Wo steht Russland?
Von Charles Wyplosz
Nach einem Jahr im Amt lässt Präsident Putin sein wahres Gesicht erahnen. Aber, und das ist das Problem, dieser Prozess verläuft sehr langsam. Russland aber braucht nach Jahren faktischen Stillstands unter Jelzin dringend Reformen. Zwei wichtige Schritte hat Putin immerhin unternommen. Er hat den Einfluss der Oligarchen eingeschränkt, dieser Neureichen, die sich in der Regierung breit gemacht haben, um in gemeinsamer Sache mit den Kommunisten die Wirtschaftsreformen zu blockieren. Ihnen liegt ja nichts daran, das Chaos, in dem sie gedeihen, aufzuräumen.
Das Reformfundament ist gelegt
Nicht alle Oligarchen sind weg von der Bildfläche – und immer tauchen neue auf. Manch einer ist in die Politik gegangen, hat sich – weiss Gott, wie – zum Gouverneur von entlegenen, ressourcenreichen Gebieten wählen lassen. Doch scheint ihr Einfluss auf den Kreml nachgelassen zu haben. Die Frage ist nun, wer an ihre Stelle treten wird. Viele ehemalige KGB-Leute wurden in einflussreiche Positionen gehievt. Sie sind zwar weniger durch Macht und Geld korrumpiert, neigen aber zu Täuschungsmanövern und politischer Manipulation. So wurde auch die Macht der Oligarchen weniger mit korrekten politischen Mitteln und legalen Manövern gestutzt als mit Einschüchterungstaktik und unmissverständlichen Botschaften. Grossen Wirbel verursachte der Angriff auf die Pressefreiheit. Die Aktion der «Garde» des Präsidenten zeugt nicht von Demokratie. Andererseits sind die Opfer von Putins Aufräumaktion keine Unschuldslämmchen. Ihre Kritik am Kreml spiegelte nicht eine demokratische Debatte, sondern die Frustration der Medienzaren, der ehemaligen Oligarchen.
Den zweiten Schritt in die richtige Richtung unternahm Putin mit der Gebietsreform, die den Einfluss der Föderationsregierung auf die Verwaltungsgebiete wiederhergestellt hat. Viele Gebiete waren zu Hochburgen von Lokalmagnaten geworden, die die Föderationsgesetzgebung ignorierten. Durch regelmässige finanzielle Unterstützung der Lokalindustrie schufen sie sich eine Machtbasis – oft in Seilschaften aus der Zeit des Kommunismus.
Wie die Oligarchen waren die Lokalmagnaten nicht versessen auf Wirtschaftsreformen, die ihre Macht untergraben. Geschickt schuf Putin neue, einflussreiche Verwaltungsposten für seine Vertreter und entfernte dann die korrupten Gouverneure. Die übrigen entmachteten sich selbst, als sie der Auflösung der zweiten Parlamentskammer, des Föderationsrats, zustimmten, die durch ein Beratungsgremium ersetzt wurde. In der Duma herrschen nun die Kreml-loyalen Kräfte vor, da sich die Kommunistische Partei, lange die dominierende Macht im Parlament und Jelzins Rachegöttin, überraschenderweise selbst ins Abseits drängte.
So hat Putin das Fundament gelegt, das er braucht, um den Reformprozess wieder in Gang zu bringen – falls es das ist, was er wirklich will. In der Tat können der Regierung kaum reformfeindliche Neigungen nachgesagt werden. Putins Wirtschaftsminister und -berater stammen aus Reformerkreisen. Und es gibt Fortschritte zu buchen: So wurde das Steuersystem – ein ineffizientes Relikt aus Sowjetzeiten – modernisiert. Ein neues System der Einkommenssteuer bringt dem Staat beträchtliche Summen ein. Demnächst dürfte – angesichts des historischen Ballasts bemerkenswert – ein neues Gesetz zum Grundeigentum angenommen werden. Es erlaubt den privaten Landbesitz – mit Einschränkungen, gewiss, doch bricht es mit einem Tabu und bahnt neuen Veränderungen den Weg. Weshalb also die Skepsis gegenüber Putin? Vor allem, weil bis jetzt so wenig geschah.
Wo anpacken?
Vor den Wahlen hatte Putins Minister für Wirtschaftsentwicklung und Handel, German Gref, einen ausgearbeiteten Plan vorgelegt. Die Regierung einigte sich rasch, wie und wann er zu realisieren sei. Doch dann verstrich Termin um Termin. Die Zentralbank – immer noch unter einer höchst inkompetenten Führung – torpedierte jede Anstrengung, das durch die Krise von 1998 zerstörte Banksystem aufzubauen. Monatelang machten in Moskau Gerüchte die Runde, der Präsident der Zentralbank werde den Hut nehmen müssen. Doch es bleiben Gerüchte.
Die Verhandlungen über die Umstrukturierung der Auslandschulden sind keinen Schritt weitergekommen. Im Gegenteil: Russland hat in den letzten zwölf Monaten vor allem Druck auf seine Gläubiger ausgeübt und ihnen vorgemacht, es sei nicht im Stande, seine Schulden zu bedienen – obwohl alle Welt wusste, dass dem nicht so war. Schliesslich hat Russland gezahlt – doch viel Zeit war vergeudet, und die Gläubiger waren nicht gerade motiviert, sich in den weiteren Umstrukturierungsverhandlungen kompromissbereit zu zeigen.
Wo muss nun angepackt werden? Dringend einer Reform bedarf der Banksektor. Die Banken der Oligarchen wurden in der Krise von 1998 finanziell «leergefegt»: Aktiven verschwanden im Ausland, während Verpflichtungen in der Hoffnung, die Regierung werde schon dafür aufkommen, aufgetürmt wurden. Klugerweise tat sie das nicht, doch die Zentralbank – Behörde zur Überwachung der Banken – begnügte sich mit der Schliessung weniger Institute. Die einzige funktionierende Bank ist die Sparkasse Sberbank, die das Monopol aus Sowjetzeiten geniesst, Einlagen zu sammeln und der Regierung sowie grossen (unproduktiven) Firmen unter die Arme zu greifen. Auf Drängen des IWF hat die Regierung eben ein Gesetz vorgestellt, das auf eine Reform des Bankwesens abzielt. Auf dem Papier sieht das Projekt gut aus: effizientere Regelungen für die Liquidation insolventer Banken, Einlagenversicherung, internationale Rechnungslegungsnormen, die Erlaubnis für ausländische Banken, in Russland tätig zu werden und sich an russischen Banken zu beteiligen.
Zwischen Reform und Stillstand
Wird das Gesetz nun wirklich der Duma vorgelegt und, falls sie es annimmt, umgesetzt? Das wird die erste Feuerprobe für Putins Entschlossenheit sein, die Reformen voranzutreiben. Die Chancen stehen bestenfalls fünfzig zu fünfzig, insbesondere in Anbetracht des Widerstands der Zentralbank. Einiges lässt vermuten, dass die Absichten des Kremls nicht ganz lauter sind. Mancher Beobachter argwöhnt, dass die Regierung ein System staatlicher Banken errichten will, das die Szene dominiert. Sie hat bereits die Schaffung einer Entwicklungsbank und einer Landwirtschaftsbank vorgeschlagen – wohl Werkzeuge einer eher zweifelhaften Industriepolitik.
Die nächste Herausforderung ist die Zerschlagung der Monopole, dieser Unternehmensgiganten, die Strommarkt, Eisenbahn sowie Gasförderung und -versorgung beherrschen. Sie sind ein Staat innerhalb des Staats und spielen für die (In-)Effizienz der Wirtschaft eine grosse Rolle. Gazprom, weltgrösster Gaskonzern, hat seit 1992 alle Regierungen im Griff und nimmt direkten Einfluss auf die Medien und somit auf die öffentliche Meinung. Das macht es Politikern schwer, sich mit ihm anzulegen, was erklärt, warum es in diesem Bereich so mühsam vorangeht.
Und wie steht es um die Wirtschaft? Die Inflationsrate ist hoch, über 20%. Auch das zeugt von der ungeschickten Politik der Zentralbank. Dank hoher Ölpreise und massiv unterbewerteter Währung war das Wirtschaftswachstum in den vergangenen zwei Jahren ansehnlich. Doch die Ölpreise sinken, und die Inflation macht die Wechselkursvorteile zunichte. So nimmt das Wirtschaftswachstum allmählich ab, was die Faktoren, die Putins unglaubliche Beliebtheit garantierten, nach und nach schwächt. Das Budget weist, teils dank der hohen Ölpreise, die dem Staat grosse Einkünfte aus Ertrags- und Exportsteuer bescheren, ein Plus auf. In der Ausgabenpolitik geht die Regierung sehr vorsichtig vor; ein Rückfall in die roten Zahlen ist unwahrscheinlich, solange die Wirtschaft wächst.
Russland hat die schlechten Zeiten von Jelzin und seinen Oligarchenfreunden ein Stück weit hinter sich gelassen. Es profitierte von glücklichen Umständen. Doch die Lage bleibt unsicher. Putin entpuppt sich als vorsichtiger Reformer. Doch was wird Oberhand gewinnen – die Vorsicht oder der Reformwille?
Von Charles Wyplosz
Nach einem Jahr im Amt lässt Präsident Putin sein wahres Gesicht erahnen. Aber, und das ist das Problem, dieser Prozess verläuft sehr langsam. Russland aber braucht nach Jahren faktischen Stillstands unter Jelzin dringend Reformen. Zwei wichtige Schritte hat Putin immerhin unternommen. Er hat den Einfluss der Oligarchen eingeschränkt, dieser Neureichen, die sich in der Regierung breit gemacht haben, um in gemeinsamer Sache mit den Kommunisten die Wirtschaftsreformen zu blockieren. Ihnen liegt ja nichts daran, das Chaos, in dem sie gedeihen, aufzuräumen.
Das Reformfundament ist gelegt
Nicht alle Oligarchen sind weg von der Bildfläche – und immer tauchen neue auf. Manch einer ist in die Politik gegangen, hat sich – weiss Gott, wie – zum Gouverneur von entlegenen, ressourcenreichen Gebieten wählen lassen. Doch scheint ihr Einfluss auf den Kreml nachgelassen zu haben. Die Frage ist nun, wer an ihre Stelle treten wird. Viele ehemalige KGB-Leute wurden in einflussreiche Positionen gehievt. Sie sind zwar weniger durch Macht und Geld korrumpiert, neigen aber zu Täuschungsmanövern und politischer Manipulation. So wurde auch die Macht der Oligarchen weniger mit korrekten politischen Mitteln und legalen Manövern gestutzt als mit Einschüchterungstaktik und unmissverständlichen Botschaften. Grossen Wirbel verursachte der Angriff auf die Pressefreiheit. Die Aktion der «Garde» des Präsidenten zeugt nicht von Demokratie. Andererseits sind die Opfer von Putins Aufräumaktion keine Unschuldslämmchen. Ihre Kritik am Kreml spiegelte nicht eine demokratische Debatte, sondern die Frustration der Medienzaren, der ehemaligen Oligarchen.
Den zweiten Schritt in die richtige Richtung unternahm Putin mit der Gebietsreform, die den Einfluss der Föderationsregierung auf die Verwaltungsgebiete wiederhergestellt hat. Viele Gebiete waren zu Hochburgen von Lokalmagnaten geworden, die die Föderationsgesetzgebung ignorierten. Durch regelmässige finanzielle Unterstützung der Lokalindustrie schufen sie sich eine Machtbasis – oft in Seilschaften aus der Zeit des Kommunismus.
Wie die Oligarchen waren die Lokalmagnaten nicht versessen auf Wirtschaftsreformen, die ihre Macht untergraben. Geschickt schuf Putin neue, einflussreiche Verwaltungsposten für seine Vertreter und entfernte dann die korrupten Gouverneure. Die übrigen entmachteten sich selbst, als sie der Auflösung der zweiten Parlamentskammer, des Föderationsrats, zustimmten, die durch ein Beratungsgremium ersetzt wurde. In der Duma herrschen nun die Kreml-loyalen Kräfte vor, da sich die Kommunistische Partei, lange die dominierende Macht im Parlament und Jelzins Rachegöttin, überraschenderweise selbst ins Abseits drängte.
So hat Putin das Fundament gelegt, das er braucht, um den Reformprozess wieder in Gang zu bringen – falls es das ist, was er wirklich will. In der Tat können der Regierung kaum reformfeindliche Neigungen nachgesagt werden. Putins Wirtschaftsminister und -berater stammen aus Reformerkreisen. Und es gibt Fortschritte zu buchen: So wurde das Steuersystem – ein ineffizientes Relikt aus Sowjetzeiten – modernisiert. Ein neues System der Einkommenssteuer bringt dem Staat beträchtliche Summen ein. Demnächst dürfte – angesichts des historischen Ballasts bemerkenswert – ein neues Gesetz zum Grundeigentum angenommen werden. Es erlaubt den privaten Landbesitz – mit Einschränkungen, gewiss, doch bricht es mit einem Tabu und bahnt neuen Veränderungen den Weg. Weshalb also die Skepsis gegenüber Putin? Vor allem, weil bis jetzt so wenig geschah.
Wo anpacken?
Vor den Wahlen hatte Putins Minister für Wirtschaftsentwicklung und Handel, German Gref, einen ausgearbeiteten Plan vorgelegt. Die Regierung einigte sich rasch, wie und wann er zu realisieren sei. Doch dann verstrich Termin um Termin. Die Zentralbank – immer noch unter einer höchst inkompetenten Führung – torpedierte jede Anstrengung, das durch die Krise von 1998 zerstörte Banksystem aufzubauen. Monatelang machten in Moskau Gerüchte die Runde, der Präsident der Zentralbank werde den Hut nehmen müssen. Doch es bleiben Gerüchte.
Die Verhandlungen über die Umstrukturierung der Auslandschulden sind keinen Schritt weitergekommen. Im Gegenteil: Russland hat in den letzten zwölf Monaten vor allem Druck auf seine Gläubiger ausgeübt und ihnen vorgemacht, es sei nicht im Stande, seine Schulden zu bedienen – obwohl alle Welt wusste, dass dem nicht so war. Schliesslich hat Russland gezahlt – doch viel Zeit war vergeudet, und die Gläubiger waren nicht gerade motiviert, sich in den weiteren Umstrukturierungsverhandlungen kompromissbereit zu zeigen.
Wo muss nun angepackt werden? Dringend einer Reform bedarf der Banksektor. Die Banken der Oligarchen wurden in der Krise von 1998 finanziell «leergefegt»: Aktiven verschwanden im Ausland, während Verpflichtungen in der Hoffnung, die Regierung werde schon dafür aufkommen, aufgetürmt wurden. Klugerweise tat sie das nicht, doch die Zentralbank – Behörde zur Überwachung der Banken – begnügte sich mit der Schliessung weniger Institute. Die einzige funktionierende Bank ist die Sparkasse Sberbank, die das Monopol aus Sowjetzeiten geniesst, Einlagen zu sammeln und der Regierung sowie grossen (unproduktiven) Firmen unter die Arme zu greifen. Auf Drängen des IWF hat die Regierung eben ein Gesetz vorgestellt, das auf eine Reform des Bankwesens abzielt. Auf dem Papier sieht das Projekt gut aus: effizientere Regelungen für die Liquidation insolventer Banken, Einlagenversicherung, internationale Rechnungslegungsnormen, die Erlaubnis für ausländische Banken, in Russland tätig zu werden und sich an russischen Banken zu beteiligen.
Zwischen Reform und Stillstand
Wird das Gesetz nun wirklich der Duma vorgelegt und, falls sie es annimmt, umgesetzt? Das wird die erste Feuerprobe für Putins Entschlossenheit sein, die Reformen voranzutreiben. Die Chancen stehen bestenfalls fünfzig zu fünfzig, insbesondere in Anbetracht des Widerstands der Zentralbank. Einiges lässt vermuten, dass die Absichten des Kremls nicht ganz lauter sind. Mancher Beobachter argwöhnt, dass die Regierung ein System staatlicher Banken errichten will, das die Szene dominiert. Sie hat bereits die Schaffung einer Entwicklungsbank und einer Landwirtschaftsbank vorgeschlagen – wohl Werkzeuge einer eher zweifelhaften Industriepolitik.
Die nächste Herausforderung ist die Zerschlagung der Monopole, dieser Unternehmensgiganten, die Strommarkt, Eisenbahn sowie Gasförderung und -versorgung beherrschen. Sie sind ein Staat innerhalb des Staats und spielen für die (In-)Effizienz der Wirtschaft eine grosse Rolle. Gazprom, weltgrösster Gaskonzern, hat seit 1992 alle Regierungen im Griff und nimmt direkten Einfluss auf die Medien und somit auf die öffentliche Meinung. Das macht es Politikern schwer, sich mit ihm anzulegen, was erklärt, warum es in diesem Bereich so mühsam vorangeht.
Und wie steht es um die Wirtschaft? Die Inflationsrate ist hoch, über 20%. Auch das zeugt von der ungeschickten Politik der Zentralbank. Dank hoher Ölpreise und massiv unterbewerteter Währung war das Wirtschaftswachstum in den vergangenen zwei Jahren ansehnlich. Doch die Ölpreise sinken, und die Inflation macht die Wechselkursvorteile zunichte. So nimmt das Wirtschaftswachstum allmählich ab, was die Faktoren, die Putins unglaubliche Beliebtheit garantierten, nach und nach schwächt. Das Budget weist, teils dank der hohen Ölpreise, die dem Staat grosse Einkünfte aus Ertrags- und Exportsteuer bescheren, ein Plus auf. In der Ausgabenpolitik geht die Regierung sehr vorsichtig vor; ein Rückfall in die roten Zahlen ist unwahrscheinlich, solange die Wirtschaft wächst.
Russland hat die schlechten Zeiten von Jelzin und seinen Oligarchenfreunden ein Stück weit hinter sich gelassen. Es profitierte von glücklichen Umständen. Doch die Lage bleibt unsicher. Putin entpuppt sich als vorsichtiger Reformer. Doch was wird Oberhand gewinnen – die Vorsicht oder der Reformwille?