Die Jobs-Maschine
Von Christoph Drösser und Götz Hamann
Musik verkaufen übers Internet? Geht nicht, glaubten die Manager. Jetzt beweist Apple-Chef Steve Jobs das Gegenteil. Sein Modell könnte die angeschlagene Plattenindustrie retten
Es war eine Anklage, die als Hilferuf gelesen werden muss. Als Hilferuf der Musikindustrie an ihre Kunden. Als Hilferuf an die ganze Welt.
Die größten Musikkonzerne, von Universal bis Sony, haben im April vier amerikanische Studenten auf 98 Milliarden Dollar Schadenersatz verklagt. Einer von ihnen ist Daniel Peng. Unter dem Aktenzeichen 03-1441(SRC) wurde ihm vorgeworfen, er habe „ein universitäres Computernetz in seine Gewalt gebracht“. Tatsächlich hatte Peng eine kleine Suchmaschine entwickelt, die anzeigte, auf welchen Rechnern der Universität Princeton die Musik von Christina Aguilera, Madonna und anderen Sängern gespeichert war. Jeder auf dem Campus konnte mühelos auf die Titel zugreifen und sie kopieren. Tausendfach. Illegal.
Orten. Speichern. Anhören. Das ist für immer mehr Menschen die zeitgemäße Form, Musik zu konsumieren. Die Musikmanager suchten ein Patentrezept, wie man damit Geld verdienen kann, doch sie fanden keines. Das Ende der Industrie schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein.
Bis vor zwei Wochen. Da stellte Steve Jobs, Chef der Computerfirma Apple, seinen iTunes Music Store vor, ein legales Online-Angebot. Und gleich in der ersten Woche verkaufte er eine Million Musikstücke. Die Verkaufszahlen bekommen noch mehr Gewicht, bedenkt man, dass derzeit nur die etwa drei Millionen amerikanischen Apple-Besitzer, die mit dem neuesten Betriebssystem arbeiten, auf den Music Store zugreifen können. Vieles spricht dafür, dass Steve Jobs das Musik-Vertriebsmodell des 21. Jahrhunderts gefunden hat.
In Apples Musikladen finden Surfer die Musik der fünf größten Musikfirmen. Für 99 US-Cent pro Song oder 9,99 Dollar pro Album – die Musikkonzerne erhalten zwei Drittel dieses Geldes – können die Fans aus derzeit gut 200000 Stücken wählen und jedes Lied vor dem Kauf 30 Sekunden kostenlos anhören. Der Kunde registriert sich mit seiner EMail-Adresse, gibt einmal die Daten seiner Kreditkarte ein und kauft fortan mit einem Mausklick. „Der Dienst ist simpel und funktioniert absolut intuitiv“, lobt Tim Renner, der Chef der deutschen Tochtergesellschaft des Weltmarktführers Universal. Die gekauften Stücke reiht man in seine Musiksammlung auf dem Computer ein und kann sie beliebig mit anderen (legal oder illegal kopierten) Songs kombinieren und auf CD brennen oder auch auf den iPod, Apples tragbares Abspielgerät, überspielen.
Computer, Programme, Musikdateien und Abspielgerät von einem Hersteller: Jobs nennt es das „erste wirklich vollständige Ökosystem für das digitale Musikzeitalter“. Hinzu kommt, dass Apple in den USA nur einen Marktanteil von fünf Prozent hält, weltweit sind es sogar nur drei Prozent. Genau das hatten die Musikkonzerne gesucht: einen überschaubaren Markt zum Experimentieren. Derzeit arbeitet Apple daran, sein Modell in diesem Jahr noch auf Europa zu übertragen.
Nichts fürchten die Manager mehr, als die Kontrolle darüber zu verlieren, wer zu welchem Preis Musik hören darf. Das ist der Kern ihres traditionellen Geschäftsmodells. Wohin dieser Anspruch führen kann, zeigen zwei Prozesse aus den vergangenen Jahren. Sowohl die US-Wettbewerbsbehörde als auch 40 Bundesstaaten haben den größten Plattenkonzernen vorgeworfen, sie hätten ein Kartell gebildet und die Preise für CDs nach oben getrieben. Um die Sache schnell aus der Welt zu schaffen, haben die Unternehmen in beiden Fällen einen Vergleich geschlossen und hohe Geldbußen akzeptiert – im zweiten Fall betrug die Strafe 143 Millionen Dollar.
Eine Absprache untereinander ist einfach, weil die amerikanischen Firmen Universal und Warner, die britische EMI, die japanische Sony Music und die deutsche Bertelsmann Music Group (BMG) gemeinsam rund 80 Prozent des Weltmarktes beherrschen. Dieses klassische Oligopol könnte noch kleiner werden, wenn aus den aktuellen Gesprächen zwischen BMG und Warner in den kommenden Wochen eine Fusion wird.
Der Zusammenschluss würde die Unternehmen in der digitalen Welt allerdings keinen Schritt weiterbringen. Wenn Fans ihre Musik selbst kopieren und verbreiten – was bleibt dann für die Industrie zu tun? Und was nutzt dann schiere Größe? Aus dieser Identitätskrise erklärt sich vieles. Der vergebliche Versuch etwa, in der aktuellen Urheberrechtsnovelle das private Kopieren in Deutschland grundsätzlich zu verbieten. Oder auch die bisherige Strategie der Konzerne fürs Internet.
Am liebsten würde die Industrie den Musikliebhaber jedes Mal zur Kasse bitten, wenn er ein Musikstück hört. Aber ein digitaler Vertrieb, der auf Akzeptanz stoßen will, muss Kunden gewinnen, die seit Jahrzehnten daran gewöhnt sind, Musik auf Tonband, Kassette und zuletzt CD zu kopieren. Unter dem Namen Digital Rights Management (DRM) fassen die Hersteller ihre Methoden zusammen, die mit technischen Mitteln regeln, was ein Nutzer mit der von ihm gekauften Musik tun darf und was nicht. Die ersten legalen Musikangebote im Internet folgten dem Sicherheitsbedürfnis der Konzerne weitgehend – und reihten einen Misserfolg an den anderen. Weder MusicNet noch Pressplay noch Rhapsody zogen die Surfer in Massen an. Deswegen konnte Steve Jobs die Konzerne zu einem recht liberalen DRM-Konzept überreden, das er bald auch auf die Computer der Windows-Welt übertragen möchte.
Beim iTunes Music Store bereitet das Kopieren auf den Zweit-PC oder Laptop keine Probleme. Will man das Musikstück aber auf diesem Rechner anhören, bemerkt man den Unterschied zu den frei kopierbaren Dateien: Die Apple-Songs sind nach einem anderen Verfahren kodiert, das zu einem neuen Industriestandard gehört. Eine solche Datei „weiß“, von welchem Nutzer sie gekauft wurde, und fordert auf jedem Computer erneut eine Autorisierung. Die wird mit Apples zentralem Server abgeglichen – und nach dem dritten Rechner ist Schluss. Selbst wenn die Datei also übers Netz an Millionen User in aller Welt verteilt würde, könnten diese damit nichts anfangen. Selbstverständlich zielt die Limitierung auf Tauschbörsen im Internet wie Kazaa und Gnutella, die der Musikindustrie zusetzen.
Gleichzeitig gibt es einen recht einfachen Weg, den Kopierschutz von Apple zu umgehen: Man brennt den Song auf eine Musik-CD und liest ihn dann wieder als MP3-Datei ein. Schon ist der Schutz verschwunden. Das zuzugeben, tut sich Apple leicht, denn durch dieses mehrfache Kodieren leidet die Klangqualität – bei harten Rockstücken ist das weniger ein Problem als bei filigraner klassischer Musik. Weil Kopieren eben doch geht, sehen Branchenvertreter das Apple-Angebot mit gemischten Gefühlen. Gerd Gebhardt, Vorsitzender des deutschen Phonoverbands, nennt es „einen guten Kompromiss. Und dieses Wort besagt ja, dass es kein Optimum ist.“ Thomas Hesse von der Bertelsmann Music Group drückt die ambivalente Haltung so aus: „Der Vertrag mit Apple ist befristet. Man muss im ersten Jahr sehen, wie erfolgreich der Music Store ist und wie die Käufer später mit den Stücken umgehen.“ Auf mittlere Sicht müsse man die Lücken im Kopierschutz schließen. Ganz auf dieser Linie liegt das noch unter Verschluss gehaltene Online-Projekt der deutschen Musikbranche, das sie gemeinsam mit Siemens sowie der Deutschen Telekom entwickelt und in zwei Monaten ins Netz bringen will.
Während sich die Unternehmen also an den unterschiedlichen DRM-Systemen abarbeiten, ebbt die Schwarzbrennerwelle nicht ab. Jeder vierte Deutsche hat sich im vergangenen Jahr mindestens eine Musik-CD gebrannt, wie das Marktforschungsunternehmen GfK ermittelt hat. „Die Deutschen sind die Avantgarde des Problems“, sagt Tim Renner von Universal. „Wir haben mehr CD-Brenner pro Einwohner als alle anderen Länder auf der Welt.“ Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass der globale Branchenumsatz vergangenes Jahr um sieben Prozent auf 32 Milliarden Dollar gefallen ist.
Das allgemeine Unrechtsbewusstsein ist entweder nicht vorhanden oder vergleichbar mit dem, das man beim Überqueren einer roten Ampel zu nächtlicher Stunde hat. Auch Daniel Peng, der US-Student, der mit drei anderen Kommilitonen auf 98 Milliarden Dollar verklagt wurde, zeigt keine Reue. Ihm sei nicht bewusst, dass er „etwas Illegales gemacht“ habe, sagt er lakonisch. Inzwischen hat er sich mit den Konzernen verglichen und soll 15000 Dollar Buße zahlen. Aber nicht einmal diese Summe muss er allein aufbringen. Denn aus Solidarität haben ihm mehr als 100 Surfer insgesamt rund 1300 Dollar gespendet.
Die Philosophie für das digitale Laisser-faire formulieren Initiativen wie Rettet die Privatkopie. Eine der Gründerinnen, Jeanette Hofmann, sagt zum Apple-Angebot: „Auf den ersten Blick sieht das wunderbar aus.“ Aber dass der Nutzer seine Daten bei Apple hinterlegen und jeden Rechner, auf dem er die Musik spielen wolle, dort anmelden müsse, bereite ihr Unbehagen. „Ich möchte Apple nicht die Kontrolle über meine Festplatte geben.“ Es geht ums Prinzip. Die Aktivisten argumentieren, das Kopieren und Manipulieren von Dateien sei Teil der Computertechnik und jede Beschränkung komme dem Versuch gleich, das Internet abzuschaffen, wie es einmal gedacht war.
Kein Bezahlangebot wird die Vertreter dieser radikalen Position je erreichen. Weil die Industrie das nicht akzeptieren will, versucht sie die Tauschbörsen juristisch zu bekämpfen und zu torpedieren. Manchmal liefert sie sich auch bizarr anmutende Scharmützel mit den Kopierfreaks. „What the fuck do you think you are doing?“, schallte es Fans entgegen, die einen Titel des neuen Madonna-Albums American Life aus dem Netz zogen – „Was, zum Teufel, denkst du dir eigentlich?“. Andere glaubten, das richtige Lied kopiert zu haben, mussten aber bei näherem Hinhören feststellen, dass der Track nur den Refrain als ewig wiederholte Schleife enthielt. Solche Störmanöver haben Methode: Es gibt inzwischen einige Firmen, die im Dienst der Musikindustrie gezielt fehlerhafte Dateien in die Tauschbörsen einschleusen. „Alle Musikschaffenden – Industrie, Handel, Künstler, Produzenten und Labels – haben ein Interesse daran, dass das illegale Kopieren und Downloaden nicht mehr so viel Spaß macht.“ So rechtfertigt Carl Mahlmann, der bei EMI für die neuen Medien zuständig ist, die Sabotagetaktik, wenn er auch die gezielte Verbreitung von Computerviren ablehnt.
Die Erfahrung aus der Computergeschichte zeigt allerdings, dass niemand gewiefte Hacker und Cracker aufhalten kann – und es immer eine halblegale Grauzone im Internet geben wird. Dieneuen Online-Plattenläden nach Apples Vorbild werden das illegale Kopieren auch nicht unterbinden. Aber sie bieten zumindest für diejenigen eine Alternative, die für einzelne Stücke oder ganze Alben bezahlen wollen – oder denen es schlicht zu lästig ist, einen halben Nachmittag mit der Suche nach einem bestimmten Lied zu verbringen, um dann doch eine unvollständige, dumpf klingende oder mit Viren verwanzte Version zu ergattern.
Kampf aus schwacher Position
Die Unternehmen ringen um die zahlungswilligen Musikfans aus einer Position der Schwäche. Insbesondere die jugendlichen Fans haben in den vergangenen Jahren ein neues Verhältnis zur Musik entwickelt. Sie seien „flexible Drifter“, sagt Freizeitforscher Horst Opaschowski vom BAT-Institut, und blieben nicht über Jahre einem Hobby treu. Neben die Musik sind neue Sportarten oder das Handy getreten. Eine CD-Sammlung ist nurmehr selten Ausdruck eines dauerhaften Lebensgefühls oder sogar Schlüssel zu einer Biografie. Tim Renner von Universal Music nennt es aus seiner Perspektive eine „Krise der Popkultur“.
Weniger Stars und kürzere Halbwertzeiten: Der Chef der deutschen Bertelsmann Music Group, Thomas Stein, will darauf reagieren, indem er die Künstler wieder „auf Tour“ schickt. „Sie müssen mehr Live-Auftritte machen, präsent sein.“ Aber allein damit werden aktuelle Lieder und Musiker nicht wieder eine Aura bekommen, wie sie Satisfaction und die Rolling Stones seit dem Jahr 1965 entfaltet haben. Denn welche Bedeutung haben die neuen Alben selbst von Superstars wie Madonna oder Eminem für die Lebenswelt ihrer Hörer? Ist vielleicht ihr Körperschmuck stilbildender als ihre Musik?
„Endlich kriegt es einer hin“
In dieser Situation weckt ausgerechnet der Chef einer Computerfirma in der Musikbranche neue Hoffnung. „Er nimmt als Erster einige Millionen Dollar fürs Marketing in die Hand“, sagt BMG-Manager Hesse. Außerdem ist Steve Jobs selbst eine Art Popstar, und seine Produkte mit dem Apfel-Logo sind coole Accessoires für den „digitalen Lebensstil“. Der Premiere des Music Store ging eine persönliche Überzeugungsarbeit durch Jobs voraus. Er sprach mit Branchengrößen wie dem Rapper Dr. Dre, der Stars wie Eminem produziert, und entlockte ihm ein: „Mann, endlich hat es jemand mal richtig hingekriegt.“ Auch den U2-Sänger Bono umwarb Jobs, sogar die Gruppe Eagles überredete er, ihre alten Hits wie Hotel California erstmals im Netz anzubieten. Solche öffentlichkeitswirksamen Deals waren wichtig – für die Fans und für die Branche. Denn im Prinzip kann jeder Künstler die Online-Veröffentlichung seiner Werke untersagen.
So könnte Steve Jobs am Ende helfen, die Musikindustrie zu retten. Er, der Avantgardist der Computerwelt, hat privat einen eher konservativen Musikgeschmack. Seine Idole sind neben Bob Dylan die Beatles und die Rolling Stones.
Aber gerade die beiden Superbands fehlen noch im Angebot des Apple-Store.
Quelle: Die Zeit