sich als topaktuell (nur die Schlußfolgerung muß neu geschrieben werden):
Jochen Hippler
Das Zweitschlagsdilemma-
Indien und Pakistan: Jedes sporadische Gefecht in Kaschmir kann zur Initialzündung eines atomaren Präventivkrieges werden
Seit einigen Monaten gewinnt man den Eindruck, daß die seit ihrer Gründung verfeindeten Länder Indien und Pakistan zu einer Politik praktischer Versöhnung finden. Eine Reihe symbolischer Gesten und drei hochrangige Gesprächsrunden deuten auf Entspannung, und manche Erklärung durch Spitzenpolitiker scheint diesen Trend zu unterstreichen. Der Prozeß wird sich fortsetzen – er darf aber nicht den Blick für die weiterhin instabile Lage und die drohenden Gefahren versperren. Die Konfrontation zwischen Indien und Pakistan bleibt eines der gefährlichsten Konfliktpotentiale der Welt. Und wie üblich schenkt die europäische Politik diesem explosiven Krisenherd keinerlei Aufmerksamkeit, solange das Kind noch nicht in den Brunnen gefallen ist. Später dürften dann Aufgeregtheit und Aktionismus kaum noch zu bremsen sein.
Trotz aller Entspannung brechen seit Wochen wieder verschärft Feuergefechte an der Grenze aus. Das hat zu einigen Dutzend Toten, meist Zivilisten, geführt, dokumentiert aber vor allem die Labilität der indisch-pakistanischen Beziehungen. Beide Staaten führten bereits drei Kriege gegeneinander, 1947, 1965 und 1971. In den Jahren 1987 und 1990 konnte Krieg nur mit Mühe verhindert werden. Gewalt zwischen den beiden Feinden birgt die Gefahr einer globalen Katastrophe in sich. In Pakistan leben rund 135, in Indien mehr als 950 Millionen Menschen. Beide Staaten verfügen über Atomwaffen und die notwendigen Trägersysteme. Verglichen mit den möglichen Folgen eines Krieges in Südwestasien dürften die Massaker in Bosnien oder Somalia wie Kaffeekränzchen wirken. Schon 1947/48 starben mehr als eine Million Menschen, 8-12 Millionen flohen in beiden Richtungen über die neuen Grenzen – lange bevor das Wort „ethnische Säuberungen“ erfunden war. Heute wäre ein Krieg noch weit verheerender.
Geostrategisch und in Bezug auf die konventionelle Bewaffnung ist Indien geradezu drückend überlegen. Und da fast das gesamte pakistanische Staatsgebiet praktisch in „Grenznähe“ zu Indien liegt, Indien selbst aber eine viel größere strategische Tiefe aufweist, ist die Überlegenheit noch viel eindeutiger ausgeprägt. Aus diesem Grund dürfte jeder ernsthafte Konflikt sehr schnell auf atomares Niveau eskalieren – schließlich hat Pakistan keine andere Chance, sich militärisch zu verteidigen. Obwohl das Land nie offiziell den Besitz von Atomwaffen zugegeben hat, dürfte es über etwa ein handvoll Atomsprengköpfe verfügen, bzw sie in sehr kurzer Zeit zu montieren in der Lage sein. Umgekehrt gehen US-amerikanische Militärquellen davon aus, daß Indien 25 bis 50 Sprengköpfe besitzt, die allerdings vermutlich ebenfalls noch nicht auf Trägersysteme montiert sind. (Zum Vergleich: Israel dürfte über mehr als 200 Sprengköpfe verfügen.) Beide Länder besitzen also atomares Angriffspotential, wären aber zu nuklearen Zweitschlägen technisch nicht in der Lage. Das bedeutet einen beträchtlichen Anreiz, im Konfliktfall die eigenen Atomwaffen als erste einzusetzen, um sie nicht durch den Präventivschlag des Gegners zu verlieren. Zugleich können beide einen nuklearen Angriff der jeweils anderen Seite nicht rechtzeitig vorauszusehen, oder auch nur einen soeben erfolgten Angriff sofort erkennen. Auch dieser Faktor führt zu beträchtlicher Instabilität, weil er dazu verleitet, „im Zweifelsfall“ die eigenen Atomwaffen bereits zu aktivieren und auf den Weg zu bringen. Da bereits indische Gedankenspiele bekannt wurden, durch „präventive“ Schläge das noch begrenzte pakistanische Atompotential auszuschalten, ist die Gefahr eines pakistanischen Ersteinsatzes besonders groß.
Nun wäre der Bestand gefährlicher Waffensysteme allein wenig bedeutsam, wenn es kein Konfliktpotential gäbe, das zum Krieg führen könnte. Genau an solchem Potential mangelt es aber nicht. Seit ihrer Staatsgründung streiten sich beide Länder diplomatisch, politisch und militärisch um Kaschmir, das trotz seiner muslimischen Bevölkerungsmehrheit bei der Teilung des kolonialen Indiens an New Delhi fiel. Zwei der drei Kriege wurden um Kaschmir geführt, das von Indien als integraler Bestandteil des eigenen Staates, von Pakistan als widerrechtlich indisch besetztes Territorium betrachtet wird. Im Kaschmir-Tal sind über 350.000 indische Soldaten stationiert, die sich schwerster Menschenrechtsverletzungen zur Niederhaltung der Bevölkerung bedienen, während umgekehrt Pakistan die kaschmirischen Befreiungsbewegungen unterstützt. Zehntausende von Menschen sind – von der Weltöffentlichkeit weitgehend ignoriert - diesem Stellvertreterkrieg bereits zum Opfer gefallen. Darüber hinaus kommt es immer wieder zu den bereits erwähnten Scharmützeln über die Grenzlinie, die von den Armeen beider Seiten ausgehen.
Dieser schwelende Konflikt ist nicht nur gefährlich, er belastet die wirtschaftliche Entwicklung beider Länder dauerhaft und bindet die knappen Mittel in unproduktiven Militärausgaben. Über 12 Mrd. Dollar fließen jährlich in die Militärhaushalte, obwohl oft für wichtige Ausgaben der Infrastruktur, der Sozialsysteme oder des Bildungswesen kaum Geld vorhanden ist. Allein die sporadischen Kämpfe auf dem Siachen-Gletscher kosteten seit 1984 schätzungsweise 5 Mrd. Dollar. Trotz dieser für beiden Seiten extrem hohen Kosten ist eine friedliche Lösung des Konfliktes schwierig, da der Streit um Kaschmir auf beiden Seiten zum Kernbestand der Staatsideologie gehört. Auch wenn in den letzten Jahren die Bevölkerung ein Interesse an Versöhnung gewonnen hat, sind wichtige Sektoren der politischen Apparate daran immer noch nicht interessiert. Eine Eskalation zum Krieg könnte in Kaschmir durch eine direkte Eskalation der bisher noch eng begrenzten Kämpfe, oder durch innenpolitischen Druck einer der beiden Seiten erfolgen, am Kaschmirkonflikt ein Exempel zu statuieren. Innenpolitische Demagogen spielen immer wieder die kaschmirische Karte, um sich Aufmerksamkeit zu sichern.
Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß die innenpolitische Stabilität beider Länder den wichtigsten Faktor darstellt, der über Krieg und Frieden entscheidet. Diese wiederum hängt vor allem von einer erfolgreichen Wirtschaftsentwicklung ab. Paradoxerweise dürften damit solche Fragen wie die Steigerung der Obst- und Textilexporte oder die Entwicklung des Tourismus als Devisenquelle in Pakistan mittelfristig mindestens so wichtig für die Bewahrung des Friedens sein wie die hohe Diplomatie.
in: Freitag, 31. Oktober 1997, S. 8