Das Gespräch
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"Würden wir auch die Bahamas bombardieren?"
Umberto Eco über Kriege, Kreuzzüge und das Ende der Wolkenkratzer.
Der gewichtige Mann sinkt mit einem Seufzer in den Sessel, zur Ruhe kommt er dort nicht. Seine Schuhe trommeln nervös aufs Parkett - als versuchte er, im Sitzen einen Stepp-Tanz vorzuführen. Noch bevor am Montag die erste Frage gestellt wird, weiß Umberto Eco schon eine Antwort: "New York! Alle reden nur noch über New York. Was soll ich dazu sagen? Ich bin doch kein Orakel." Während Eco so spricht, leuchten seine Augen herausfordernd. Hinter dieser Bescheidenheit versteckt sich doch eine leise Koketterie. Oder nicht? Ganz sicher darf man bei diesem verspielten Rhetoriker sowieso nie sein. Der 69-jährige Norditaliener zählt zu den führenden Intellektuellen Europas. Die Themen-Palette seiner Essays reicht von Derrick bis zum Kosovo-Krieg. Jetzt war er nach Deutschland gekommen, um aus seinem neuen Roman Baudolino vorzulesen, der seit Wochen die Bestseller-Listen anführt. Wie im Namen der Rose, seinem bisher erfolgreichsten Buch, kehrt Eco mit diesem Schelmenroman ins Mittelalter zurück. Er schildert die Abenteuer des Bauernsohnes Baudolino, der von Kaiser Barbarossa adoptiert und mit auf seine Kreuzzüge genommen wird. Dass auch in diesen Tagen wieder Kreuzzüge beschworen werden, sieht der Sprach-Philosoph mit Hang zur Ironie dann doch voller Sorge. "Wenn wir einen Kreuzzug gegen die Moslems ausrufen, wird das die Welt in den Zustand eines permanenten Krieges versetzen." Das Interview führten Roman Arens, Barbara Mauersberg und Martin Scholz.
Signor Eco, waren Sie jemals auf dem Dach des World Trade Centers?
Ja, aber nur einmal. Ich mochte die Zwillings-Türme nicht. Ich hatte immer den Eindruck, sie verschandeln die Skyline von Manhattan. Seit die Türme zerstört sind, darf man das ja nicht mehr denken. Also sage ich: Ich mochte sie nicht, aber es wäre mir lieber, wenn sie noch da wären. Gut, aber ein einziges Mal war ich doch oben. Immer wenn ich reise, steuere ich sofort die Lieblingsorte der Touristen an. Ich bin mit meinen Kindern hochgefahren, als wir zum ersten Mal zusammen in New York waren. Ich wollte, dass sie die Stadt vom höchsten Punkt aus sehen. Mein Sohn hat später zehn Jahre in New York gelebt. Von seinem Apartment im Greenwich Village sah man direkt auf die beiden Türme.
Wo haben Sie von dem Anschlag erfahren?
Ich saß in der Universität in Bologna und korrigierte einige Examensarbeiten, als ein Kollege hereinstürzte und es mir erzählte. New York war schon immer eine der beiden Städte, in denen ich mir vorstellen könnte zu leben. Die andere ist Paris. In New York hätte ich nie Heimweh, ich liebe diese Stadt. Die Architektur von New York gab mir immer das Gefühl, in einer steinernen Jam-Session zu leben. Improvisation und Zufall erzeugen Ordnung und Harmonie. Diese Skyline hatte Momente absoluter Schönheit.
Sie sprechen in der Vergangenheit?
Nach dem Anschlag ist nichts mehr, wie es war: Das ist in den letzten Tage oft gesagt worden. Und es beschreibt vor allem die menschliche Tragödie und die politische Dimension. Aber vielleicht sind die Folgen noch sichtbarer: Wir verlieren ein Stück moderner Architektur.
Jetzt tut es Ihnen doch um die Türme leid?
Ich meine das viel grundsätzlicher: Vielleicht ist das Ende der Wolkenkratzer gekommen. Die einstürzenden Türme haben die Psyche der Menschen tief verwundet. Die Türme sind jetzt nicht mehr starke Symbole der Macht, aufragende Kathedralen des Kapitals. Sie sind verwundbare Riesen, Giganten auf Krähen-Füßen. Es wäre durchaus möglich, dass Architekten künftig keine Wolkenkratzer mehr bauen, weil die Menschen keine Lust haben, zwischen solchen Türmen zu leben. Das Pentagon hat die Angriffe überstanden, weil es ein flacher Bau ist. Statt einen neuen Wolkenkratzer zu bauen, könnte Mr. Trump demnächst ein großes Gelände in Oklahoma kaufen, um dort riesige flache Gebäude zu bauen. Die Tradition der amerikanischen Downtowns wäre damit am Ende. Die neuen Symbole der Macht sind dann horizontale, nicht mehr vertikale Bauten. Die Landschaft der Städte würde sich verändern und mit ihr das soziale Leben.
Auch die Sprache verändert sich gerade. Welche Bedeutung gewinnt der Begriff "Krieg" in diesen Tagen?
Das Konzept von Krieg verändert sich schon seit einigen Jahren. Der Golf-Krieg war der erste in der Geschichte der Menschheit, der nicht begonnen wurde, um den Feind zu vernichten. Vor dem Hintergrund der traditionellen Kriegs-Logik eigentlich ein verrückter Gedanke: Du ziehst in den Krieg, aber du willst keinen einzigen Soldaten verlieren und soweit wie möglich das Leben anderer Menschen schonen.
Dann folgten die Kriege in Ex-Jugoslawien, Bomben auf Belgrad aus "humanitären Gründen". Das passt zu Ihrem Golf-Kriegs Konzept von Krieg. Aber jetzt?
Nach dem Angriff auf die USA hat sich der Begriff noch einmal verändert. In einem Krieg kann man den Feind gewöhnlich mit der Drohung erschrecken, dass man ihn töten will. Aber jetzt haben wir es mit Leuten zu tun, die sich selbst umbringen. Was will man da machen? Das System der Strafen und Bestrafungen hat sich ebenfalls verändert. Bis zum 11. September war Amerika noch davon überzeugt, dass die Todesstrafe ein Abschreckungs-Potenzial hatte. Aber wie will man damit Leute abschrecken, die sich mit einem Flugzeug in ein Hochhaus stürzen? Und wenn dies ein Krieg ist, richtet er sich weder gegen einen konkreten Feind, auch nicht gegen ein Territorium. Das verändert auch die Definition einer Armee. Selbst die Generäle sind in dieser Tagen nicht mehr so sicher, welche Aufgabe eine Armee hat.
Das Begriffs-Spektrum ist breit: US-Präsident Bush sagte, die USA befinden sich "im Krieg". Der deutsche Kanzler Gerhard Schröder spricht vorsichtiger von einer "Kriegserklärung gegen die westliche Welt", der französische Premier Lionel Jospin will es nicht "Krieg" nennen und Italiens Silvio Berlusconi stimmt mit den Amerikanern überein. Welcher Begriff ist der richtige?
Das kommt auf Ihre Interessen an. Ein Beispiel: Ich habe gehört, dass die Türme des World Trade Centers mit Milliarden von Dollar gegen terroristische Anschläge versichert sind - aber nicht gegen einen Krieg. Die Besitzer der Türme haben jetzt sicher kein Interesse daran, von einem Krieg zu sprechen. Die Wortwahl ändert natürlich an den grauenhaften Ereignissen gar nichts - ganz gleich, ob man den Angriff als Krieg, Terrorismus oder Rückfall in die Barbarei wertet. Natürlich müssen die Nato-Staaten derzeit intensiv über die juristische Definition von "Krieg" und "Angriff" diskutieren. Wenn die Terroristen aus Deutschland gekommen wären...
Einige der mutmaßlichen Attentäter haben in Deutschland studiert.
Ich weiß. Dennoch würde jetzt niemand einen Angriff der USA auf Deutschland befürchten. Derzeit können wir einen sehr subtilen "Krieg der Sprache" beobachten, der aber Taten nach sich ziehen kann. Wir sind an einem Wendepunkt, es geht darum, die Regeln für die Zukunft zu definieren. Was besagt die Genfer Konvention mit ihrer Definition von Krieg heute noch?
Benutzen Sie das Wort "Krieg"?
Es ist eine Art Krieg, ein "nicht erklärter Krieg". Sie erkennen es daran, dass unser aller Leben auf den Kopf gestellt ist.
Wie äußert sich das bei Ihnen?
Als ich heute morgen in Wien ins Flugzeug stieg, saß neben mir ein Gentleman, der wie ein Araber aussah - schwarze Haare, langer Bart. Für einen Moment starrte ich ihn an und war perplex. Aber da ich schließlich Philosoph und Demokrat bin, sagte ich mir: "Die Welt ist voller anständiger arabischer Menschen." Dann bin ich entspannt in meinem Sitz versunken und eingeschlafen. Es war nur ein flüchtiger Gedanke, der mich kurz aufschreckte. Aber immerhin: Der Anschlag in Amerika hatte mein Verhalten auf dem Flug von Wien nach Köln - wenn auch nur für einen kurzen Augenblick - verändert.
Wie hat denn der Araber auf Ihren starren Blick reagiert? Er dachte bestimmt, dass Sie jetzt denken, dass er jetzt gerade denkt, dass Sie jetzt denken, dass er wie ein Araber aussieht.
So genau weiß ich das nicht. Ich kann ja nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, Leute um mich herum misstrauisch zu betrachten. Aber Sie haben schon Recht, es ist eine Sache von Gegenseitigkeit: Am Flughafen von Mailand sah ich eine Gruppe von Frauen im Tschador. Sie hielten sich bewusst fern von größeren Menschenmengen. Mir schien es, als ob sie sich beobachtet fühlten. Unser Umgang miteinander hat sich verändert.
Haben Sie im Flugzeug auch an Osama bin Laden gedacht?
Wenn ich an bin Laden denke, stelle ich mir eine ganz andere Frage. Warum ist er eigentlich so reich? Weil er Öl verkauft. Aber an wen? An die Taliban? Nein. Er verkauft es an die gesamte westliche Welt. Hortet er sein Geld in einer Höhle in Afghanistan? Nein. Wohl eher in Zürich, in London, auf den Bahamas, den Cayman Inseln - oder vielleicht sogar im World Trade Center. Würden wir deshalb die Bahamas bombardieren, weil sie wahrscheinlich mit bin Laden zusammengearbeitet haben? Das geht natürlich nicht. Dennoch: Es ist klar, dass bin Laden nur mit Hilfe des Westens so reich geworden ist. Nun bringe ich mein Geld auch zur Bank. Vielleicht entdecke ich morgen, dass ich mit einem Teil meines Geldes bin Laden finanziere, weil meine Bank mit ihm Geschäfte macht. Dann wäre ich in der sehr absurden Situation, bin Laden unterstützt zu haben.
Während des Golfkriegs haben Sie in einem Essay vor einem Rachefeldzug gewarnt: Sie schreiben: "Wenn dich einer mit einem Messer angreift, hast du das Recht, zumindest mit einer Faust zu antworten; aber wenn du Supermann bist und weißt, dass du den Gegner mit einem Faustschlag auf den Mond befördern kannst, dass der Schock unseren Planeten zerbröckeln lässt - dann überleg's dir bitte noch einmal."
Ich bin kein Moralist, ich bin Realist: Das Problem ist nicht so sehr, ob die USA oder die Nato Gerechtigkeit üben, wenn sie bei einem Militärschlag unschuldige Menschen töten. Das Problem ist, sogar Bush weiß es, dass sie mit einem Militärschlag weitere mögliche terroristische Gegenschläge wie die in New York und Washington provozieren können. Die Amerikaner könnten sagen: "Okay, lasst uns Mekka bombardieren! Wenn ihr nicht an Eurer heiligen Stätte angegriffen werden wollt, helft uns." Aber wenn sie Mekka bombardierten, käme das einer allgemeinen Kriegserklärung an alle Moslems gleich.
Der Papst warnt vor einem Racheakt. Aber ist der nicht zwangsläufig, wenn das Opfer zugleich auch Richter ist?
Es gibt einen Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Vergeltung. Wenn es zutrifft, dass bin Laden für diese Anschläge verantwortlich ist - wozu ich auch tendiere, was aber noch zu beweisen ist - wenn also eine Einsatztruppe bin Laden festnehmen und ihn vor Gericht stellen könnte, wäre das Gerechtigkeit, keine Rache. Aber es gibt Menschen, die Rache wollen. Das eigentliche Problem ist nicht bin Laden, sondern, dass ein großer Teil der Araber glaubt, sie hätten schon Krieg mit den USA. Und dieses Gefühl verändert man nicht, wenn man Kabul oder Bagdad bombardiert.
Kann man dieses Gefühl überhaupt verändern?
Für die Erwachsenen ist es wohl zu spät. Wir sollten jetzt anfangen, an die nächste Generation zu denken.
Hat der Anschlag Sie an mittelalterliche Massaker erinnert?
Um im Mittelalter Tausende von Menschen zu ermorden, brauchte man zwei oder drei Tage. Da hatte jeder einzelne doch immer die Hoffnung, zu entkommen. Bei dieser neuen Form von Massaker kann niemand mehr flüchten. Wer zufällig am Ort ist, muss sterben.
Für Morde im Namen Gottes ist ja eher das Mittelalter berüchtigt. Zeigt sich Religion gerade wieder von ihrer hässlichen Seite?
Während meiner Lesung in Wien funktionierte ein Mikrofon nicht und so aus Spaß sagte ich: "Es gibt keine Religion mehr auf der Welt." Alle lachten. Das hat mich nachdenklich gemacht. Wenn bisher etwas furchtbar war, sagte man: "Es gibt keine Religion mehr." Heute, so scheint es, passieren Katastrophen, weil es zu viel davon gibt.
George Bush kennt sich auch in der mittelalterlichen Metaphorik aus und hat einen "neuen Kreuzzug" ausgerufen.
Ein italienischer Priester, der Berlusconi berät, spricht auch von einem Kreuzzug, weil der Islam schon immer der Feind des Christentums war. Ein Kreuzzug wäre der größte Fehler, den wir begehen könnten. Wir können nicht Fundamentalismus und Terrorismus mit dem Islam gleichsetzen. Der Islam basiert auf Toleranz. Als Saladdin Jerusalem eroberte, brachte er nur die Tempel-Ritter um. Die waren für ihn die SS der Zeit. Aber den Rest der Menschen ließ er am Leben. Wenn wir einen Kreuzzug beginnen, wird das die Welt in den Zustand eines permanenten Krieges versetzen. Und ein Kreuzzug wäre heute nicht mehr auf Territorien beschränkt. Wie viele Moslems leben in den USA und Europa? Ein Kreuzzug wäre verrückt und gefährlich.
Baudolino, der Protagonist Ihres neuen Romans, begleitet Kaiser Barbarossa auf seinen Kreuzzügen. Aber er ist ein Pazifist, der die Welt mit seinen politischen Lügen menschlicher macht. Gibt es gute und schlechte Lügen?
Baudolino ist kein Lügner. Lügner behaupten das Gegenteil von dem, was der Fall ist. Wenn ich jetzt sagte, in diesem Raum gibt es keinen Kaffee ...
... wären Sie ein Lügner.
Weil ich das Gegenteil von dem behaupte, was Tatsache ist. Wenn ich sagte, morgen wird es Tonnen von Kaffee in diesem Raum geben, wäre ich kein Lügner, sondern ein Visionär. Und wenn Baudolino behauptet, er habe ein Einhorn gesehen, ist er selbst davon überzeugt, es gesehen zu haben. Visionen sind immer auch von Hoffnung getragen. Glauben Sie mir, Baudolino ist kein Lügner, er ist ein guter Junge.
Als Barbarossa das italienische Alessandria belagert, schicken die Bewohner auf Anregung Baudolinos eine vollgefressene Kuh vor die Tore der Stadt. Der Kaiser soll glauben, sie hätten noch massenhaft Vorräte. Braucht man in der Politik immer eine Kuh, um eine Lösung zu erreichen?
Der Clou liegt ja nicht darin, dass die Belagerten Barbarossa durch eine List überzeugen, dass sie noch genügend Vorräte haben. Nein, Barbarossa kapiert sofort, dass mit der Kuh was nicht stimmt. Aber er tut so, als würde er die Geschichte glauben. So kann er seine Soldaten abziehen und trotzdem sein Gesicht wahren. Hier sehen Sie noch mal den wichtigen Unterschied zwischen Lüge und Vision. Die Geschichte der Kuh ist eine gute Parabel für die große Kunst der Politik. Manchmal löst man einen Konflikt, indem man seinem Feind hilft, sein Gesicht zu wahren. Wir brauchen im Moment sehr viele Kühe.
Kritiker nennen Berlusconi einen großen Lügner. Was ist der Unterschied zwischen seinen Lügen und Baudolinos Visionen?
Das ist doch wirklich vertrackt, jetzt schreibe ich schon Bücher über das Mittelalter und trotzdem fragen mich alle, was das mit Berlusconi zu tun hat. Wenn ich morgen ein neues Haarwuchsmittel erfinde, würde man mich auch fragen, ob ich dabei an Berlusconi gedacht habe.
Er wäre sicher Ihr bester Kunde. Er hadert doch mit seiner Glatze.
Um Ihre Frage zu beantworten: Im Gegensatz zu Berlusconi glaubt Baudolino an die Lügen, die er erzählt.
Signor Eco, Sie haben was gegen Intellektuelle, die sich zwanghaft zu jeder Frage äußern müssen, gleichzeitig haben Sie stets mit Leidenschaft die italienische Politik kommentiert. Sind das zwei widersprüchliche Seelen in Ihrer Brust?
Nein. Ich weiß nur, dass Intellektuelle keine Orakel sind. Aber Sie spielen trotzdem eine Rolle. Ich kann Ihnen das ganz prinzipiell erklären: Wenn gerade etwas geschieht, dann sollten Intellektuelle den Mund halten.
Sie haben das mal so ausgedrückt: Wenn das Haus brennt, soll man die Nummer der Feuerwehr wählen und nicht die Ursachen des Brandes analysieren.
Sehen Sie, das passt doch auf den Fall New York. Intellektuelle können nachdenken über die Vergangenheit, "Was waren die Wurzeln von..." oder über die Zukunft, "Was sollte getan werden..." Doch wenn in der Gegenwart gerade etwas geschehen ist, dann hänge ich als erstes mein Telefon aus.
Was passiert sonst mit Ihrem Telefon?
Es klingelt. Kaum passiert etwas, klingelt mein Telefon. Wenn Greta Garbo stirbt, klingelt sofort mein Telefon und irgendeine Zeitung will wissen, was ich dazu denke.
Und?
Entschuldigen Sie. Was erwarten die denn, was ich sagen soll. "Es ist schade um Greta Garbo, sie war eine gute Schauspielerin, aber schließlich auch alt genug." Dieses Verständnis der Rolle von Intellektuellen ist absolut dämlich. Noch ein blödes Beispiel: Meine Geburtsstadt Alessandria war überschwemmt worden, als der Tanaro 1994 über die Ufer trat. Mein Telefon klingelte und ein Journalist fragte: "Was denken Sie über die Flut in Ihrer Stadt?" Was soll ich sagen: "Oh, ich bin so froh, es ist Zeit, dass diese Stadt untergeht." Ich hätte lieber einen Scheck für die Opfer geschrieben und basta. Also das ist der Punkt: Man sollte sich zu Wort melden, wenn man etwas Außergewöhnliches zu sagen hat. Und das ist eben nur manchmal der Fall, ich bin doch kein Held.
Die italienische Innenpolitik analysieren Sie aber auch im Präsens.
Es gibt nur einen einzigen Fall, wo sich Intellektuelle sinnvoll zur Gegenwart äußern können: Dann, wenn die ganze Welt zu einem Ereignis schweigt.
Und das war vor der Wahl Berlusconis der Fall?
Als ich mein "referendum morale" schrieb, glaubte ich, dass die Italiener dabei waren, etwas ganz grundsätzlich misszuverstehen. Sie dachten: Einer, der schon reich ist, wird nicht stehlen. Außerdem war mein Artikel nicht für die Anhänger Berlusconis bestimmt. Es wäre ja völlig idiotisch gewesen, zu schreiben: "Ich habe was gegen den Mann, also wählt ihn nicht." Nein, mein Artikel war ein rhetorischer Appell an die italienische Linke, ein Aufruf zur Einigkeit. Und dieser Punkt war vorher noch nicht so klar herausgearbeitet worden.
Günter Grass oder Jürgen Habermas werden in Deutschland als politisches Gewissen der Nation betrachtet. Sehen die Italiener Sie auch so?
Nein, ich glaube nicht. Die Deutschen sind seltsame Leute.
Das behauptet Ihr Kaiser Barbarossa auch über die ständig zerstrittenen Italiener. Also noch mal: Was bedeutet Umberto Eco seinen Landsleuten?
Der Prophet gilt nichts im eigenen Land.
Zumindest an den Universitäten hat Ihr Wort Gewicht. Ihr Romanheld Baudolino studiert sich im mittelalterlichen Paris nicht gerade zu Tode. Stattdessen macht er seine Erfahrungen im Rotlichtbezirk. Würden Sie Ihren Studenten so einen Lebenswandel empfehlen?
Baudolino hat doch eine Menge dabei gelernt, oder nicht? Nein, ganz im Ernst, ich empfehle meinen Studenten, am Leben ihrer Stadt teilzunehmen. Der Student lernt mehr in der Kneipe als im Vorlesungssaal. Da wird diskutiert, da kommen neue Ideen auf, dort tauscht man sich aus. Es ist leider so: Man lernt mehr von seinen Freunden als von seinem Professor.
Brauchen Ihre Studenten Ihre Empfehlung oder genießen sie auch so das Leben?
Wahrscheinlich brauchen sie es nicht. Bologna ist eine sehr lebendige Stadt, der Campus ist mitten im Herzen der Stadt und bis vier Uhr morgens sind die Studenten unterwegs, wahrscheinlich auch ohne meinen guten Rat. Es gibt dort die Arkaden, und dort sitzen die Studenten, bei Tag, bei Nacht, bei Sonne und Regen und diskutieren. Ich habe etwas beobachtet, was mir sehr gefällt: Die besten Doktorarbeiten kann man sofort daran erkennen, dass der Autor in den Fußnoten zitiert, was seine Freunde gerade erforschen. Und meine These ist: Das können sie nur in der Kneipe besprochen haben.
Was für einen Professor haben Sie sich als Student gewünscht?
Ich hatte einen wunderbaren Philosophie-Professor. Er hatte immer Zeit für uns. Einmal brachte er uns in ein Chemie-Labor und da stand ein Plattenspieler. Dort hörten wir Richard Wagners Ring, alle vier Teile, und er erklärte uns die Musik. Aber solche wie er waren selten. Ansonsten ging es damals an den Universitäten sehr formal zu.
Sie treffen häufig Forscher aus aller Welt. Was machen Sie, wenn Ihr gelehrtes Gegenüber Fragen stellt und Sie haben keine blasse Ahnung?
Ein gewitzter Kopf macht es so: Wenn er nichts weiß, versucht er es zu verbergen. Wenn er etwas weiß, sagt er: "Ich weiß es nicht."
Die sokratische Methode.
Ich habe das von den angelsächsischen Professoren gelernt: Sie sagen: "Eine schwere Frage." Und dann tun sie so, als ob sie lange nachdenken müssten. Wenn sie dann antworten, kommt es messerscharf und jeder ist beeindruckt. Dabei kannten sie die Antwort von Anfang an.
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Copyright © Frankfurter Rundschau 2001
Dokument erstellt am 21.09.2001 um 21:58:24 Uhr
Erscheinungsdatum 22.09.2001
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"Würden wir auch die Bahamas bombardieren?"
Umberto Eco über Kriege, Kreuzzüge und das Ende der Wolkenkratzer.
Der gewichtige Mann sinkt mit einem Seufzer in den Sessel, zur Ruhe kommt er dort nicht. Seine Schuhe trommeln nervös aufs Parkett - als versuchte er, im Sitzen einen Stepp-Tanz vorzuführen. Noch bevor am Montag die erste Frage gestellt wird, weiß Umberto Eco schon eine Antwort: "New York! Alle reden nur noch über New York. Was soll ich dazu sagen? Ich bin doch kein Orakel." Während Eco so spricht, leuchten seine Augen herausfordernd. Hinter dieser Bescheidenheit versteckt sich doch eine leise Koketterie. Oder nicht? Ganz sicher darf man bei diesem verspielten Rhetoriker sowieso nie sein. Der 69-jährige Norditaliener zählt zu den führenden Intellektuellen Europas. Die Themen-Palette seiner Essays reicht von Derrick bis zum Kosovo-Krieg. Jetzt war er nach Deutschland gekommen, um aus seinem neuen Roman Baudolino vorzulesen, der seit Wochen die Bestseller-Listen anführt. Wie im Namen der Rose, seinem bisher erfolgreichsten Buch, kehrt Eco mit diesem Schelmenroman ins Mittelalter zurück. Er schildert die Abenteuer des Bauernsohnes Baudolino, der von Kaiser Barbarossa adoptiert und mit auf seine Kreuzzüge genommen wird. Dass auch in diesen Tagen wieder Kreuzzüge beschworen werden, sieht der Sprach-Philosoph mit Hang zur Ironie dann doch voller Sorge. "Wenn wir einen Kreuzzug gegen die Moslems ausrufen, wird das die Welt in den Zustand eines permanenten Krieges versetzen." Das Interview führten Roman Arens, Barbara Mauersberg und Martin Scholz.
Signor Eco, waren Sie jemals auf dem Dach des World Trade Centers?
Ja, aber nur einmal. Ich mochte die Zwillings-Türme nicht. Ich hatte immer den Eindruck, sie verschandeln die Skyline von Manhattan. Seit die Türme zerstört sind, darf man das ja nicht mehr denken. Also sage ich: Ich mochte sie nicht, aber es wäre mir lieber, wenn sie noch da wären. Gut, aber ein einziges Mal war ich doch oben. Immer wenn ich reise, steuere ich sofort die Lieblingsorte der Touristen an. Ich bin mit meinen Kindern hochgefahren, als wir zum ersten Mal zusammen in New York waren. Ich wollte, dass sie die Stadt vom höchsten Punkt aus sehen. Mein Sohn hat später zehn Jahre in New York gelebt. Von seinem Apartment im Greenwich Village sah man direkt auf die beiden Türme.
Wo haben Sie von dem Anschlag erfahren?
Ich saß in der Universität in Bologna und korrigierte einige Examensarbeiten, als ein Kollege hereinstürzte und es mir erzählte. New York war schon immer eine der beiden Städte, in denen ich mir vorstellen könnte zu leben. Die andere ist Paris. In New York hätte ich nie Heimweh, ich liebe diese Stadt. Die Architektur von New York gab mir immer das Gefühl, in einer steinernen Jam-Session zu leben. Improvisation und Zufall erzeugen Ordnung und Harmonie. Diese Skyline hatte Momente absoluter Schönheit.
Sie sprechen in der Vergangenheit?
Nach dem Anschlag ist nichts mehr, wie es war: Das ist in den letzten Tage oft gesagt worden. Und es beschreibt vor allem die menschliche Tragödie und die politische Dimension. Aber vielleicht sind die Folgen noch sichtbarer: Wir verlieren ein Stück moderner Architektur.
Jetzt tut es Ihnen doch um die Türme leid?
Ich meine das viel grundsätzlicher: Vielleicht ist das Ende der Wolkenkratzer gekommen. Die einstürzenden Türme haben die Psyche der Menschen tief verwundet. Die Türme sind jetzt nicht mehr starke Symbole der Macht, aufragende Kathedralen des Kapitals. Sie sind verwundbare Riesen, Giganten auf Krähen-Füßen. Es wäre durchaus möglich, dass Architekten künftig keine Wolkenkratzer mehr bauen, weil die Menschen keine Lust haben, zwischen solchen Türmen zu leben. Das Pentagon hat die Angriffe überstanden, weil es ein flacher Bau ist. Statt einen neuen Wolkenkratzer zu bauen, könnte Mr. Trump demnächst ein großes Gelände in Oklahoma kaufen, um dort riesige flache Gebäude zu bauen. Die Tradition der amerikanischen Downtowns wäre damit am Ende. Die neuen Symbole der Macht sind dann horizontale, nicht mehr vertikale Bauten. Die Landschaft der Städte würde sich verändern und mit ihr das soziale Leben.
Auch die Sprache verändert sich gerade. Welche Bedeutung gewinnt der Begriff "Krieg" in diesen Tagen?
Das Konzept von Krieg verändert sich schon seit einigen Jahren. Der Golf-Krieg war der erste in der Geschichte der Menschheit, der nicht begonnen wurde, um den Feind zu vernichten. Vor dem Hintergrund der traditionellen Kriegs-Logik eigentlich ein verrückter Gedanke: Du ziehst in den Krieg, aber du willst keinen einzigen Soldaten verlieren und soweit wie möglich das Leben anderer Menschen schonen.
Dann folgten die Kriege in Ex-Jugoslawien, Bomben auf Belgrad aus "humanitären Gründen". Das passt zu Ihrem Golf-Kriegs Konzept von Krieg. Aber jetzt?
Nach dem Angriff auf die USA hat sich der Begriff noch einmal verändert. In einem Krieg kann man den Feind gewöhnlich mit der Drohung erschrecken, dass man ihn töten will. Aber jetzt haben wir es mit Leuten zu tun, die sich selbst umbringen. Was will man da machen? Das System der Strafen und Bestrafungen hat sich ebenfalls verändert. Bis zum 11. September war Amerika noch davon überzeugt, dass die Todesstrafe ein Abschreckungs-Potenzial hatte. Aber wie will man damit Leute abschrecken, die sich mit einem Flugzeug in ein Hochhaus stürzen? Und wenn dies ein Krieg ist, richtet er sich weder gegen einen konkreten Feind, auch nicht gegen ein Territorium. Das verändert auch die Definition einer Armee. Selbst die Generäle sind in dieser Tagen nicht mehr so sicher, welche Aufgabe eine Armee hat.
Das Begriffs-Spektrum ist breit: US-Präsident Bush sagte, die USA befinden sich "im Krieg". Der deutsche Kanzler Gerhard Schröder spricht vorsichtiger von einer "Kriegserklärung gegen die westliche Welt", der französische Premier Lionel Jospin will es nicht "Krieg" nennen und Italiens Silvio Berlusconi stimmt mit den Amerikanern überein. Welcher Begriff ist der richtige?
Das kommt auf Ihre Interessen an. Ein Beispiel: Ich habe gehört, dass die Türme des World Trade Centers mit Milliarden von Dollar gegen terroristische Anschläge versichert sind - aber nicht gegen einen Krieg. Die Besitzer der Türme haben jetzt sicher kein Interesse daran, von einem Krieg zu sprechen. Die Wortwahl ändert natürlich an den grauenhaften Ereignissen gar nichts - ganz gleich, ob man den Angriff als Krieg, Terrorismus oder Rückfall in die Barbarei wertet. Natürlich müssen die Nato-Staaten derzeit intensiv über die juristische Definition von "Krieg" und "Angriff" diskutieren. Wenn die Terroristen aus Deutschland gekommen wären...
Einige der mutmaßlichen Attentäter haben in Deutschland studiert.
Ich weiß. Dennoch würde jetzt niemand einen Angriff der USA auf Deutschland befürchten. Derzeit können wir einen sehr subtilen "Krieg der Sprache" beobachten, der aber Taten nach sich ziehen kann. Wir sind an einem Wendepunkt, es geht darum, die Regeln für die Zukunft zu definieren. Was besagt die Genfer Konvention mit ihrer Definition von Krieg heute noch?
Benutzen Sie das Wort "Krieg"?
Es ist eine Art Krieg, ein "nicht erklärter Krieg". Sie erkennen es daran, dass unser aller Leben auf den Kopf gestellt ist.
Wie äußert sich das bei Ihnen?
Als ich heute morgen in Wien ins Flugzeug stieg, saß neben mir ein Gentleman, der wie ein Araber aussah - schwarze Haare, langer Bart. Für einen Moment starrte ich ihn an und war perplex. Aber da ich schließlich Philosoph und Demokrat bin, sagte ich mir: "Die Welt ist voller anständiger arabischer Menschen." Dann bin ich entspannt in meinem Sitz versunken und eingeschlafen. Es war nur ein flüchtiger Gedanke, der mich kurz aufschreckte. Aber immerhin: Der Anschlag in Amerika hatte mein Verhalten auf dem Flug von Wien nach Köln - wenn auch nur für einen kurzen Augenblick - verändert.
Wie hat denn der Araber auf Ihren starren Blick reagiert? Er dachte bestimmt, dass Sie jetzt denken, dass er jetzt gerade denkt, dass Sie jetzt denken, dass er wie ein Araber aussieht.
So genau weiß ich das nicht. Ich kann ja nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, Leute um mich herum misstrauisch zu betrachten. Aber Sie haben schon Recht, es ist eine Sache von Gegenseitigkeit: Am Flughafen von Mailand sah ich eine Gruppe von Frauen im Tschador. Sie hielten sich bewusst fern von größeren Menschenmengen. Mir schien es, als ob sie sich beobachtet fühlten. Unser Umgang miteinander hat sich verändert.
Haben Sie im Flugzeug auch an Osama bin Laden gedacht?
Wenn ich an bin Laden denke, stelle ich mir eine ganz andere Frage. Warum ist er eigentlich so reich? Weil er Öl verkauft. Aber an wen? An die Taliban? Nein. Er verkauft es an die gesamte westliche Welt. Hortet er sein Geld in einer Höhle in Afghanistan? Nein. Wohl eher in Zürich, in London, auf den Bahamas, den Cayman Inseln - oder vielleicht sogar im World Trade Center. Würden wir deshalb die Bahamas bombardieren, weil sie wahrscheinlich mit bin Laden zusammengearbeitet haben? Das geht natürlich nicht. Dennoch: Es ist klar, dass bin Laden nur mit Hilfe des Westens so reich geworden ist. Nun bringe ich mein Geld auch zur Bank. Vielleicht entdecke ich morgen, dass ich mit einem Teil meines Geldes bin Laden finanziere, weil meine Bank mit ihm Geschäfte macht. Dann wäre ich in der sehr absurden Situation, bin Laden unterstützt zu haben.
Während des Golfkriegs haben Sie in einem Essay vor einem Rachefeldzug gewarnt: Sie schreiben: "Wenn dich einer mit einem Messer angreift, hast du das Recht, zumindest mit einer Faust zu antworten; aber wenn du Supermann bist und weißt, dass du den Gegner mit einem Faustschlag auf den Mond befördern kannst, dass der Schock unseren Planeten zerbröckeln lässt - dann überleg's dir bitte noch einmal."
Ich bin kein Moralist, ich bin Realist: Das Problem ist nicht so sehr, ob die USA oder die Nato Gerechtigkeit üben, wenn sie bei einem Militärschlag unschuldige Menschen töten. Das Problem ist, sogar Bush weiß es, dass sie mit einem Militärschlag weitere mögliche terroristische Gegenschläge wie die in New York und Washington provozieren können. Die Amerikaner könnten sagen: "Okay, lasst uns Mekka bombardieren! Wenn ihr nicht an Eurer heiligen Stätte angegriffen werden wollt, helft uns." Aber wenn sie Mekka bombardierten, käme das einer allgemeinen Kriegserklärung an alle Moslems gleich.
Der Papst warnt vor einem Racheakt. Aber ist der nicht zwangsläufig, wenn das Opfer zugleich auch Richter ist?
Es gibt einen Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Vergeltung. Wenn es zutrifft, dass bin Laden für diese Anschläge verantwortlich ist - wozu ich auch tendiere, was aber noch zu beweisen ist - wenn also eine Einsatztruppe bin Laden festnehmen und ihn vor Gericht stellen könnte, wäre das Gerechtigkeit, keine Rache. Aber es gibt Menschen, die Rache wollen. Das eigentliche Problem ist nicht bin Laden, sondern, dass ein großer Teil der Araber glaubt, sie hätten schon Krieg mit den USA. Und dieses Gefühl verändert man nicht, wenn man Kabul oder Bagdad bombardiert.
Kann man dieses Gefühl überhaupt verändern?
Für die Erwachsenen ist es wohl zu spät. Wir sollten jetzt anfangen, an die nächste Generation zu denken.
Hat der Anschlag Sie an mittelalterliche Massaker erinnert?
Um im Mittelalter Tausende von Menschen zu ermorden, brauchte man zwei oder drei Tage. Da hatte jeder einzelne doch immer die Hoffnung, zu entkommen. Bei dieser neuen Form von Massaker kann niemand mehr flüchten. Wer zufällig am Ort ist, muss sterben.
Für Morde im Namen Gottes ist ja eher das Mittelalter berüchtigt. Zeigt sich Religion gerade wieder von ihrer hässlichen Seite?
Während meiner Lesung in Wien funktionierte ein Mikrofon nicht und so aus Spaß sagte ich: "Es gibt keine Religion mehr auf der Welt." Alle lachten. Das hat mich nachdenklich gemacht. Wenn bisher etwas furchtbar war, sagte man: "Es gibt keine Religion mehr." Heute, so scheint es, passieren Katastrophen, weil es zu viel davon gibt.
George Bush kennt sich auch in der mittelalterlichen Metaphorik aus und hat einen "neuen Kreuzzug" ausgerufen.
Ein italienischer Priester, der Berlusconi berät, spricht auch von einem Kreuzzug, weil der Islam schon immer der Feind des Christentums war. Ein Kreuzzug wäre der größte Fehler, den wir begehen könnten. Wir können nicht Fundamentalismus und Terrorismus mit dem Islam gleichsetzen. Der Islam basiert auf Toleranz. Als Saladdin Jerusalem eroberte, brachte er nur die Tempel-Ritter um. Die waren für ihn die SS der Zeit. Aber den Rest der Menschen ließ er am Leben. Wenn wir einen Kreuzzug beginnen, wird das die Welt in den Zustand eines permanenten Krieges versetzen. Und ein Kreuzzug wäre heute nicht mehr auf Territorien beschränkt. Wie viele Moslems leben in den USA und Europa? Ein Kreuzzug wäre verrückt und gefährlich.
Baudolino, der Protagonist Ihres neuen Romans, begleitet Kaiser Barbarossa auf seinen Kreuzzügen. Aber er ist ein Pazifist, der die Welt mit seinen politischen Lügen menschlicher macht. Gibt es gute und schlechte Lügen?
Baudolino ist kein Lügner. Lügner behaupten das Gegenteil von dem, was der Fall ist. Wenn ich jetzt sagte, in diesem Raum gibt es keinen Kaffee ...
... wären Sie ein Lügner.
Weil ich das Gegenteil von dem behaupte, was Tatsache ist. Wenn ich sagte, morgen wird es Tonnen von Kaffee in diesem Raum geben, wäre ich kein Lügner, sondern ein Visionär. Und wenn Baudolino behauptet, er habe ein Einhorn gesehen, ist er selbst davon überzeugt, es gesehen zu haben. Visionen sind immer auch von Hoffnung getragen. Glauben Sie mir, Baudolino ist kein Lügner, er ist ein guter Junge.
Als Barbarossa das italienische Alessandria belagert, schicken die Bewohner auf Anregung Baudolinos eine vollgefressene Kuh vor die Tore der Stadt. Der Kaiser soll glauben, sie hätten noch massenhaft Vorräte. Braucht man in der Politik immer eine Kuh, um eine Lösung zu erreichen?
Der Clou liegt ja nicht darin, dass die Belagerten Barbarossa durch eine List überzeugen, dass sie noch genügend Vorräte haben. Nein, Barbarossa kapiert sofort, dass mit der Kuh was nicht stimmt. Aber er tut so, als würde er die Geschichte glauben. So kann er seine Soldaten abziehen und trotzdem sein Gesicht wahren. Hier sehen Sie noch mal den wichtigen Unterschied zwischen Lüge und Vision. Die Geschichte der Kuh ist eine gute Parabel für die große Kunst der Politik. Manchmal löst man einen Konflikt, indem man seinem Feind hilft, sein Gesicht zu wahren. Wir brauchen im Moment sehr viele Kühe.
Kritiker nennen Berlusconi einen großen Lügner. Was ist der Unterschied zwischen seinen Lügen und Baudolinos Visionen?
Das ist doch wirklich vertrackt, jetzt schreibe ich schon Bücher über das Mittelalter und trotzdem fragen mich alle, was das mit Berlusconi zu tun hat. Wenn ich morgen ein neues Haarwuchsmittel erfinde, würde man mich auch fragen, ob ich dabei an Berlusconi gedacht habe.
Er wäre sicher Ihr bester Kunde. Er hadert doch mit seiner Glatze.
Um Ihre Frage zu beantworten: Im Gegensatz zu Berlusconi glaubt Baudolino an die Lügen, die er erzählt.
Signor Eco, Sie haben was gegen Intellektuelle, die sich zwanghaft zu jeder Frage äußern müssen, gleichzeitig haben Sie stets mit Leidenschaft die italienische Politik kommentiert. Sind das zwei widersprüchliche Seelen in Ihrer Brust?
Nein. Ich weiß nur, dass Intellektuelle keine Orakel sind. Aber Sie spielen trotzdem eine Rolle. Ich kann Ihnen das ganz prinzipiell erklären: Wenn gerade etwas geschieht, dann sollten Intellektuelle den Mund halten.
Sie haben das mal so ausgedrückt: Wenn das Haus brennt, soll man die Nummer der Feuerwehr wählen und nicht die Ursachen des Brandes analysieren.
Sehen Sie, das passt doch auf den Fall New York. Intellektuelle können nachdenken über die Vergangenheit, "Was waren die Wurzeln von..." oder über die Zukunft, "Was sollte getan werden..." Doch wenn in der Gegenwart gerade etwas geschehen ist, dann hänge ich als erstes mein Telefon aus.
Was passiert sonst mit Ihrem Telefon?
Es klingelt. Kaum passiert etwas, klingelt mein Telefon. Wenn Greta Garbo stirbt, klingelt sofort mein Telefon und irgendeine Zeitung will wissen, was ich dazu denke.
Und?
Entschuldigen Sie. Was erwarten die denn, was ich sagen soll. "Es ist schade um Greta Garbo, sie war eine gute Schauspielerin, aber schließlich auch alt genug." Dieses Verständnis der Rolle von Intellektuellen ist absolut dämlich. Noch ein blödes Beispiel: Meine Geburtsstadt Alessandria war überschwemmt worden, als der Tanaro 1994 über die Ufer trat. Mein Telefon klingelte und ein Journalist fragte: "Was denken Sie über die Flut in Ihrer Stadt?" Was soll ich sagen: "Oh, ich bin so froh, es ist Zeit, dass diese Stadt untergeht." Ich hätte lieber einen Scheck für die Opfer geschrieben und basta. Also das ist der Punkt: Man sollte sich zu Wort melden, wenn man etwas Außergewöhnliches zu sagen hat. Und das ist eben nur manchmal der Fall, ich bin doch kein Held.
Die italienische Innenpolitik analysieren Sie aber auch im Präsens.
Es gibt nur einen einzigen Fall, wo sich Intellektuelle sinnvoll zur Gegenwart äußern können: Dann, wenn die ganze Welt zu einem Ereignis schweigt.
Und das war vor der Wahl Berlusconis der Fall?
Als ich mein "referendum morale" schrieb, glaubte ich, dass die Italiener dabei waren, etwas ganz grundsätzlich misszuverstehen. Sie dachten: Einer, der schon reich ist, wird nicht stehlen. Außerdem war mein Artikel nicht für die Anhänger Berlusconis bestimmt. Es wäre ja völlig idiotisch gewesen, zu schreiben: "Ich habe was gegen den Mann, also wählt ihn nicht." Nein, mein Artikel war ein rhetorischer Appell an die italienische Linke, ein Aufruf zur Einigkeit. Und dieser Punkt war vorher noch nicht so klar herausgearbeitet worden.
Günter Grass oder Jürgen Habermas werden in Deutschland als politisches Gewissen der Nation betrachtet. Sehen die Italiener Sie auch so?
Nein, ich glaube nicht. Die Deutschen sind seltsame Leute.
Das behauptet Ihr Kaiser Barbarossa auch über die ständig zerstrittenen Italiener. Also noch mal: Was bedeutet Umberto Eco seinen Landsleuten?
Der Prophet gilt nichts im eigenen Land.
Zumindest an den Universitäten hat Ihr Wort Gewicht. Ihr Romanheld Baudolino studiert sich im mittelalterlichen Paris nicht gerade zu Tode. Stattdessen macht er seine Erfahrungen im Rotlichtbezirk. Würden Sie Ihren Studenten so einen Lebenswandel empfehlen?
Baudolino hat doch eine Menge dabei gelernt, oder nicht? Nein, ganz im Ernst, ich empfehle meinen Studenten, am Leben ihrer Stadt teilzunehmen. Der Student lernt mehr in der Kneipe als im Vorlesungssaal. Da wird diskutiert, da kommen neue Ideen auf, dort tauscht man sich aus. Es ist leider so: Man lernt mehr von seinen Freunden als von seinem Professor.
Brauchen Ihre Studenten Ihre Empfehlung oder genießen sie auch so das Leben?
Wahrscheinlich brauchen sie es nicht. Bologna ist eine sehr lebendige Stadt, der Campus ist mitten im Herzen der Stadt und bis vier Uhr morgens sind die Studenten unterwegs, wahrscheinlich auch ohne meinen guten Rat. Es gibt dort die Arkaden, und dort sitzen die Studenten, bei Tag, bei Nacht, bei Sonne und Regen und diskutieren. Ich habe etwas beobachtet, was mir sehr gefällt: Die besten Doktorarbeiten kann man sofort daran erkennen, dass der Autor in den Fußnoten zitiert, was seine Freunde gerade erforschen. Und meine These ist: Das können sie nur in der Kneipe besprochen haben.
Was für einen Professor haben Sie sich als Student gewünscht?
Ich hatte einen wunderbaren Philosophie-Professor. Er hatte immer Zeit für uns. Einmal brachte er uns in ein Chemie-Labor und da stand ein Plattenspieler. Dort hörten wir Richard Wagners Ring, alle vier Teile, und er erklärte uns die Musik. Aber solche wie er waren selten. Ansonsten ging es damals an den Universitäten sehr formal zu.
Sie treffen häufig Forscher aus aller Welt. Was machen Sie, wenn Ihr gelehrtes Gegenüber Fragen stellt und Sie haben keine blasse Ahnung?
Ein gewitzter Kopf macht es so: Wenn er nichts weiß, versucht er es zu verbergen. Wenn er etwas weiß, sagt er: "Ich weiß es nicht."
Die sokratische Methode.
Ich habe das von den angelsächsischen Professoren gelernt: Sie sagen: "Eine schwere Frage." Und dann tun sie so, als ob sie lange nachdenken müssten. Wenn sie dann antworten, kommt es messerscharf und jeder ist beeindruckt. Dabei kannten sie die Antwort von Anfang an.
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Dokument erstellt am 21.09.2001 um 21:58:24 Uhr
Erscheinungsdatum 22.09.2001