Von Philip Coggan
Der Boom an den internationalen Aktienmärkten ist schon seit mehr als zwei Jahren vorbei. Doch erst jetzt zeigt die Bullenmarktpsychologie ihr wahres Gesicht - Enron, Worldcom, Xerox.
Die jüngsten Bilanzskandale bei Worldcom und Xerox stellen eine der grundlegenden Annahmen des Bullenmarktes infrage, nämlich, dass die USA auf den internationalen Finanzmärkten als leuchtendes Vorbild gelten, weil sie über die dynamischste Wirtschaft, die innovativsten Unternehmen und die höchsten Bilanzierungsstandards verfügen. Ausländische Investoren waren bereit, das erhebliche Leistungsbilanzdefizit der USA zu finanzieren, da sie an dem großen Boom im Land teilhaben wollten. Doch jetzt müssen sie sich vorkommen wie jene, die Mitte der 90er Jahre in den Schwellenländern investierten - nämlich als Dummköpfe, die in einem falschen Spiel von Insidern über den Tisch gezogen worden sind.
Die Ernüchterung gegenüber den USA hat inzwischen auch auf den Dollar übergegriffen und ihn in Richtung Parität zum Euro katapultiert. Und sie hat zu einer stärkeren Nachfrage nach Gold geführt, dessen Kurs am Tag des Worldcom-Skandals wieder auf über 320 $ pro Unze gestiegen ist. In den 90er Jahren schien der Dollar dem Gold den Rang als sichere Wertanlage abgelaufen zu haben, doch jetzt entdecken Anleger die Vorzüge des edlen Metalls als Krisenwährung wieder.
Flucht in Immobilien
Auch die Privatanleger scheinen ihr Vertrauen in Aktien zu verlieren, auf die sie in den 90er Jahren so bedingungslos gesetzt haben. In den USA und Großbritannien haben die Privatinvestoren wieder Immobilien als sicherste Zuflucht ausgemacht, schwere Verluste hinnehmen mussten dagegen europäische Anleger, die sich an der Umwandlung staatlicher Gesellschaften wie der Deutschen Telekom und France Telecom in privatwirtschaftliche Unternehmen beteiligt haben. Einer Studie von UBS Warburg zufolge erwarten europäische Privatanleger für die nächsten zwölf Monate eine Eigenkapitalverzinsung von lediglich 6,7 Prozent.
Natürlich ist es möglich, dass der derzeitige Niedergang der Aktienkurse ein Spiegelbild massiver Verkäufe ist, die typisch für den Tiefpunkt der Baisse sind. Die Aktienmärkte haben Tiefstände erreicht, wie sie zuletzt nach den Terroranschlägen vom 11. September zu beobachten waren, bevor sie sich jedoch wieder sehr schnell und kräftig erholten.
Unsichere Zeiten, hohe Risiken
"Wenn man sagt, dass in der schwärzesten Stunde der absolute Tiefpunkt erreicht ist, dann sind vor allem die Ereignisse um Worldcom unserer Meinung nach so dunkel, dass bei uns alle Alarmglocken läuten", meinen die Analysten beim britischen Aktienbroker Charles Stanley.
Doch die Zeiten sind unsicher, nicht zuletzt wegen der Art und Weise, in der sich die Weltwirtschaft und das Finanzsystem auf das lang anhaltende Kurshoch eingestellt hatten. Dieses System birgt Gefahren, weil es auf Krediten beruht. Die Aufnahme von Fremdmitteln ist zwar nicht so ausgeprägt wie bei dem amerikanischen Hedgefonds Long-Term Capital Management, der 1998 unterging, doch sie ist stark verbreitet. Die Auswirkungen der Kreditaufnahme zeigen sich insbesondere in den USA, wo die Unternehmen, die in den Jahren des Booms ihre Kapitalbasis erhöhten, jetzt trotz fallender Umsatzerlöse regelmäßig Kapitaldienst zu leisten haben.
Doch dieses Phänomen ist allgegenwärtig. So erwerben etwa Lebensversicherungsgesellschaften Finanzbeteiligungen, um ihren Zahlungsverpflichtungen bei Todesfall oder Versicherungsablauf nachkommen zu können. Aufsichtsbehörden verlangen von den Versicherungen Nachweise darüber, dass sie über genügend Wirtschaftskraft verfügen, um ihren Verpflichtungen erfüllen zu können. Um diesen Nachweis zu erbringen, können Versicherer gezwungen sein, Aktien zu verkaufen und das Kapital in Anleihen zu stecken, da diese weniger schwanken.
Diese Umschichtung kann die Märkte in eine "Todesspirale" treiben, da fallende Kurse die Versicherer zum Verkauf von Aktien zwingen. Dies lässt die Kurse weiter sinken, was wiederum zu weiteren Verkäufen führt.
Unternehmen im kurzfristigen Versicherungsgeschäft gehören ebenfalls zu den Betroffenen. Sie machen normalerweise Verluste durch ihre Emissionstätigkeit, die sie durch Beteiligungsgewinne wieder wettmachen. Doch als die Gewinne sanken, waren die Versicherer gezwungen, die Prämien zu erhöhen, was zu höheren Kosten für die Firmen führte.
Zudem haben Versicherungsgesellschaften einen beträchtlichen Einfluss auf das Geschehen am Aktienmarkt, denn bei steigenden Sorgen über ihre Finanzen fällt automatisch der Kurs ihrer Aktien. Dies erzeugt zusätzlichen Druck auf den gesamten Markt. Das gleiche Problem haben die Banken, die über ihre Handelsaktivitäten von einer schwachen Börse betroffen sind und in ihren klassischen Geschäftsfeldern wie der Vermittlung von Fusionen und Unternehmenskäufen erhebliche Gewinneinbußen erleiden.
Und dann sind da noch die Rentenversicherungen. Unternehmen, die ihren Kunden Renten auf der Grundlage des letzten Gehalts versprochen haben, sind auf Gewinne aus Aktiengeschäften angewiesen, um ihre Verpflichtungen erfüllen zu können. Dies entspricht eigentlich einer Verkaufsoption auf den Aktienmarkt. Wenn die Kurse weiter fallen, müssen die Rentenversicherer eventuell Geld nachschießen, was die Gewinne mindern wird.
Drei Szenarien
Wenn US-Werte weiter an Vertrauen verlieren, kann das entscheidende Folgen für die Wirtschaft haben. Das Land braucht einen Kapitalzufluss von mehr als 1 Mrd. $ pro Tag, um das gegenwärtige Leistungsbilanzdefizit auszugleichen. Auch die USA sind eine kreditfinanzierte Wette eingegangen: Sie haben sich ausländisches Geld in der Annahme geborgt, dass sie es mit hohen Renditen investieren könnten.
Wenn die Anleger nicht mehr bereit sind, das Defizit durch Investition in amerikanische Wertpapiere zu den gegenwärtigen Preisen zu finanzieren, kann eines von drei Szenarien eintreten: Die USA müssen ihre Import-Ausgaben stark einschränken, was den Welthandel treffen würde. Die Fed muss die Zinsen erhöhen, um ausländische Investoren anzulocken, was die US-Wirtschaft bremsen würde. Der Dollar muss so weit fallen, dass US-Wertpapiere wieder attraktiv werden, aber das würde den Deflationsdruck auf Europa und Asien verstärken.
Doch vielleicht kommt es nicht zum Schlimmsten. Wenn die Weltwirtschaft sich weiter erholt, werden auch die Unternehmensgewinne stetig steigen. Das könnte das Vertrauen in amerikanische Werte wiederherstellen und vielleicht dafür sorgen, dass Enron, Worldcom und Xerox von den Investoren nur als unvermeidliche Ausrutscher am Ende eines Bullenmarktes gesehen werden.
Aber selbst bei einer Erholung werden die Märkte und die Konjunktur nicht unverändert bleiben. Die Aufsichtsbehörden sind bereits dabei, die Kontrolle über die Wirtschaftsprüfer und Investmentbanken zu verschärfen. Auch die Unternehmen werden nicht mehr den gleichen Freiraum haben, den sie in den 90er Jahren genießen konnten. Und es wird lange dauern, bis die Anleger wieder in eine so kauffreudige Stimmung verfallen, wie noch vor gut zwei Jahren.
© 2002 Financial Times Deutschland
Der Boom an den internationalen Aktienmärkten ist schon seit mehr als zwei Jahren vorbei. Doch erst jetzt zeigt die Bullenmarktpsychologie ihr wahres Gesicht - Enron, Worldcom, Xerox.
Die jüngsten Bilanzskandale bei Worldcom und Xerox stellen eine der grundlegenden Annahmen des Bullenmarktes infrage, nämlich, dass die USA auf den internationalen Finanzmärkten als leuchtendes Vorbild gelten, weil sie über die dynamischste Wirtschaft, die innovativsten Unternehmen und die höchsten Bilanzierungsstandards verfügen. Ausländische Investoren waren bereit, das erhebliche Leistungsbilanzdefizit der USA zu finanzieren, da sie an dem großen Boom im Land teilhaben wollten. Doch jetzt müssen sie sich vorkommen wie jene, die Mitte der 90er Jahre in den Schwellenländern investierten - nämlich als Dummköpfe, die in einem falschen Spiel von Insidern über den Tisch gezogen worden sind.
Die Ernüchterung gegenüber den USA hat inzwischen auch auf den Dollar übergegriffen und ihn in Richtung Parität zum Euro katapultiert. Und sie hat zu einer stärkeren Nachfrage nach Gold geführt, dessen Kurs am Tag des Worldcom-Skandals wieder auf über 320 $ pro Unze gestiegen ist. In den 90er Jahren schien der Dollar dem Gold den Rang als sichere Wertanlage abgelaufen zu haben, doch jetzt entdecken Anleger die Vorzüge des edlen Metalls als Krisenwährung wieder.
Flucht in Immobilien
Auch die Privatanleger scheinen ihr Vertrauen in Aktien zu verlieren, auf die sie in den 90er Jahren so bedingungslos gesetzt haben. In den USA und Großbritannien haben die Privatinvestoren wieder Immobilien als sicherste Zuflucht ausgemacht, schwere Verluste hinnehmen mussten dagegen europäische Anleger, die sich an der Umwandlung staatlicher Gesellschaften wie der Deutschen Telekom und France Telecom in privatwirtschaftliche Unternehmen beteiligt haben. Einer Studie von UBS Warburg zufolge erwarten europäische Privatanleger für die nächsten zwölf Monate eine Eigenkapitalverzinsung von lediglich 6,7 Prozent.
Natürlich ist es möglich, dass der derzeitige Niedergang der Aktienkurse ein Spiegelbild massiver Verkäufe ist, die typisch für den Tiefpunkt der Baisse sind. Die Aktienmärkte haben Tiefstände erreicht, wie sie zuletzt nach den Terroranschlägen vom 11. September zu beobachten waren, bevor sie sich jedoch wieder sehr schnell und kräftig erholten.
Unsichere Zeiten, hohe Risiken
"Wenn man sagt, dass in der schwärzesten Stunde der absolute Tiefpunkt erreicht ist, dann sind vor allem die Ereignisse um Worldcom unserer Meinung nach so dunkel, dass bei uns alle Alarmglocken läuten", meinen die Analysten beim britischen Aktienbroker Charles Stanley.
Doch die Zeiten sind unsicher, nicht zuletzt wegen der Art und Weise, in der sich die Weltwirtschaft und das Finanzsystem auf das lang anhaltende Kurshoch eingestellt hatten. Dieses System birgt Gefahren, weil es auf Krediten beruht. Die Aufnahme von Fremdmitteln ist zwar nicht so ausgeprägt wie bei dem amerikanischen Hedgefonds Long-Term Capital Management, der 1998 unterging, doch sie ist stark verbreitet. Die Auswirkungen der Kreditaufnahme zeigen sich insbesondere in den USA, wo die Unternehmen, die in den Jahren des Booms ihre Kapitalbasis erhöhten, jetzt trotz fallender Umsatzerlöse regelmäßig Kapitaldienst zu leisten haben.
Doch dieses Phänomen ist allgegenwärtig. So erwerben etwa Lebensversicherungsgesellschaften Finanzbeteiligungen, um ihren Zahlungsverpflichtungen bei Todesfall oder Versicherungsablauf nachkommen zu können. Aufsichtsbehörden verlangen von den Versicherungen Nachweise darüber, dass sie über genügend Wirtschaftskraft verfügen, um ihren Verpflichtungen erfüllen zu können. Um diesen Nachweis zu erbringen, können Versicherer gezwungen sein, Aktien zu verkaufen und das Kapital in Anleihen zu stecken, da diese weniger schwanken.
Diese Umschichtung kann die Märkte in eine "Todesspirale" treiben, da fallende Kurse die Versicherer zum Verkauf von Aktien zwingen. Dies lässt die Kurse weiter sinken, was wiederum zu weiteren Verkäufen führt.
Unternehmen im kurzfristigen Versicherungsgeschäft gehören ebenfalls zu den Betroffenen. Sie machen normalerweise Verluste durch ihre Emissionstätigkeit, die sie durch Beteiligungsgewinne wieder wettmachen. Doch als die Gewinne sanken, waren die Versicherer gezwungen, die Prämien zu erhöhen, was zu höheren Kosten für die Firmen führte.
Zudem haben Versicherungsgesellschaften einen beträchtlichen Einfluss auf das Geschehen am Aktienmarkt, denn bei steigenden Sorgen über ihre Finanzen fällt automatisch der Kurs ihrer Aktien. Dies erzeugt zusätzlichen Druck auf den gesamten Markt. Das gleiche Problem haben die Banken, die über ihre Handelsaktivitäten von einer schwachen Börse betroffen sind und in ihren klassischen Geschäftsfeldern wie der Vermittlung von Fusionen und Unternehmenskäufen erhebliche Gewinneinbußen erleiden.
Und dann sind da noch die Rentenversicherungen. Unternehmen, die ihren Kunden Renten auf der Grundlage des letzten Gehalts versprochen haben, sind auf Gewinne aus Aktiengeschäften angewiesen, um ihre Verpflichtungen erfüllen zu können. Dies entspricht eigentlich einer Verkaufsoption auf den Aktienmarkt. Wenn die Kurse weiter fallen, müssen die Rentenversicherer eventuell Geld nachschießen, was die Gewinne mindern wird.
Drei Szenarien
Wenn US-Werte weiter an Vertrauen verlieren, kann das entscheidende Folgen für die Wirtschaft haben. Das Land braucht einen Kapitalzufluss von mehr als 1 Mrd. $ pro Tag, um das gegenwärtige Leistungsbilanzdefizit auszugleichen. Auch die USA sind eine kreditfinanzierte Wette eingegangen: Sie haben sich ausländisches Geld in der Annahme geborgt, dass sie es mit hohen Renditen investieren könnten.
Wenn die Anleger nicht mehr bereit sind, das Defizit durch Investition in amerikanische Wertpapiere zu den gegenwärtigen Preisen zu finanzieren, kann eines von drei Szenarien eintreten: Die USA müssen ihre Import-Ausgaben stark einschränken, was den Welthandel treffen würde. Die Fed muss die Zinsen erhöhen, um ausländische Investoren anzulocken, was die US-Wirtschaft bremsen würde. Der Dollar muss so weit fallen, dass US-Wertpapiere wieder attraktiv werden, aber das würde den Deflationsdruck auf Europa und Asien verstärken.
Doch vielleicht kommt es nicht zum Schlimmsten. Wenn die Weltwirtschaft sich weiter erholt, werden auch die Unternehmensgewinne stetig steigen. Das könnte das Vertrauen in amerikanische Werte wiederherstellen und vielleicht dafür sorgen, dass Enron, Worldcom und Xerox von den Investoren nur als unvermeidliche Ausrutscher am Ende eines Bullenmarktes gesehen werden.
Aber selbst bei einer Erholung werden die Märkte und die Konjunktur nicht unverändert bleiben. Die Aufsichtsbehörden sind bereits dabei, die Kontrolle über die Wirtschaftsprüfer und Investmentbanken zu verschärfen. Auch die Unternehmen werden nicht mehr den gleichen Freiraum haben, den sie in den 90er Jahren genießen konnten. Und es wird lange dauern, bis die Anleger wieder in eine so kauffreudige Stimmung verfallen, wie noch vor gut zwei Jahren.
© 2002 Financial Times Deutschland