Nach Börsenschluss fliehen er und seine Frau Lisa nach Malaysia.
1,4 Milliarden Dollar Verlust
Erst am nächsten Morgen dämmert es Barings’ Managern in London: Ihr „Wunderhändler“ Leeson, der „Turbo-Arbitrageur“ aus Singapur ist tatsächlich ein Zocker und Betrüger. Entsetzt stellen sie fest, dass Leeson seine Positionen nie abgesichert hat, dass sich seine Wetten auf die Kursbewegungen eines Nominalvolumens von rund 60 Milliarden Dollar beziehen. Sie müssen einräumen, dass die Bank nicht genug Geld hat, um den verlangten Sicherheiten der Terminbörse Simex nachkommen zu können. Die Bank ist zahlungsunfähig. Zerknirscht sehen sie zu, wie die Bank of England, der Regulierer, ihr Institut schließt. Als alle Terminkontrakte Leesons verkauft sind, steht ein Verlust in Höhe von 1,4 Milliarden Dollar zu Buche. Barings’ Eigenkapital liegt bei 615 Millionen Dollar.
London hat seinen Skandal: Der Sohn eines Handwerkers aus Watford ruiniert eine der feinsten Londoner Bankadressen. Barings ist die Bank der britischen Könige. 1762 wird sie von Francis Baring, dem Sohn eines Bremer Tuchhändlers, als erste reine Merchantbank gegründet: Sie handelt selbst mit Rohstoffen, gleichzeitig finanziert sie den Handel, berät und fädelt Geschäfte ein. Innerhalb weniger Jahrzehnte erlangt sie enormen Einfluss. Im späten 18. Jahrhundert finanziert Barings Britanniens Kriege: den Kampf gegen die abtrünnigen USA, den Feldzug gegen Napoleon. Als die Vereinigten Staaten 1802 den Franzosen den Staat Louisiana abkaufen wollen, gibt es für sie nur eine Geldquelle: Francis Baring. Im frühen 19. Jahrhundert gilt die Bank als Europas „sechste Großmacht“. 180 Jahre später hat sie jene Bedeutung zwar verloren, Ruhm und Arroganz aber sind geblieben – auch weil mit Peter Baring als Chairman die siebte Generation der Familie an den Schalthebeln sitzt.
Genau das schafft die Voraussetzungen für den Skandal: Barings tickt noch immer so wie in der guten alten Zeit vor dem Big Bang von 1985, jenem radikalen Deregulierungsprojekt, das den Londoner Finanzplatz revolutioniert und zum internationalen Zentrum in Europa werden lässt. Mit dem Einzug ausländischer, vor allem amerikanischer, Banken verändert sich das Geschäftsgebaren nachhaltig. Es wird schneller, flexibler und aggressiver. Der Big Bang bedeutet das Ende des Old-Boys-Network und der Bowler-Hüte. Die ehedem einträglichen Nischen der alten Merchantbanks werden immer kleiner. Kaum eine bewahrt ihre Unabhängigkeit: Morgan Grenfell, Kleinwort Benson, Warburg, Schroders, Flemings, sie alle werden von ausländischen Häusern übernommen. Wer in der neuen Bankenwelt etwas werden will, muss nicht mehr in Oxford studiert haben, sondern Geld verdienen für sein Haus. Es ist der Beginn der Yuppie-Ära.
Barings überlebt den Big Bang, passt sich aber nicht an. Das Leitbild bleibt das des Gentlemans, das Motto: „Überwachung ist gut, Vertrauen ist billiger.“ So ist der Anfang von Barings’ Ende leicht definiert: Mitte 1992, als Leeson nach Singapur geschickt wird, um den Derivate-Handel aufzubauen. Wider besseres Wissen verstoßen die Vorgesetzten gegen eine uralte Vorsichtsmaßnahme beim Wertpapierhandel: Lass den Händler nie die Abwicklung seiner eigenen Transaktionen übernehmen. Die Versuchung ist zu groß, Verluste zu verschleiern und Gewinne zu manipulieren. Leeson erliegt der Versuchung. Der Junge aus einfachen Verhältnissen will ein berühmter Händler werden und viel Geld verdienen. Bei Barings bekommt er die besten Karten dafür. Er ist Händler und Abwickler zugleich. Auch nachdem interne Prüfer anregen, einen Mitarbeiter für die Überprüfung und Buchung von Leesons Geschäften abzustellen, ändert sich nichts. „Zu wenig zu tun und zu teuer“, befinden die feinen Manager in London.
Leeson soll in Singapur den Arbitragehandel aufbauen und Kundengeschäfte ausführen. Ein fast risikoloses Geschäft. Geringe Preisdifferenzen in den japanischen Derivaten, die parallel an der japanischen Terminbörse in Osaka und in Singapur gehandelt werden, soll er ausnutzen. Den Kontrakt dort verkaufen, wo gerade der höhere Preis zu erzielen ist und gleichzeitig dort kaufen, wo er zum niedrigeren angeboten wird. Eigenhandel, mit dem Geld der Bank auf steigende und fallende Kurse zu spekulieren, ist ihm strikt untersagt. Doch genau das tut Leeson, und niemand in London wundert sich, wie sein vermeintlich risikoloses Geschäft derartige Gewinne abwerfen kann. Leeson scheint die moderne Finanztheorie zu widerlegen: kein Risiko, aber satte Renditen.
In Wirklichkeit macht Leeson alles, aber kaum Arbitrage. Das Vehikel für seinen Betrug ist das Konto mit der Nummer 88888, fünfmal die chinesische Glückszahl. Dieses Geheimkonto benutzt er, um die Verluste und nicht genehmigten offenen Positionen zu verbergen. Auf dem Handelsparkett stellt Leeson die besten Kurse. Bietet die Konkurrenz einen Kontrakt für 1950 Yen an, verlangt Leeson nur 1940. Kauft die Konkurrenz für 1920 Yen, zahlt Leeson 1930. Er kalkuliert so knapp, dass er oft Geld an seine Handelspartner verschenkt. Die Verluste wandern auf das Konto 88888. Bald stehen die Kunden Schlange, um mit Leeson zu handeln. Die Terminbörse ehrt ihren aktivsten Händler. Dabei ist Leeson ein gnadenlos schlechter Händler. Schon in seinem ersten Monat an der Simex verliert er 60000 Dollar. Nur einmal, Mitte 1993, gelingt es ihm, seinen Gesamtverlust in Höhe von knapp 10 Millionen Dollar durch gewagte Transaktionen in Gewinne zu wandeln. Leeson ist total erleichtert und schwört sich, nie wieder Positionen zu verstecken. Doch sein riskantes Spiel geht nicht spurlos an ihm vorbei. Er kaut Fingernägel, stopft unablässig Bonbons in sich hinein und trinkt immer mehr Alkohol. Der Vorsatz hält nicht lange. Schon einen Tag später erliegt er der Verführung von Konto 88888.
Das schwarze Konto 88888
Unterdessen macht er sich in London beliebt, indem er ansehnliche Gewinne ausweist – mehr als ein Fünftel des Gewinns der Gesamtbank. Nur: Der Gegenposten ist ein Verlust auf dem Konto 88888, der Gewinn hat also nie existiert. Um sein Geheimkonto nicht auffliegen zu lassen, muss Leeson Geschäfte frisieren, Gelder umbuchen, Optionen verkaufen und Lügen erzählen. Als Abwicklungskünstler ist er brillant. Bis zum letzten Tag gehen die Londoner Kontrolleure davon aus, dass die hohen offenen Positionen Kunden gehören, für die Barings lediglich handelt. Sie überweisen fast wöchentlich mehr Geld nach Singapur, um die Sicherheitsleistungen für die Terminbörse zu erfüllen. Sie fragen aber nie nach, für welche Kunden sie eigentlich die Millionen überweisen.
Das Ende des Falls Barings ist rasch erzählt: Der holländische Finanzkonzern ING übernimmt die britische Nobeladresse für den symbolischen Preis von einem Pfund. Die Führungsebene wird fast komplett ausgetauscht. Der Name Barings verschwindet im April 2002 endgültig. Nick Leeson wird zu einer tragischen Figur. Im Moment seiner Niederlage erreicht er, wovon er immer geträumt hat: Er ist auf einen Schlag weltberühmt. Seine Flucht endet auf dem Frankfurter Flughafen, wo die Journalistenmeute schon auf ihn wartet. Großbritannien stellt kein Auslieferungsersuchen. London will es vermeiden, den Ruf seines Finanzplatzes durch diesen spektakulären Fall noch weiter zu schädigen. Auch die zuständige Aufsichtsbehörde, die Bank of England, hat keine rechte Lust, ihr eklatantes Versagen allzu ausführlich in der Öffentlichkeit diskutiert zu sehen. Nick Leeson wird in Singapur zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Bald darauf verlässt ihn seine Frau, sein einziger Halt, und heiratet einen erfolgreicheren Händler. Leeson erkrankt an Krebs und wird in der Haft operiert. Als er nach vier Jahren wegen guter Führung vorzeitig entlassen wird, steht er wieder im Mittelpunkt. Er bedient die Sehnsüchte und Klischees der Massen. Der gefallene Starhändler, das Arbeiterkind, das als Sündenbock für die Managementfehler herhalten muss. Leeson kehrt nach England zurück, kämpft gegen seinen Krebs und wird zum gefragten Konferenzredner.
Der Fall Barings wird zum Lehrstück des Finanz- und Risikomanagements. Niemals wurde so eklatant gegen die Vorsichtsprinzipien im Bankgeschäft verstoßen und so offensichtlich. Im September 1993 erklärt Peter Baring zufrieden: „Bei Barings setzte sich die Ansicht durch, dass es eigentlich gar nicht so schrecklich schwer ist, im Wertpapiergeschäft Geld zu machen.“ – Hochmut kommt vor dem Fall.