Die Deutschen werden immer älter - und trotzdem kann es ihnen besser gehen
Um die Zukunft des Alters zu erkunden, zerschneiden sie Zähne von frühmittelalterlichen Skeletten. Sie züchten Billionen von Hefezellen in Geräten, die wie altmodische Kühlschränke aussehen. Sie machen Experimente in einem Raum mit über zehntausend Glühbirnen, von denen nur einige noch funktionieren. Und sie beschäftigen sich, manchmal jedenfalls, mit der Langlebigkeit von Autos.
Es sind ungewöhnliche Wissenschaftler, die der Amerikaner James Vaupel im Max-Planck-Institut für Demografie in Rostock versammelt hat. Sie kommen aus allen Teilen der Welt und gehören unterschiedlichen Fachrichtungen an: Biologie, Statistik, Mathematik, Anthropologie, Soziologie, Psychologie. Gemeinsam ist ihnen ihr Optimismus: Aus Rostock kommen besonders weitreichende Prognosen, wie die Alten von morgen leben könnten – und wie alt sie werden.
„Es ist immer wieder behauptet worden, dass es eine natürliche Obergrenze für die Lebenserwartung gebe“, sagt Institutsleiter Vaupel, „immer wieder hat sich das als falsch erwiesen.“ 120 Jahre alt werden, oder gar 130 – für die Rostocker Forscher ist das nicht abwegig. Sie glauben, dass künftig viel mehr Menschen im hohen Alter gesund, innovativ und leistungsfähig bleiben. Und sie stellen regelmäßig fest, dass in Deutschland ganz anders über das Altern geredet wird. „Warum eigentlich“, staunt der halb in Dänemark, halb in Deutschland lebende Vaupel, „wird hier der Anstieg der Lebenserwartung nur als Problem gesehen und nie als Errungenschaft?“
Träge, ängstlich, satt – so lauten die Etiketten für alternde Gesellschaften. Mehr Alte, heißt es, bedeuten weniger Wachstum, weniger Risikobereitschaft, weniger Existenzgründungen. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel rechnet mit einem altersbedingten Rückgang der Wirtschaftsleistung Deutschlands um jährlich 0,4 bis 1 Prozent. Als sich Demografie-Experten Ende November auf einem Kongress in Maastricht trafen, war dort von rückläufigem Konsum und sinkenden Steuereinnahmen die Rede – ohne dass jemand widersprach.
„Ohne höhere Geburtenraten bekommen wir keine Dynamik, keine Innovation, keine Kraft“, sagt auch der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber. Der Demografie-Experte Meinhard Miegel liefert die Erklärung: „Wirtschaftswachstum bedeutet nicht nur Wohlstandsmehrung, sondern immer auch die Zerstörung von Überkommenem.“ Dagegen leiste eine alternde Gesellschaft größeren Widerstand als junge Kulturen. „Alte Menschen“, meint Miegel, „wollen ruhiger, zurückgezogener leben und halten stärker an Vertrautem fest.“
©
Das klingt harmlos, ist es aber nicht. Würde das Gegenteil stimmen und auch die Altengesellschaft von morgen hoch produktiv sein – die Probleme der Alterung ließen sich leichter verschmerzen. Schließlich sagen Geburtenquoten allein nicht viel über den Wohlstand eines Landes aus, sonst müssten Staaten wie Indien oder Bangladesch viel wohlhabender sein als Deutschland oder Dänemark. Entscheidend für die Wirtschaftskraft ist die Zahl der Beschäftigten und ihre Produktivität. Für eine erfolgreiche Zukunft braucht ein Land beides: mehr Kinder und mehr Wachstum – uneinig sind sich die Experten allerdings, ob und wie beides zusammenhängt.
Der Irrtum der Kopfzahltheorie
Unter Ökonomen wird dieser Streit seit zweihundert Jahren geführt. Schon 1798 warnte Thomas Robert Malthus vor zu viel Bevölkerungswachstum. Kinderreichtum werde angesichts knapper Ressourcen zu Hunger und Verarmung führen. Zwanzig Jahre später beschrieben Bevölkerungsoptimisten um William Godwin bereits das Gegenteil: Mehr Menschen, hieß es nun, bedeuteten mehr Arbeitskräfte, damit eine bessere Arbeitsteilung und mehr Produktivität. Später entwarfen Wachstumstheoretiker aufwändige Formeln, um den Zusammenhang zwischen Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaftswachstum darzustellen – dennoch gehört dieser Punkt zu den ungelösten Fragen der Ökonomie.
Genauso unversöhnlich stehen sich in der Politik die verschiedenen Fraktionen gegenüber. Norbert Blüm, der frühere CDU-Sozialminister, warnt davor, die Altersstruktur als Wohlstandsindiz zu werten und sich von der bekannten Kennzahl erschrecken zu lassen, wonach demnächst jeder Beitragszahler einen Rentner zu versorgen habe. „Nach der Kopfzahltheorie müssten wir eigentlich verhungert sein“, sagt er. Früher habe schließlich auch ein Bauer nur 3 Konsumenten versorgen müssen, heute kämen auf einen Landwirt mehr als 80 Verbraucher. Alles kein Problem bei steigender Produktivität.
Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat kürzlich ein Thesenpapier mit einer ähnlichen Argumentation herausgebracht. „In der Vergangenheit hat unsere Gesellschaft einen stärkeren Anstieg der über 65-Jährigen bewältigt, als dies in den nächsten 50 Jahren zu erwarten ist“, heißt es darin. Die ver.di-Autoren rechnen vor: Vor mehr als hundert Jahren kamen auf eine Person über 65 Jahre rund 12 Erwerbsfähige, im Jahr 2000 waren es noch 4. Aus Sicht der heutigen Demografie-Experten sei das ein dramatischer Rückgang, „und dennoch ist in dieser Zeit der Sozialstaat in Deutschland nicht ab-, sondern umgebaut worden“. Ausschlaggebend sei eben nicht die Alterung, sondern die Produktivität, die Arbeitslosigkeit und die Erwerbsbeteiligung der Frauen.
Diese These ist richtig und falsch zugleich. Falsch ist die Unterstellung, durch Wachstum ließen sich die Verteilungskonflikte zwischen Alten und Jungen weitgehend vermeiden, weil am Ende alle besser dastünden als zuvor. „So ticken die Menschen leider nicht; sie messen sich am aktuellen Durchschnitt, nicht an den Einkommen von gestern“, sagt Gert Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Wenn die Deutschen beispielsweise nach zwanzig Jahren im Schnitt 20Prozent mehr Einkommen hätten, erhöhe das noch längst nicht die Bereitschaft zum Verzicht. „Sonst könnte man die heutigen Rentner ja damit vertrösten, dass ihre Einkünfte trotz Nullrunde immer noch viel höher als die Rentnereinkommen von 1960 sind“, sagt der DIW-Experte.
Falsch wäre auch die Annahme, die Produktivitätssteigerungen der Vergangenheit ließen sich in allen Wirtschaftssektoren wiederholen. In der Industrie ist das einfacher als bei personennahen Dienstleistungen, etwa dem Gesundheits- und Pflegebereich – doch gerade diese Sektoren werden in der alternden Gesellschaft an Bedeutung zunehmen.
Wie die Misere herbeigeredet wird
Richtig ist allerdings, dass in der Demografie-Debatte angesichts von Rentenformeln, Kopfpauschalen und Pflegeurteilen die Entwicklung der Produktivität zu Unrecht aus dem Blick gerät. Wächst die deutsche Wirtschaft im Jahresschnitt um zwei Prozent, wäre das Bruttoinlandsprodukt in gut drei Jahrzehnten real immerhin doppelt so hoch wie heute. Bei einer Wachstumsrate von vier Prozent wäre dann sogar dreimal so viel zu verteilen. Deshalb ist so entscheidend, ob in alten Gesellschaften die Innovationskraft tatsächlich schwindet – und wie dieser Prozess zu stoppen ist.
Einiges spricht dafür, dass die Misere zum Teil auch herbeigeredet wird. Zum Beispiel von der Rating-Agentur Standard & Poors: Wenn deren Analysten über die Kreditwürdigkeit eines Bundeslandes entscheiden, spielt der Anteil alter Menschen an der Bevölkerung eine wichtige Rolle. „Eine ungünstige Altersstruktur kann ein Grund sein, ein Land herabzustufen“, sagt der Analyst Christian Esters. In einem Thesenpapier von Standard & Poors heißt es, Bevölkerungsrückgang sei „ein Teufelskreis“. Die Autoren schreiben: „Meistens gehen die Jungen und Qualifizierten, und die zurückgebliebenen Älteren sind weniger in der Lage, Neues anzuregen und die Initiative zu ergreifen, um den Niedergang aufzuhalten.“ Viele Rentner bedeuten also ein schlechtes Rating, das wiederum schreckt möglicherweise Investoren ab, damit verschlechtert sich die Wirtschaftslage weiter – genau die Abwärtsspirale, die die Analysten beschreiben, verstärken sie mit ihrem Rating selbst.
Ohne Zweifel kommen auf alternde Gesellschaften hohe Kosten zu: Neben den bekannten Lasten der Sozialversicherungen sind das vor allem Pensionsverpflichtungen für Beamte und Ausgaben für den Abbau von Infrastrukur: Schulen schließen, Buslinien streichen, Krankenhäuser zusammenlegen. Zu beobachten ist das alles heute schon in Ostdeutschland.
Die Rostocker Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut können in den verlassenen Dörfern Mecklenburg-Vorpommerns reichlich Anschauung zum demografischen Wandel sammeln. Auch in Städten wie Leipzig werden ganze Straßenzüge abgerissen. Allein in Cottbus werden die Kosten für die Umrüstung der Kanalisation auf rund 12 Millionen Euro geschätzt. „Auch Abbau kann teuer sein“, warnt Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck.
Für Kosten und andere Finanzströme in der Welt von morgen hat Bernd Meyer ein Rechenmodell entwickelt, eine gigantische ökonomische Formel, die aus mehr als 40000 einzelnen Gleichungen besteht und die demnächst auch das Statistische Bundesamt verwenden will. Künftige Konsumstrukturen, Branchengrößen, Sparquoten und Ausgaben für die Infrastruktur ließen sich damit berechnen, sagt der Osnabrücker Volkswirtschaftsprofessor, der in den kommenden drei Monaten erste Ergebnisse präsentieren will. Viele entscheidende Faktoren bekommt er damit jedoch kaum in den Griff.
Haben junge Gesellschaften eine andere Mentalität? Ja, sagt Gunnar Heinsohn, Genozidforscher an der Universität Bremen. Völker mit einem großen Anteil junger Menschen seien gewalttätiger, die Wahrscheinlichkeit von Bürgerkriegen und Kriminalität nehme zu. Zu ähnlichen Ergebnissen kam der amerikanische Politologe Gary Fuller: Als Auslöser mörderischer Unruhen auf Sri Lanka in verschiedenen Jahrzehnten machte er nicht Hungersnöte oder andere externe Faktoren aus, sondern den besonders hohen Anteil von Menschen zwischen 15 und 25Jahren. Ausländische Wissenschaftler sind ohnehin schneller bei der Hand mit der Gleichsetzung von „jung“ mit anderen Eigenschaften – etwa „aggressiv“, „dynamisch“ oder „innovativ“.
Hilfreicher als solche Mutmaßungen sind die Erfahrungen aus Unternehmen. „In der betrieblichen Praxis gibt es das Problem der Innovationsschwäche älterer Mitarbeiter praktisch nicht“, sagt Michael Astor vom Basler Prognos-Institut. Eine Untersuchung des DIW bestätigte kürzlich das Ergebnis – mit einer wesentlichen Einschränkung: Die Annahme, Alte seien weniger leistungsfähig, habe sich auch in den Köpfen vieler Beschäftigter breit gemacht. Mit diesem „Defizit-Denken“ stünden sie sich selbst im Weg.
Rainer Schmidt-Rudloff, Experte für betriebliche Personalpolitik bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, spricht aber schon von einem „Trendwechsel“ in den Unternehmen: Seit ein, zwei Jahren werde allmählich umgedacht, das Interesse an Schulungen und Informationen zum Umgang mit alternden Belegschaften sei enorm. Allerdings: In Neueinstellungen von Mitarbeitern über 50 schlägt sich das nur in Ausnahmefällen nieder.
Die Firma Fahrion Engineering aus Kornwestheim bei Stuttgart gehört zu den wenigen Unternehmen, die gezielt Ältere einstellen. Der 63-jährige Mittelständler Otmar Fahrion engagierte in den vergangenen vier Jahren 28 Männer, die kaum jünger waren als er selbst. Zunächst war das keine freiwillige Entscheidung – Jüngere waren im Boom vor zwei, drei Jahren schwer zu bekommen und wurden schnell abgeworben.
Also suchte Fahrion gezielt nach Älteren und hat es seither keinen Tag bereut. Drei der Angeheuerten wurden schon von Kunden abgeworben – obwohl auch dort bisher 35 als Altersgrenze für Einstellungen galt. Engagiert, kompetent und kundig seien die alten Neuen, sagt Fahrion, dazu mobil und einsatzbereit. 10 seiner 28 neuen Mitarbeiter kommen aus Städten wie Bielefeld, Salzburg, Bremen oder Dessau. Sie pendeln klaglos, ohne Zuschüsse des Arbeitgebers zu Fahrt- oder Mietkosten. „Wie viele Mitarbeiter nehmen das ohne weiteres hin?“, fragt der Unternehmer.
Als kürzlich eine Stelle in Amerika frei wurde, meldete sich keiner der Jüngeren, an die Fahrion gedacht hatte: Der eine baute gerade ein Haus, der Nächste wollte im Sportverein nicht fehlen, der Dritte wurde Vater. Die Älteren hätten sich um die Stelle gerissen, erzählt Fahrion: „So viel zum Thema Jugend und Mobilität.“
www.zeit.de/2003/51/Alternde_Gesellschaft
Um die Zukunft des Alters zu erkunden, zerschneiden sie Zähne von frühmittelalterlichen Skeletten. Sie züchten Billionen von Hefezellen in Geräten, die wie altmodische Kühlschränke aussehen. Sie machen Experimente in einem Raum mit über zehntausend Glühbirnen, von denen nur einige noch funktionieren. Und sie beschäftigen sich, manchmal jedenfalls, mit der Langlebigkeit von Autos.
Es sind ungewöhnliche Wissenschaftler, die der Amerikaner James Vaupel im Max-Planck-Institut für Demografie in Rostock versammelt hat. Sie kommen aus allen Teilen der Welt und gehören unterschiedlichen Fachrichtungen an: Biologie, Statistik, Mathematik, Anthropologie, Soziologie, Psychologie. Gemeinsam ist ihnen ihr Optimismus: Aus Rostock kommen besonders weitreichende Prognosen, wie die Alten von morgen leben könnten – und wie alt sie werden.
„Es ist immer wieder behauptet worden, dass es eine natürliche Obergrenze für die Lebenserwartung gebe“, sagt Institutsleiter Vaupel, „immer wieder hat sich das als falsch erwiesen.“ 120 Jahre alt werden, oder gar 130 – für die Rostocker Forscher ist das nicht abwegig. Sie glauben, dass künftig viel mehr Menschen im hohen Alter gesund, innovativ und leistungsfähig bleiben. Und sie stellen regelmäßig fest, dass in Deutschland ganz anders über das Altern geredet wird. „Warum eigentlich“, staunt der halb in Dänemark, halb in Deutschland lebende Vaupel, „wird hier der Anstieg der Lebenserwartung nur als Problem gesehen und nie als Errungenschaft?“
Träge, ängstlich, satt – so lauten die Etiketten für alternde Gesellschaften. Mehr Alte, heißt es, bedeuten weniger Wachstum, weniger Risikobereitschaft, weniger Existenzgründungen. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel rechnet mit einem altersbedingten Rückgang der Wirtschaftsleistung Deutschlands um jährlich 0,4 bis 1 Prozent. Als sich Demografie-Experten Ende November auf einem Kongress in Maastricht trafen, war dort von rückläufigem Konsum und sinkenden Steuereinnahmen die Rede – ohne dass jemand widersprach.
„Ohne höhere Geburtenraten bekommen wir keine Dynamik, keine Innovation, keine Kraft“, sagt auch der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber. Der Demografie-Experte Meinhard Miegel liefert die Erklärung: „Wirtschaftswachstum bedeutet nicht nur Wohlstandsmehrung, sondern immer auch die Zerstörung von Überkommenem.“ Dagegen leiste eine alternde Gesellschaft größeren Widerstand als junge Kulturen. „Alte Menschen“, meint Miegel, „wollen ruhiger, zurückgezogener leben und halten stärker an Vertrautem fest.“
©
Das klingt harmlos, ist es aber nicht. Würde das Gegenteil stimmen und auch die Altengesellschaft von morgen hoch produktiv sein – die Probleme der Alterung ließen sich leichter verschmerzen. Schließlich sagen Geburtenquoten allein nicht viel über den Wohlstand eines Landes aus, sonst müssten Staaten wie Indien oder Bangladesch viel wohlhabender sein als Deutschland oder Dänemark. Entscheidend für die Wirtschaftskraft ist die Zahl der Beschäftigten und ihre Produktivität. Für eine erfolgreiche Zukunft braucht ein Land beides: mehr Kinder und mehr Wachstum – uneinig sind sich die Experten allerdings, ob und wie beides zusammenhängt.
Der Irrtum der Kopfzahltheorie
Unter Ökonomen wird dieser Streit seit zweihundert Jahren geführt. Schon 1798 warnte Thomas Robert Malthus vor zu viel Bevölkerungswachstum. Kinderreichtum werde angesichts knapper Ressourcen zu Hunger und Verarmung führen. Zwanzig Jahre später beschrieben Bevölkerungsoptimisten um William Godwin bereits das Gegenteil: Mehr Menschen, hieß es nun, bedeuteten mehr Arbeitskräfte, damit eine bessere Arbeitsteilung und mehr Produktivität. Später entwarfen Wachstumstheoretiker aufwändige Formeln, um den Zusammenhang zwischen Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaftswachstum darzustellen – dennoch gehört dieser Punkt zu den ungelösten Fragen der Ökonomie.
Genauso unversöhnlich stehen sich in der Politik die verschiedenen Fraktionen gegenüber. Norbert Blüm, der frühere CDU-Sozialminister, warnt davor, die Altersstruktur als Wohlstandsindiz zu werten und sich von der bekannten Kennzahl erschrecken zu lassen, wonach demnächst jeder Beitragszahler einen Rentner zu versorgen habe. „Nach der Kopfzahltheorie müssten wir eigentlich verhungert sein“, sagt er. Früher habe schließlich auch ein Bauer nur 3 Konsumenten versorgen müssen, heute kämen auf einen Landwirt mehr als 80 Verbraucher. Alles kein Problem bei steigender Produktivität.
Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat kürzlich ein Thesenpapier mit einer ähnlichen Argumentation herausgebracht. „In der Vergangenheit hat unsere Gesellschaft einen stärkeren Anstieg der über 65-Jährigen bewältigt, als dies in den nächsten 50 Jahren zu erwarten ist“, heißt es darin. Die ver.di-Autoren rechnen vor: Vor mehr als hundert Jahren kamen auf eine Person über 65 Jahre rund 12 Erwerbsfähige, im Jahr 2000 waren es noch 4. Aus Sicht der heutigen Demografie-Experten sei das ein dramatischer Rückgang, „und dennoch ist in dieser Zeit der Sozialstaat in Deutschland nicht ab-, sondern umgebaut worden“. Ausschlaggebend sei eben nicht die Alterung, sondern die Produktivität, die Arbeitslosigkeit und die Erwerbsbeteiligung der Frauen.
Diese These ist richtig und falsch zugleich. Falsch ist die Unterstellung, durch Wachstum ließen sich die Verteilungskonflikte zwischen Alten und Jungen weitgehend vermeiden, weil am Ende alle besser dastünden als zuvor. „So ticken die Menschen leider nicht; sie messen sich am aktuellen Durchschnitt, nicht an den Einkommen von gestern“, sagt Gert Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Wenn die Deutschen beispielsweise nach zwanzig Jahren im Schnitt 20Prozent mehr Einkommen hätten, erhöhe das noch längst nicht die Bereitschaft zum Verzicht. „Sonst könnte man die heutigen Rentner ja damit vertrösten, dass ihre Einkünfte trotz Nullrunde immer noch viel höher als die Rentnereinkommen von 1960 sind“, sagt der DIW-Experte.
Falsch wäre auch die Annahme, die Produktivitätssteigerungen der Vergangenheit ließen sich in allen Wirtschaftssektoren wiederholen. In der Industrie ist das einfacher als bei personennahen Dienstleistungen, etwa dem Gesundheits- und Pflegebereich – doch gerade diese Sektoren werden in der alternden Gesellschaft an Bedeutung zunehmen.
Wie die Misere herbeigeredet wird
Richtig ist allerdings, dass in der Demografie-Debatte angesichts von Rentenformeln, Kopfpauschalen und Pflegeurteilen die Entwicklung der Produktivität zu Unrecht aus dem Blick gerät. Wächst die deutsche Wirtschaft im Jahresschnitt um zwei Prozent, wäre das Bruttoinlandsprodukt in gut drei Jahrzehnten real immerhin doppelt so hoch wie heute. Bei einer Wachstumsrate von vier Prozent wäre dann sogar dreimal so viel zu verteilen. Deshalb ist so entscheidend, ob in alten Gesellschaften die Innovationskraft tatsächlich schwindet – und wie dieser Prozess zu stoppen ist.
Einiges spricht dafür, dass die Misere zum Teil auch herbeigeredet wird. Zum Beispiel von der Rating-Agentur Standard & Poors: Wenn deren Analysten über die Kreditwürdigkeit eines Bundeslandes entscheiden, spielt der Anteil alter Menschen an der Bevölkerung eine wichtige Rolle. „Eine ungünstige Altersstruktur kann ein Grund sein, ein Land herabzustufen“, sagt der Analyst Christian Esters. In einem Thesenpapier von Standard & Poors heißt es, Bevölkerungsrückgang sei „ein Teufelskreis“. Die Autoren schreiben: „Meistens gehen die Jungen und Qualifizierten, und die zurückgebliebenen Älteren sind weniger in der Lage, Neues anzuregen und die Initiative zu ergreifen, um den Niedergang aufzuhalten.“ Viele Rentner bedeuten also ein schlechtes Rating, das wiederum schreckt möglicherweise Investoren ab, damit verschlechtert sich die Wirtschaftslage weiter – genau die Abwärtsspirale, die die Analysten beschreiben, verstärken sie mit ihrem Rating selbst.
Ohne Zweifel kommen auf alternde Gesellschaften hohe Kosten zu: Neben den bekannten Lasten der Sozialversicherungen sind das vor allem Pensionsverpflichtungen für Beamte und Ausgaben für den Abbau von Infrastrukur: Schulen schließen, Buslinien streichen, Krankenhäuser zusammenlegen. Zu beobachten ist das alles heute schon in Ostdeutschland.
Die Rostocker Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut können in den verlassenen Dörfern Mecklenburg-Vorpommerns reichlich Anschauung zum demografischen Wandel sammeln. Auch in Städten wie Leipzig werden ganze Straßenzüge abgerissen. Allein in Cottbus werden die Kosten für die Umrüstung der Kanalisation auf rund 12 Millionen Euro geschätzt. „Auch Abbau kann teuer sein“, warnt Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck.
Für Kosten und andere Finanzströme in der Welt von morgen hat Bernd Meyer ein Rechenmodell entwickelt, eine gigantische ökonomische Formel, die aus mehr als 40000 einzelnen Gleichungen besteht und die demnächst auch das Statistische Bundesamt verwenden will. Künftige Konsumstrukturen, Branchengrößen, Sparquoten und Ausgaben für die Infrastruktur ließen sich damit berechnen, sagt der Osnabrücker Volkswirtschaftsprofessor, der in den kommenden drei Monaten erste Ergebnisse präsentieren will. Viele entscheidende Faktoren bekommt er damit jedoch kaum in den Griff.
Haben junge Gesellschaften eine andere Mentalität? Ja, sagt Gunnar Heinsohn, Genozidforscher an der Universität Bremen. Völker mit einem großen Anteil junger Menschen seien gewalttätiger, die Wahrscheinlichkeit von Bürgerkriegen und Kriminalität nehme zu. Zu ähnlichen Ergebnissen kam der amerikanische Politologe Gary Fuller: Als Auslöser mörderischer Unruhen auf Sri Lanka in verschiedenen Jahrzehnten machte er nicht Hungersnöte oder andere externe Faktoren aus, sondern den besonders hohen Anteil von Menschen zwischen 15 und 25Jahren. Ausländische Wissenschaftler sind ohnehin schneller bei der Hand mit der Gleichsetzung von „jung“ mit anderen Eigenschaften – etwa „aggressiv“, „dynamisch“ oder „innovativ“.
Hilfreicher als solche Mutmaßungen sind die Erfahrungen aus Unternehmen. „In der betrieblichen Praxis gibt es das Problem der Innovationsschwäche älterer Mitarbeiter praktisch nicht“, sagt Michael Astor vom Basler Prognos-Institut. Eine Untersuchung des DIW bestätigte kürzlich das Ergebnis – mit einer wesentlichen Einschränkung: Die Annahme, Alte seien weniger leistungsfähig, habe sich auch in den Köpfen vieler Beschäftigter breit gemacht. Mit diesem „Defizit-Denken“ stünden sie sich selbst im Weg.
Rainer Schmidt-Rudloff, Experte für betriebliche Personalpolitik bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, spricht aber schon von einem „Trendwechsel“ in den Unternehmen: Seit ein, zwei Jahren werde allmählich umgedacht, das Interesse an Schulungen und Informationen zum Umgang mit alternden Belegschaften sei enorm. Allerdings: In Neueinstellungen von Mitarbeitern über 50 schlägt sich das nur in Ausnahmefällen nieder.
Die Firma Fahrion Engineering aus Kornwestheim bei Stuttgart gehört zu den wenigen Unternehmen, die gezielt Ältere einstellen. Der 63-jährige Mittelständler Otmar Fahrion engagierte in den vergangenen vier Jahren 28 Männer, die kaum jünger waren als er selbst. Zunächst war das keine freiwillige Entscheidung – Jüngere waren im Boom vor zwei, drei Jahren schwer zu bekommen und wurden schnell abgeworben.
Also suchte Fahrion gezielt nach Älteren und hat es seither keinen Tag bereut. Drei der Angeheuerten wurden schon von Kunden abgeworben – obwohl auch dort bisher 35 als Altersgrenze für Einstellungen galt. Engagiert, kompetent und kundig seien die alten Neuen, sagt Fahrion, dazu mobil und einsatzbereit. 10 seiner 28 neuen Mitarbeiter kommen aus Städten wie Bielefeld, Salzburg, Bremen oder Dessau. Sie pendeln klaglos, ohne Zuschüsse des Arbeitgebers zu Fahrt- oder Mietkosten. „Wie viele Mitarbeiter nehmen das ohne weiteres hin?“, fragt der Unternehmer.
Als kürzlich eine Stelle in Amerika frei wurde, meldete sich keiner der Jüngeren, an die Fahrion gedacht hatte: Der eine baute gerade ein Haus, der Nächste wollte im Sportverein nicht fehlen, der Dritte wurde Vater. Die Älteren hätten sich um die Stelle gerissen, erzählt Fahrion: „So viel zum Thema Jugend und Mobilität.“
www.zeit.de/2003/51/Alternde_Gesellschaft