Aus, Alt. Mach neu.

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MaxCohen:

Aus, Alt. Mach neu.

 
13.02.03 22:59

Aus, Alt. Mach neu.

Revolution?
Radikales?
Reformen?
Das Alte lauert nur darauf, dass das Neue sich bewegt.
Erneuern bedeutet permanente Evolution.

Text: Wolf Lotter

1. Missionare
Wolfgang Tiefensee hat gelernt.
     Wer nicht hören will, muss fühlen.
     Das ging nicht von heute auf morgen.
     Im vergangenen Jahr bastelte der SPD-Oberbürgermeister von Leipzig mit gut einem Dutzend Gleichgesinnter in der mittlerweile berühmt-berüchtigten Hartz-Kommission an der Zukunft der Werktätigen bzw. derer, die das so schnell wie möglich wieder werden sollen. Schaut Tiefensee zurück, ist er nach wie vor ergriffen von der „wunderbaren Stimmung, die da herrschte: Aufbruch, Erneuerung, das Wollen, dass sich etwas ändert“. Die Apostel der Arbeitsmarktreform rund um ihren Messias Peter Hartz waren gut drauf: „Es war ganz klar, egal, ob Gewerkschafter oder Unternehmervertreter: Wir wollen das Neue.“ Doch heute weiß Tiefensee, dass die einzige Parallele zur Bibel für den Arbeitsmarkt, wie Hartz das Werk nannte, in einer kurzen, wenngleich charakteristischen Szene des Neuen Testaments liegt: dem letzten Abendmahl.
     Irgendwie fühlt man sich aufs Kreuz gelegt.

     Denn kaum hatte man gut zusammengesessen und sich auf die wahren Werte der neuen Arbeit verständigt, zeigte sich schon, „dass die Mühen der Ebenen halt größer sind als erwartet“ und die „Aufhebung der Besitzstandswahrung eben am Tisch stattgefunden hat. In Deutschland ist der Sinn fürs Ganze leider extrem unterentwickelt“. So findet sich Tiefensee in der Rolle des Apostel Johannes wieder: Aus dem Sonnenschein der Evangelisten wurde ein finsterer Erzähler. Aus optimistischen Parolen wurden düstere Gleichnisse. Was dem alten Apostel seine Apokalypse, ist Tiefensee der aktuelle Bericht der Bundesanstalt für Arbeit: „Wir haben zwar zehn Prozent Arbeitslose, aber das bedeutet auch, dass 90 Prozent Arbeit haben. Das ist wahrscheinlich zu viel, um etwas wirklich Neues durchzukriegen.“
     Tiefensee spricht aus, was die meisten Spitzenpolitiker und Meinungsführer ohnedies denken: Den Leuten geht es zu gut, um radikale Änderungen, das Neue, durchzukriegen.
     Es ist die alte Leier. Wo immer zunächst grundoptimistische Innovatoren bemerken, dass das Neue bei den Menschen eher zäh durchbricht, malen sie die Folgen des Starrsinns dramatisch an die Wand. Was des Apostels Apokalypse, ist Joseph Schumpeters smarter formulierte kreative Zerstörung. Wer nicht hören will, wird fühlen, ist die Grundessenz jeder revolutionären Ansage – und das aus gutem Grund. Wolfgang Tiefensee, der Apostel Johannes, Karl Marx, Che Guevara und Margaret Thatcher haben gelernt: Erst wenn sich der Leidensdruck so weit erhöht, dass die bestehenden Verhältnisse unerträglich sind, frisst der Bauer, was er nicht kennt.
     Das Alte kennt auf die Frage, ob es nicht ein wenig rücken könnte, um dem Neuen Platz zu machen, eine Antwort: nur über meine Leiche.
     Klingt einfach, ist aber schwer. Denn die meisten, die das Neue wollen, sind sich nicht darüber im Klaren, dass sie selbst Teil des Alten sind, an dessen Zerstörung sie herangehen wollen. Wer reinen Tisch machen will, darf nicht zugleich dort sitzen und sich’s gut gehen lassen. Und genau das ist der Fall – bei 90 Prozent der Arbeitsplatzbesitzer genauso wie bei theoretischen Revolutionären, die freilich kleinlaut einknicken, wenn es um die eigene Grundversorgung geht.

2. Schüsse aus der Wagenburg
Oswald Metzger, der ehemalige Haushaltssprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, weiß, wovon die Rede ist. Als er noch vor der Bundestagswahl seinen Hut nahm, weil er den saloppen Umgang mit grauenhaften Budgetzahlen in seiner eigenen Fraktion nicht mittragen mochte und eine neue Sozialpolitik forderte, erntete er hinter den Kulissen des Bundestages jede Menge Zuspruch: „Viele Kollegen, auch aus anderen Fraktionen, haben mir gesagt, wie richtig und gut sie es finden würden, dass ich Konsequenzen ziehe. So wie es ist, könne es ja nicht weitergehen, das war der Tenor.“ Einerseits, andererseits, denn: „Fast jeder hat mir auch gesagt, überleg dir das doch noch mal. Noch vier Jahre, und du kriegst eine anständige Abgeordnetenrente. Mach dir das nicht kaputt.“
     Metzger, ein Agent des Wandels, ging und ist seither zu einem wichtigen öffentlichen Kronzeugen gegen die parlamentarischen Alters-Versorger im Land geworden: „Das Land giert nach ehrlichen Leuten, eine Achse der Erneuerer – und glaubt dem Sozialstaats-Adel einfach nicht mehr.“ So kommt aus dem Bundestag mit seinen mehr als 600 Abgeordneten – „von denen vielleicht 50 wirklich was zu sagen haben“ – nichts weiter als Zustimmung zu Bewährtem, kleinmütige Erhaltungspolitik, keinesfalls ein Umbruch. Wie sollte sich auch jemand, dem das klar ist, gegen sich selbst entscheiden. Das Alte bringt sich nicht um, es belügt nur andere und immer sich selbst.
     Für das Neue sind so gut wie alle, aber: „In unserer Gesellschaft besteht nur vordergründig Einigkeit darüber, dass man innovieren sollte. In aller Regel wird die Innovationsfähigkeit von Individuen, Institutionen und Unternehmen überschätzt, werden Widerstände gegen den Wandel übersehen“, befand der im vergangenen Jahr verstorbene Bochumer Arbeitsökonom und Innovationsforscher Erich Staudt. Wie wahr. Auf der einen Seite, so Staudt, stehen die, die das Neue maßlos überschätzten und die „in ihrem missionarischen Übereifer Widerstände noch verstärken“. Und natürlich ist diese Innovatorenszene, die sich untereinander stets auf die Schulter klopft und sich jedweden Wandel im Land durch sich selbst erklärt, stets enttäuscht, dass sich das Establishment nicht ihren brillanten Ideen zuwendet. Je lauter sie über die Wandlungsunfähigkeit der Gesellschaft herziehen, desto weniger hört die hin. Wer heute, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, Veränderungen und damit das Neue fordert, muss schon laut rufen – und gilt naturgemäß bereits als grundverdächtiger Sektierer. „In saturierten Gesellschaften werden Innovationen, so lange es geht, verschoben und verdrängt. Nichts macht so müde wie der Erfolg vergangener Tage“, sagt Staudt. An die Stelle von Innovationen rückt deshalb in Krisenzeiten zunächst Besitzstandswahrung. Gewerkschaften, Altindustrien und Großorganisationen errichten „Wagenburgen“. Sie richten zwar nichts gegen das Erdbeben des Strukturwandels aus, schaffen aber eine Pattsituation, die es der populistisch an diese Wagenburgen gekoppelten Politik unmöglich macht, die richtigen Rahmenbedingungen für die gesellschaftliche Erneuerung zu setzen.
     Und egal, ob es sich um das künstliche Weiterbeleben einer Industrieregion handelt, um die Verlängerung des Sozialstaates mit allen Mitteln, um das Wehren gegen neue Strukturen und Methoden, nie ist das Alte dessen Promotor, wusste Staudt.
     Reformen sind Staudt zufolge praktisch unmöglich. Das Neue, die Innovation, schrieb er, kommt aus dem Wildwuchs am Rande. Die Gesellschaft, so seine Hoffnung, ist immer innovationsfähiger als das Establisment. Eine erstaunliche Erkenntnis, wo uns doch die Politik seit Jahren immer wieder ermuntert, den neuen Zeiten nicht so griesgrämig gegenüberzustehen. Mehr Ruck.

3. Mangelerkrankungen
Dabei beschwören diese Sonntagsreden nur die Trägheit der eigenen Klasse, der etablierten Politik und ihrer Klienten, der Staatswirtschaft. Niemand hat mehr zu verlieren als sie – während die Gesellschaft sich auch noch anhören muss, sie sei schuld am statischen Zustand der Republik. Das ärgert zuerst, dann lässt es kalt. Die Gesellschaft verändert sich, macht ihr eigenes Ding, der alte Staat löst sich auf. Allmählich und klammheimlich. Es gibt also keine geraden Schnitte. Keinen historischen Stichtag. Nur – Menschen wollen orientiert sein. Sie ordnen ihre Geschichte nach Ereignissen, und die Zukunft wird auf Punkt und Komma geplant. Deshalb fällt es so schwer, das Neue, das schon in der Welt ist, zu begreifen.
     Orientierungslosigkeit ist die häufigste Mangelerkrankung in Zeiten des Wandels. Wie viel Neues können wir vertragen? Wie viel Veränderung des Alten ist nötig? Oder besser gesagt: „Wie viel Köpfchen ist nötig“, wie es Bolko von Oetinger, Senior Vice President der Boston Consulting Group, treffender formuliert: „Sicher, wir leben in verwirrenden Zeiten. Das ist immer so, wenn das Alte und das Neue aufeinander treffen. Das ist – wie Carl von Clausewitz sagte – eben der Nebel des Krieges. Das Alte ist ein Tyrann. Und wir sind genauso: persönliche Tyrannen, die nur dann für das Neue sind, wenn es uns nicht persönlich betrifft.“
     Logisch ist das Warten auf bessere Zeiten und das Festhalten an Vergänglichem nicht. „Deutsche Unternehmen sind nach den Krisen der vergangenen Jahre extrem gut aufgestellt. Sie haben Personal reduziert, sich auf das Wesentliche konzentriert, sind auf das Beste wie das Schlimmste gut vorbereitet“, so von Oetinger. In anderen Staaten, anders gesagt: bei den globalen Mitbewerbern der Bundesrepublik, sieht man das genauso. Triple A für Deutschland, hohe Bewertungen für die Substanz der Wirtschaft – und bei alldem ein großes Staunen darüber, weshalb sich das Land dennoch innen wie gelähmt benimmt.

4. Das Alte als Tyrann
Was die Welt erstaunt – eine trotz großer Probleme im Grunde durchaus für den Wandel gestärkte Volkswirtschaft, die sich aber den Zwängen, die sie wortreich beklagt, offensichtlich nicht entziehen kann – ist nach Ansicht von Oetingers nichts anderes als das psychologische Phänomen des Staus auf der Autobahn ohne Unfall. Nichts scheint mehr zu gehen, alle warten auf den anderen, und ein widersprüchlicher staatlicher Schilderwald trägt zur vollständigen Frustration bei. Die blockierte und sich selbst blockierende Kolonne wird nur durch wirklich Neues, Innovationen, wieder an Geschwindigkeit gewinnen, das heißt, wenn jeder anfängt, ein wenig zu experimentieren, wenn jeder leicht Gas gibt und etwas probiert. Denn die deutschen Unternehmen seien zwar gut vorbereitet, aber „in Situationen höchster Ungewissheit muss man andere Fragen stellen, um das Neue in die Welt zu lassen“. Möglicherweise, so von Oetinger, traut sich bloß niemand nach vorn, weil er auf den Startschuss eines anderen wartet. Es fehlt an Orientierung: „Die Geschichte und die Erfahrung zeigen doch klar, dass die Ersten nicht selten die Letzten sind. Der Mythos vom First Mover, von dem, der zuerst eine Innovation, eine Neuerung, eine gute Idee einbringt, ist falsch.“ Aber das liegt nicht daran, dass der Erste der Dumme ist, weil er von der Nachhut preiswert kopiert werden kann, „sondern weil es meistens an der richtigen Frage fehlt, was in der Psyche des Kunden wirklich als neue Lösung anspricht, was ihn als Neues überhaupt reizt“.
     Brillante Innovatoren wie Alexander Graham Bell stellten sich solche Fragen. Der Mann, der das Telefon unter die Leute brachte, hatte erkannt, dass die zu seiner Zeit übliche Fernkommunikation mit Telegrafen in einem Einwanderungsland wie den USA eine ziemlich halbherzige Lösung war. Die meisten Einwanderer sprachen kein Englisch und konnten auch in ihrer Muttersprache nicht richtig lesen und schreiben. Um ein Telegramm aufgeben zu können, mussten sie aber eine Vorlage an den Telegrafen-Bediensteten in Englisch aufschreiben – oder wenigstens diktieren können. Damit fielen Millionen Einwanderer als Kunden für die Telegrafengesellschaften aus. Daran hatte der deutsche Erfinder Johann Philipp Reis nie gedacht, der sich 1861, 14 Jahre vor Bell, ein Gerät ausdachte, das akustische Signale in elektrische Schwingungen umsetzen konnte – und sich mit dessen Funktion begnügte.
     Das Neue muss nicht nur nützen, sondern das ganze Geschäftsmodell muss stimmen. Und zwar sofort. Genau das trieb den Erfindungs-König Thomas Alva Edison an, der in seiner Innovations-Fabrik Menlo Park bei New York ausschließlich industrielle Innovationen serienreif machte. Edison wusste aber auch, dass es gefährlich war, das mächtige Alte lauthals mit dem cleveren Neuen zu konfrontieren. Neues, wie die von ihm zur Marktreife gebrachte Glühlampe, knobelte er mit den aufstrebenden Stromanbietern aus. Andernfalls hätten ihn die mächtigen Lampenöl- und Gaslicht-Lobbies, die seine Zeit regierten, wohl einfach platt gemacht.
     „Man muss sich dem Tyrannen stellen, aber nicht frontal. Innovationen müssen am Rand gemacht werden, denn der Kern wird sich immer wehren“, sagt von Oetinger. Der Wildwuchs eben. Wildwuchs, etwas, das am Rande gedeiht, ist naturgemäß nicht besonders auffällig. Es ist auch nicht subversiv. Subversion ist eine Selbstinszenierung all jener, die im Grunde von dem Establishment abhängen, das sie scheinbar bekämpfen. Die Wahrheit ist profaner und macht mehr Arbeit: Kooperationen suchen, Verständnis suchen, Leute zusammenbringen, ihnen immer und immer wieder erklären, warum es gut ist, jetzt einen neuen Weg zu gehen. Es sind nicht voranstürmende Revolutionäre, denen so etwas gelingt.
     Und wie bereitet man sich heute, Anfang 2003, darauf vor? Von Oetinger nennt ein paar Richtungen: „Über Szenarien die Geschäftsmodelle grundlegend erneuern und den Geschäftshorizont erweitern; über tiefenpsychologische Forschung den Kundennutzen besser verstehen; nicht nur die Kosten, sondern die Erträge neu betrachten; im Feld experimentieren; Widersprüchliches ausprobieren; leicht in die Offensive gehen – das kann jeder!“

5. Erneuern durch Verbinden
Leicht offensiv, experimentieren, Widersprüchliches wenigstens mal angucken – all das sind Tugenden, bei denen Konservative aller Parteien gern den Arzt holen möchten. Dabei beschreibt der Berater nichts weiter als die Kerneigenschaften jener, die im Industriezeitalter aufbrachen, um neue Welten zu erschließen.
     In den Zeiten der Industrialisierung genossen Prospektoren ein hohes Ansehen. Das waren Fachleute, die nach neuen Rohstofflagern Ausschau hielten und dabei die Grenzen des Bekannten stets überschritten. Die Prospektoren des Neuen sind logische Naturwissenschaftler, die jedem unnötigen Wagnis aus dem Weg gehen und nicht von Sprüchen leben, sondern vom Zusammenbringen der Teile, aus denen das Neue besteht: Menschen und ihre Ideen.
     Jan R. Göpfert und Carl Pawlowsky, die die Münchner Innovations- und Technologieberatung ID Consult führen, sind solche Prospektoren.
     Die Herren gehören zu einer hier zu Lande noch raren Spezies: Innovationsmanagement, das Hantieren mit dem Neuen in Unternehmen, ist eine in Deutschland noch junge Disziplin. In Harvard und am MIT – und beim Münchner Innovations-Professor Stephan Schrader – haben die Wissens-Prospektoren ihr Rüstzeug erhalten.
     Haben die beiden in Zeiten, in denen das Alte überall triumphiert, genug zu tun? „Bei uns jammert keiner. Das können sich unsere Kunden gar nicht leisten. Wer nicht innoviert, der würde heftig an dem Ast sägen, auf dem er sitzt“, sagt Jan Göpfert.
     Dass das Neue – etwa die New Economy – in der letzten Zeit in Misskredit geraten ist, ist für die Innovationsmanager nicht verwunderlich: „Das Tempo war zu hoch. Nicht die Richtung falsch. Aber die Entwicklungszeiten in dem Hype konnte niemand mehr überschauen. Man lernt heute, indem man sich die Dinge ruhiger ansieht, man gewinnt dadurch Effizienz – Schritt für Schritt – sequenziell“, sagt Pawlowsky. „Da kommt einfach mehr dabei raus“, unterstreicht Göpfert, „früher hatte das Neue so ein eigenartiges Etikett: je andersartiger, desto besser. Heute läuft das auf evolutionärer Basis. Einfach nur neu ist Unsinn.“
     Einfach neu. Auf der Suche nach neuen Kontinenten, die den Absatz im boomenden Internet-und Telekom-Land weiter wie verrückt nach oben treiben sollten, verfielen in der Hochzeit des Hypes, um die Jahre 1998/99, die Industrien dem Begriff der „Killer Application“. Dabei handelt es sich nicht einfach um eine normale Neuerung, die evolutionär auf Bestehendem aufbaut – „was bei 99 Prozent aller Innovationen der Fall ist“, wie Göpfert sagt, sondern um einen fundamentalen Bruch, in dessen Sog eine ganz neue Industrie oder Branche hochkommt. Die bekannteste Killer Application ist die eMail. „Echte Innovationsbrüche sind extrem selten“, sagt Pawlowsky, „die normale Innovation ist eine äußerst ruhige Veranstaltung. Und sie braucht diese Ruhe auch.“ Tatsächlich zeigt ein Blick auf die vergangenen Jahre, wie Recht der Innovationsmanager hat. Während alle Welt von den Segnungen des Glasfaserkabels redete und Zigmilliarden Meter in der Erde verbuddelt wurden, um schnelle Datenübertragung zu ermöglichen, bastelten einige Dutzend ruhige Weltverbesserer im schönsten Sinn mit ihren Computern an Softwarestücken, mit denen man bestehende Kupferleitungen besser ausnutzen konnte. DSL ist so eine Technologie, die ganz ruhig kam und zum neuen Standard wurde. Völlig unbeachtet von der großen Computerindustrie, entwickelten in den siebziger Jahren Menschen den Computer der nächsten Generation, so wie Ed Roberts seinen Altair 8800, der 1975 als erster Mikrocomputer zu kaufen war. Bis 1977, als die Welt von ihnen Notiz nahm, hatten Steven Jobs und Stephen Wozniak jahrelang in aller Verschwiegenheit an ihrem persönlichen Computer gearbeitet. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich auch am Milliardenmarkt der Mobilfunkkommunikation. Während UMTS-Lizenzen mangels Anwendungsmöglichkeiten vergammeln, entwickeln Kleinstunternehmen sinnige Software- und Komprimierungsprotokolle, die eine höhere Übertragungsgeschwindigkeit auch bei konventionellen Handys ermöglichen.
     Das Neue lässt sich nicht erzwingen. Kontemplation, Nachdenken, ruhiges Basteln, Versuch und Irrtum sind seine Weggefährten. Die meisten Manager, die so gern Visionäre wären, können damit ihre Existenz nicht legitimieren. Sie träumen von Großem, Ganzem, Handfestem, das keinerlei nebulöse Konturen hat. Im Neusprech des Web-Zeitalters heißt so etwas eben Killer Application.
     Die Milliardenjongleure der UMTS-Technik, Web-Seiten-Barone und Computerhersteller, aber auch ganz traditionelle Anbieter waren geradezu versessen, eine solche Killer Application zu finden. Nicht, dass sie auch nur geahnt hätten, was das ist. Durch einfaches Übersetzen tritt die Wahrheit zu Tage: Mörder-Anwendung. Die Folgen sind bekannt.
     Wer Wunder sucht, wird nichts Neues finden. Die Aufklärung lässt sich nicht besiegen: Wer das Neue will, muss wissen, was er will. Und er muss es, das Allerwichtigste, erklären können. Alles andere sind Wunder.
     Damit handeln Göpfert und Pawlowsky nicht. Für Kunden wie DaimlerChrysler, Bosch-Siemens Hausgeräte führen sie Inventionen, also Erfindungen im eigentlichen Sinn, zu Innovationen, zu verwertbaren, nützlichen Erneuerungen. „Wenn ein Entwicklungsprozess fünf Jahre dauert, dann sind wir ein Jahr dabei, vielleicht auch nur ein halbes. Es geht darum, die Richtung zu bestimmen, Kooperationen zusammenzubringen“, beschreibt Göpfert den Kern der Beratungstätigkeit. Dazu gehört zunächst Geschichtsbewusstsein: „Was war in der Vergangenheit gut, was schlecht. Dann verbinden wir die Vergangenheit und ihre Qualität, die Erfahrung, mit der neuen spinnerten Idee“, sagt Pawlowsky.
     Marketingleute, Entwicklungsingenieure, Computerexperten, Material-Spezialisten, Logistiker, Werbeleute, Programmierer, Produktionsexperten werden dann zu Arbeitsgruppen zusammengebracht. Immer wieder die Übung: Was war gut, wie ist es heute, wie hängen die Dinge zusammen, wie kriegen wir die gute Neuerung, die aus der oder der Abteilung kommt oder noch im Computer als Idee sitzt, in die Welt, in ein Auto zum Beispiel?
     Göpfert und Pawlowsky schaffen also Netzwerke, die einzigen Systeme, in denen Expertenwissen zeitgemäß nach vorn gebracht werden kann. Das Neue ist heute Nischenwissen. Eine kleine, aber möglicherweise entscheidende Verbesserung. Ein Detail und Millionen. Aber alle anderen Nischen-Bewohner müssen verstehen, warum sie sich auch für die Neuerungen aus der Nische Nummer 879561 einsetzen müssen.
     Das erfordert ein hohes Maß an Motivationsfähigkeit, Kommunikations-Organisation und gruppendynamisches Gespür, das die Innovationsmanager aufbringen müssen. Das Problem ist nur: Es gibt, wie in allen Netzwerken, Kompatibilitätsprobleme. „Die Herausforderung besteht darin, Menschen mit völlig unterschiedlichen Sichtweisen, die sich aus ihren Disziplinen ergeben, zueinander hin zu bewegen.“ Im Grunde ist der Innovationsmanager also ein Coach, der sich bemüht, dass alle verstehen, was gerade passiert.
     Spielentscheidend ist, dass in den Innovations-Workshops der ID Consult „aus Expertenwissen, also Detailwissen, allgemein Verstehbares, also Allgemeinwissen wird“, sagt Göpfert. „Jeder muss wissen, was sich für ihn verändert, wenn man ein Detail an einem Produkt ändert.“ Ohne Sinn, ohne Orientierung ist das Neue verloren.

6. Erneuern = orientieren
Einer der wichtigsten Geburtshelfer für das Neue ist der Blick aufs Ganze, und dafür muss vorher das Gestrüpp an alten, eingespielten Klischees beseitigt werden, die die Aussicht über das eigene Terrain hinaus versperren. Jahrzehntelang befand sich etwa das Thema Mobilität in einem solchen Dschungel, in dem es klare Freund-Feind-Bilder gab und in dem sich die beteiligten Parteien kaum bewegen konnten. Die Eisenbahn, so viel stand fest, war der erklärte Feind des Autos und umgekehrt. Man konnte nicht für das eine sein, ohne das andere abzulehnen. Das Ganze hatte die trügerische Sicherheit des Kalten Krieges, in dem klare Feindbilder jede Kooperation ersetzten und eine Scheinsicherheit etablierten. Dogmen, an denen sich die jeweiligen Parteigänger des einen wie des anderen erwärmen konnten. Dies war das Zeitalter der Unbeweglichkeit. Als im Herbst 1989 die Mauern und Eisernen Vorhänge zwischen Ost und West brachen, war die Welt auf beiden Seiten nicht darauf vorbereitet, künftig mit- und nicht gegeneinander zu leben. Mehr oder weniger friedliche Koexistenz – unter Beibehaltung der alten Feind- und Freundbilder – reichte nicht länger aus. Nicht anders verhält es sich bei den alten, scheinbaren Gegensätzen Auto und Zug. Wer zum Beispiel Mobilität neu denken will, muss die Vernetzung, die Kooperation fordern. Das Neue fällt schließlich nicht einfach auf die Welt, sondern besteht aus Erfahrungswissen, bewährten Strategien und Techniken, die nochmals optimiert werden – also einer Verbindung von Altem und Neuem.
     Wo alte Gräben sind, muss so zuweilen von Grund auf neu gebaut werden. Ein Beispiel, wie das geht, liefert die „Allianz für Mobilität“, in der BMW, die Deutsche Bahn, die Deutsche Lufthansa und die MAN AG darangehen, die scheinbar unversöhnlichen Feinde Auto, Flugzeug und Eisenbahn zu verbinden.
     Die Fakten sind klar: In den nächsten Jahrzehnten wird es, allen Beschwichtigungen einiger Politiker zum Trotz, mehr Mobilität geben. Nur kluges Miteinander, Kooperation und Vernetzung sind dann in der Lage, uns vor dem Verkehrs- und Logistik-Kollaps zu bewahren, der gleichsam auch ein Zusammenbruch unserer Volkswirtschaft sein muss. Mobilität ist das Rückgrat unserer Zivilisation, unserer Ökonomie, unseres Denkens. Solche Einsichten sorgen für Bewegung:
     „Wir können uns ein Gegeneinander nicht leisten, aber wir wollen es uns auch nicht leisten“, sagt der BMW-Vorstandsvorsitzende Helmut Panke: „Die Menschen nehmen unsere gemeinsame Aktion positiv auf. Die bisherigen Verhaltensweisen reichen nicht aus, um Mobilität so weiterzuentwickeln, wie wir das brauchen. Wir wissen, dass wir vor allem einmal auch an unserer geistigen Mobilität arbeiten müssen.“
     Sicher: Gegen Staus, Verspätungen, lästiges Parkplatzsuchen sind alle. Das zeitraubende Suchen nach den richtigen Verkehrsmitteln bei einer Reise nervt jeden. Denn noch gibt es kaum kluge vernetzte Information, wie man einen Teil der Strecke optimal auf der Schiene, dann wieder mit dem Auto und dem Flugzeug zurücklegt.
     Im Projekt ziehen jetzt vier bedeutende Unternehmen an einem Strang. Es soll möglich sein, was Verkehrsforscher unter der Bezeichnung Intermodalität als einzige vernünftige Lösung des Mobilitäts-Dilemmas herausgefiltert haben: Zusammenarbeit und Vernetzung. Das Spannende an diesem Prozess ist vor allem auch, was es in den Köpfen der Beteiligten ändert: „Was wir hier vorhaben, ist ein gutes Bild dafür, was in der ganzen Gesellschaft stattfinden wird“, sagt Panke, „und dazu müssen wir alle über gelernte Muster hinausgehen, so schwer es auch fallen mag.“
     Alle Partner im Projekt sind sich zunächst darüber im Klaren, dass eine gemeinsame mobile Zukunft nur stattfindet, wenn die Infrastruktur aller drei Verkehrsträger funktioniert. Das wird allerdings nicht mehr im branchen- oder tagespolitischen Hickhack gegeneinander erledigt – Schiene gegen Autobahn, Flugzeug gegen ICE und Ähnliches –, sondern gemeinsam. „Das ist die Grundlage. Der Erhalt der Struktur muss mitgedacht werden, sonst kocht jeder weiterhin sein eigenes Süppchen.“ Ist das Neue als Ziel erst mal definiert und im Kopf verankert, erweist es sich als vorteilhaft, es nicht als Last zu begreifen: „Wir sehen das als Aufgabe, als etwas, das wir erledigen können, wenn wir wollen, nicht als Problem.“ Das Wort Problem, sagt Panke, „das mag ich nicht besonders“.
     Und, als dritter Schritt, muss das Neue, das Verbinden bewährter Technologien zu einem Großen, Ganzen und Besseren unter die Leute gebracht werden, sagt Panke: „Die Menschen sind für Veränderungen bereit, wenn sie den Sinn dahinter erkennen – das ist der wesentlichste Punkt: Wer erneuern will, muss orientieren.“
     Das sind recht klare und sinnvolle Ingredienzen für das Neue. Erstens: das Erkennen, dass komplexe Probleme Partnerschaften brauchen, Netzwerke und Kooperationen. Zweitens: die Grundlagen jedes einzelnen Beteiligten verstehen und akzeptieren. Drittens: die Stärken aller zu einem noch stärkeren, leistungsfähigeren System verbinden. Und über allem: der Wille, das Bestehende zu verbessern. Dann kann das Neue ruhig kommen. -----|

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