Willkommen in der Konsumwelt von morgen

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Willkommen in der Konsumwelt von morgen

 
16.01.03 11:29

Sie haben Geld, Zeit und Lust: Die Wirtschaft entdeckt Menschen jenseits der 50 als Zielgruppe. Willkommen in der Konsumwelt von morgen

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© Sacha Waldman
Wer den Wandel spüren will, sollte sich bei Designern umsehen. Sie entwickeln Schuhe, die sich selbst schnüren, wenn man hineinschlüpft. Armbanduhren, die ihrem Träger die Zeit vorlesen. Sensoren, die eine Herdplatte abschalten, bevor die Küche brennt. Der Sinn solcher Produkte offenbart sich den Menschen erst in besonderen Lebenslagen. Etwa, wenn sie sich nicht mehr bücken können. Oder schlecht sehen. Oder vergesslich werden.

Jeder Fünfte in Deutschland ist heute älter als 60 Jahre. So um das Jahr 2030 herum wird es jeder Dritte sein. Mit dem steigenden Alter der Gesellschaft werden sich Wünsche und Konsumgewohnheiten ändern; und irgendwann folgt das Selbstbild, das die Verbraucher in Anzeigen und Fernsehspots wiederfinden. „Senioren bestimmen künftig die Nachfrage“, prophezeit Ulrich Eggert, Geschäftsführer der Kölner Handelsberatung BBE. Und der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft verkündet die „Ablösung der Jugendkultur durch die Alterskultur“.

Auf eine steigende Zahl älterer Kunden müssen sich früher oder später alle einstellen – Designer, Händler, Werber. Von Jahr zu Jahr ist die Veränderung der Konsumwelt kaum merklich, so wie das Älterwerden selbst. Erste graue Haare fallen nur wenigen auf, erste Produkte für Senioren auch. Viele Unternehmen lernen momentan eher beiläufig, für wen sie eigentlich produzieren.

Daimler-Benz warb bei Einführung der A-Klasse mit Yuppies, um dann festzustellen, dass die Hälfte der Kunden älter als 50 ist, der leicht erhöhten Sitze wegen. Auch moderne Geländewagen dürften für diese Altersgruppe attraktiv sein: Sie will sportlich wirken, ist aber dankbar für Sitzkomfort und Überblick. Doch selbst jeder dritte neue Porsche wird von einem Kunden über 50 gekauft. Und die Chefs von Harley Davidson registrierten kürzlich, dass das Durchschnittsalter ihrer Kundschaft mittlerweile 52 Jahre beträgt. Eine Marktmacht sind die Älteren also längst. Sie wissen es nur noch nicht.

Es ist nicht lange her, da hatten die Werbeleute Menschen jenseits der 50 vergessen. Grauhaarige Models durften höchstens für Rheumadecken oder Hörgeräte werben. Als relevante Zielgruppe galten Konsumenten zwischen 15 und 49. Junge, hippe Kreative wollten Werbung für ihresgleichen schaffen und nicht für ihre Eltern. Über die hieß es, sie hätten wenig Geld, kauften nur das Nötigste und wenn, dann von derselben Marke wie vor 30 Jahren.

Dreimal falsch, behauptete die Düsseldorfer Werbeagentur Grey erstmals Mitte der neunziger Jahre. Inzwischen glauben das alle. Master Consumers – so nennen Werber heute die attraktive Zielgruppe wohlhabender Kunden über 50, die Neues suchen und nach harten Karriere- und Erziehungsjahren gewillt sind, sich etwas zu gönnen. Diese Generation hat ihre antikonsumistischen Ideale längst abgelegt und schon viele Modetrends mitgemacht. In den Siebzigern erfand sie für sich das Etikett „Me Generation“, das nun neue Bedeutung bekommt.

Aber auch bei den Über-60-Jährigen hat sich das Lebensgefühl längst dem jüngerer Jahrgänge angenähert, man fühlt sich im Schnitt zehn bis fünfzehn Jahre jünger, als man ist, und kann sich oft genau das leisten, was die Kinder nicht finanzieren können: Reisen, neue Autos, Genuss.

Heute kennzeichnen viele Etiketten die jungen Alten: Sie heißen „Best Agers“, „Kukidents“, „Empty Nesters“ oder auch „Woopies“ (well off old people) und „Selpies“ (second life people). Die Werbung löse sich gerade von ihrer Jugendfixiertheit, sagt Bernd Michael, Chef von Grey: „Gerade in der Krise wächst das Interesse der Firmen – man schaut halt nach allen, die noch konsumieren können.“

Sie wollen allerdings umständlich umworben sein. Das Motto: Immer an das Alter der Kunden denken, nie darüber reden. Wer im Restaurant „Seniorenteller“ anbietet oder im Supermarkt „Rentner-Kassen“ einrichtet, hat schon verloren. Man will dazugehören, integriert sein – und bloß nicht an körperliche Handicaps erinnert werden.

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© DIE ZEIT
Manchmal wirkt es fast ein bisschen lächerlich, wie sehr Hersteller versuchen, jegliches Sanitätshaus-Flair zu vermeiden. Der amerikanische Versandhändler Gold Violin zum Beispiel versieht technische Hilfsmittel für Ältere stets mit einem Hauch von Luxus. Da werden versilberte Gartengeräte mit arthritisangepasstem Griff verkauft, Leselupen mit Edelsteinbesatz oder Medizintaschen aus Krokodilleder. Was sich so schwer verschönern lässt wie stählerne Gehgestelle, bekommt bei Gold Violin zumindest einen klangvollen Namen: Four Wheel Cruiser.

Die Alten sind oft anspruchsvoller als Jüngere: Wer den fünften Wagen kauft, erkennt eben mehr Macken als der Erstkäufer. Einig sind sich Marketingstrategen darin, dass diese Kunden viele Mühen lohnen: Allein die Menschen über 60 verfügen hierzulande über eine Kaufkraft von etwa 90 Milliarden Euro im Jahr. Fast immer wollen sie möglichst lange in ihrer vertrauten Umgebung bleiben, gut unterhalten werden und mobil sein. Immerhin 65 Prozent der Über-50-Jährigen sind nach eigenen Angaben in den vergangenen 12 Monaten in Urlaub gefahren. Kurzurlaube stehen hoch im Kurs. Schon haben sich kleine Hotelketten spezialisiert. In ihren Häusern sind die Badezimmer etwas größer, die Gänge hell beleuchtet, und die Speisekarten im Restaurant zeichnen sich durch große Buchstaben aus.

Gefragt ist auch alles, was hilft, körperliche Schwächen zu verzögern und zu lindern. Beiersdorf wagte sich schon Mitte der neunziger Jahre mit einer speziellen Gesichtspflege-Serie an die Frau ab 55. Für Nivea Vital warb keine 20-Jährige, sondern das damals 52-jährige Model Susanne Schöneborn. Einem langen Streit im Hause des Kosmetikherstellers, ob man eine Pflegeserie für Ältere überhaupt anbieten und offensiv bewerben solle, folgte eine Erfolgsgeschichte. Mit einem Anteil von 40 Prozent führt Nivea Vital heute den 80 Millionen Euro schweren „Gesamtmarkt Reife Haut“ an.

Lieferdienste, Putzkräfte, Einkaufshilfen und Hersteller technischer Geräte ermöglichen es den Alten, lange im eigenen Haus zu wohnen. In Zeitschriften wie ADAC-Motorwelt dominieren die Angebote für Treppenlifte, Elektromobile und Badewannen-Einstiegshilfen die Kleinanzeigen.

Viele Produktideen für den Haushalt kommen aus Japan, der ältesten Nation der Welt (siehe nebenstehenden Artikel). So bietet Nissan eine Rückfahrkamera für den Mittelklassewagen Primera. Sie springt an, sobald der Fahrer den Rückwärtsgang einlegt, und sendet ihr Bild auf ein Display in der Mittelkonsole: Einparken, leicht gemacht. In der alternden Gesellschaft müssen sich die Produkte tatsächlich den Menschen anpassen – der umgekehrte Weg funktioniert nicht mehr. So erzwingt die Alterung der Kundschaft Verbesserungen, von denen schließlich auch jüngere Konsumenten profitieren. Bestes Beispiel sind Getränkekartons mit Milch oder Orangensaft, die inzwischen meist eine Lasche zum Aufreißen und Wiederverschließen haben und den Verbraucher nicht mehr zwingen, mit der Schere zu hantieren.

„Als junger Mensch kann man sich nicht vorstellen, dass eine alte Dame eine Mineralwasserflasche einfach nicht aufbekommt“, sagt Hanne Meyer-Hentschel, „aber wenn man dazu eine Zange nehmen muss, ist das entwürdigend.“ Die Unternehmensberaterin aus Saarbrücken beschäftigt sich seit mehr als einem Jahrzehnt mit Seniorenmarketing. Ein noch größeres Problem als die Packung selbst stellt das dar, was draufsteht. Schon eine Suppendose ist eine Fundgrube klein gedruckter Unübersichtlichkeiten. Auf der 800-Gramm-Dose Erasco Westfälischer Linsen-Eintopf zum Beispiel sind mehrere Dutzend verschiedene Informationen untergebracht – vom Namen des Produkts über dessen Gewicht, Zutaten und Nährwerte bis hin zum Haltbarkeitsdatum, dem Grünen Punkt und dem Strichcode für den Kassenscanner. Das meiste davon sind gesetzlich vorgeschriebene Pflichtangaben. Hinzu kommt alles, was Hersteller freiwillig aufdrucken: Jodsiegel, Zahnmännchen, Stiftung-Warentest-Plaketten oder Gütezeichen.

Seniorenfreundliche Innovationen auf diesem Gebiet sind selten. Eine größere Schrift ist bei kleiner werdenden Verpackungen schlicht unmöglich. In der Schweiz will die Lebensmittelkette Coop dem Problem mit High Tech beikommen. Bis Ende nächsten Jahres werden drei Viertel der 1200 Filialen im Land mit Computerterminals bestückt. Die Kunden können die Packung an einen Scanner halten und dann auf einem Monitor nicht nur Pflichtangaben lesen, sondern auch Rezeptideen, Wein-Vorschläge und Infos zu möglichen Allergien abrufen. Kein Wunder: Die Schweiz hat vier Amtssprachen.

Ladenbesitzer könnten auch in Deutschland viel für die alten Kunden tun. Der Fußboden im Geschäft sollte rau sein, damit niemand ausrutscht. Und matt, damit er das Licht der Scheinwerfer nicht reflektiert. Überhaupt sollte es nur indirektes und damit blendfreies Licht geben, breite Gänge, Ruhezonen mit Stühlen, große Preisschilder und Regale, bei denen man sich weder bücken noch strecken muss. Doch leider: „Die meisten Händler setzen sich mit dem Thema nicht auseinander. Die haben schon heute genug Probleme, als dass sie sich auf die Zukunft konzentrierten“, sagt Wolfgang Gruschwitz, Inhaber eines Planungsbüros im oberbayerischen Gröbenzell, das sich auf „Ladenbau für Best Agers“ spezialisiert hat. Dennoch könnten vor allem die kleinen Läden in Wohngegenden und Innenstädten von kauffreudigen Senioren profitieren. „Die Einkaufszentren auf der grünen Wiese werden massive Probleme bekommen“, schätzt Handelsberater Eggert. Senioren gehen lieber um die Ecke oder im hübschen Altstadtkern einkaufen, als in Shopping-Zentren am Stadtrand zu fahren – oder sie bestellen im Internet. Vor allem die Altersgruppe zwischen 50 und 60 wird von Marketing-Strategen längst als „Silver Surfers“ umworben.

http://www.zeit.de/2003/04/Handel_und_Senioren

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