Erringen Union und FDP am 22. September die Mehrheit der Zweitstimmen, könnte sie dennoch eine Niederlage einstecken. Mit Überhangmandaten im Schlepptau hat Gerhard Schröder die Chance, Verlierer und dennoch Sieger zu sein. Das deutsche Wahlsystem lässt Kuriositäten zu. Wissenschaftler warnen vor dem politischen Super-GAU.
Berlin - Damit hatte Helmut Kohl nicht gerechnet. Im November 1994 ließ sich der CDU-Patriarch mit den Stimmen seiner CDU/CSU-FDP-Fraktion zum fünften Mal zum Kanzler wählen. Doch, und dies schmälerte Kohls Triumph, mindestens drei Mitglieder der Regierungskoalition verweigerten ihm die Gefolgschaft. Großes Glück für den Alt-Kanzler: Die Union konnte sich die Abtrünnigen leisten, weil die Partei 1994 über zehn Überhangmandate verfügte. Ohne sie wäre Kohls Wahl möglicherweise gescheitert.
Amerikanische Verhältnisse in Deutschland?
Auch nach dem 22. September könnten Überhangmandate wieder darüber entscheiden, wer Kanzler wird. Darauf weist der Politikwissenschaftler Joachim Behnke hin. "Szenarien, in denen Überhangmandate eine wichtige Rolle spielen, liegen durchaus im Rahmen der derzeit veröffentlichen Umfrageergebnisse", sagt der Dozent der Bamberger Otto-Friedrich-Universität.
Drei der fünf großen Meinungsforschungsinstitute prophezeien den Sozialdemokraten zurzeit einen hauchdünnen Vorsprung vor der Union. Die Demoskopen von Emnid sehen beide Parteien gleichauf; die Allensbacher Meinungsforscher sagen einen Sieg der Union voraus. Und je näher die beiden stärksten Parteien beieinander liegen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Überhangmandate den Weg an die Macht ebnen.
Diese entstehen immer dann, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erringt, als ihr nach ihrem proportionalem Zweistimmen-Anteil zustehen. So ermöglicht das bundesdeutsche System der personalisierten Verhältniswahl mit Erst- und Zweitstimme kuriose Szenarien.
Denkbar wäre sogar, dass nach der Wahl die beim Zweitstimmen-Anteil nur auf Rang zwei liegende Partei über eine Mehrheit der Sitze im Bundestag verfügen darf. Verhältnisse also wie in den USA, wo George W. Bush im Herbst 2000 landesweit weniger Stimmen für sich verbuchen konnte als sein Herausforderer Al Gore und dennoch als Präsident vereidigt wurde.
"Das Wahlergebnis", prophezeit auch der Ökonom Lorenz Jarass von der Fachhochschule Wiesbaden, "könnte durch die Überhangmandate völlig auf den Kopf gestellt werden". Jarass hat die diversen Szenarien schon einmal durchgerechnet - und sie sprechen letztlich fast alle für Rot-grün.
Wenn etwa die SPD genauso viele Überhangmandate wie vor vier Jahren erringt, nämlich 13, und die PDS draußen bleibt, dann könnte die Regierungskoalition über eine Million Stimmen (oder mehr als zwei Prozentpunkte) hinter dem Block von Union und FDP liegen - und hätte trotzdem die Mehrheit.
In solch einem Szenario könnte die Union mit 37,17 Prozent knapp vor der SPD (36,22 Prozent) liegen, die Liberalen würden mit 8,57 Prozent gut einen Prozentpunkt vor den Grünen rangieren - und dennoch hätten Edmund Stoiber und Guido Westerwelle das Nachsehen, ihr Block einen Sitz weniger als die Regierungskoaltion.
Auch wenn die SPD nur gut halb so viel Überhangmandate wie 1998 erringt, nämlich sieben - was angesichts ihres Vorsprungs im Osten durchaus wahrscheinlich ist - sieht es gut aus für Rot-grün: Mit 616 000 Zweitstimmen weniger hätten Schröder und Joschka Fischer in einem Bundestag ohne PDS einen Sitz mehr (303 zu 302) als die Opposition aus Union und Liberalen. Union und SPD lägen in dieser Rechenvariante praktisch gleichauf, und die Grünen rund einen Prozentpunkt hinter den Liberalen.
Sieger, die Verlierer sind
Politikwissenschaftler Behnke hielte dies für einen "demokratietheoretischen GAU", den größten anzunehmenden Politik-Unfall in einem Land, das sich doch stets seines durchdachten Wahlsystems rühmt. Der Wahlforscher warnt deswegen vor einer Sitzverteilung im Bundestag, "die den Menschen sehr schwer zu verkaufen wäre". Sieger, die eigentlich Verlierer sind, könnten den nächsten Bundeskanzler stellen. Die Hauptursache für die Gefahr eines nicht zu rechtfertigenden Wahlergebnisses sieht Behnke im komplizierten System der Überhangmandate.
Dabei klingen die Bestimmungen des Paragraphen 1 des Bundeswahlgesetzes noch ganz simpel. "Von den Abgeordneten werden 299 nach Kreiswahlvorschlägen in den Wahlkreisen und die Übrigen nach Landeswahlvorschlägen (Landeslisten) gewählt", heißt es dort. So setzen sich die 598 zu vergebenden Bundestagsmandate je zur Hälfte aus Direktkandidaten und Listenkandidaten zusammen. Aber die Überhangmandate kommen eben dazu.
Und sie haben sich bei den vergangenen Wahlen stetig vermehrt. Waren es 1990 noch sechs, konnte Helmut Kohl 1994 auf zehn von insgesamt 16 Überhangmandaten vertrauen. 1998 kehrte sich das Blatt zugunsten der SPD, die alle der dreizehn Überhangmandate der 14. Legislaturperiode für sich verbuchte. Auch am Montag kommender Woche, dem Tag der Bekanntgabe des amtlichen Wahlergebnisses, werden die zusätzlichen Bundestagsmandate wieder für Aufregung bei den Parteien sorgen, ist Politologe Behnke überzeugt.
Schröder profitiert von eigener juristischer Niederlage
Dabei waren die verantwortlichen Politiker und insbesondere Bundeswahlleiter Johann Hahlen bemüht, das Problem zu beseitigen, indem viele Wahlkreise einen neuen Zuschnitt erhielten. Vor allem in den neuen Bundesländern wurden sie vergrößert, um zu verhindern, dass mehr als 50 Prozent der auf ein Bundesland entfallenden Mandate von Direktkandidaten eingenommen werden. Das Problem allerdings besteht nach wie vor, denn im Osten konkurrieren im Gegensatz zum Westen drei annähernd gleich starke Parteien: CDU, SPD - und PDS. Ein Direktmandat, für das die relative Mehrheit ausreicht, kann hier bereits mit knapp über 30 Prozent der Erststimmen errungen werden.
Die SPD, die nach den Umfrageergebnissen der vergangenen Tage im Osten kräftig zulegte, hat die Chance, dort viele Direktmandate zu erringen. Der Zweitstimmenanteil der Sozialdemokraten jedoch könnte eine solche Anzahl von Mandaten nicht hergeben - ein klarer Fall für Überhangmandate. Kanzler Schröder darf sich die Hände reiben.
Noch 1997 war die Freude des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten allerdings getrübt. Helmut Kohl hatte 1994 von den Besonderheiten des deutschen Wahlsystems profitiert, und Schröders Landesregierung zog mit einem Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Überhangmandate zu Felde. Das zentrale Argument der Schröder-Juristen von damals lautete: Überhangmandate stellen die "Erfolgswertgleichheit" in Frage. Aus dem Juristen-Deutsch übersetzt und mit einem Beispiel unterfüttert, bedeutete dies: 1994 reichten der mit Überhangmandaten ausgestatteten Union durchschnittlich 65.942 Stimmen, um einen Sitz im Bundestag zu ergattern; die Grünen dagegen, die noch nie ein Direktmandat erringen konnten, mussten im selben Fall 69.884 Wähler für sich gewinnen.
Denkbar ist alles - auch der Super-GAU
Eine Ungerechtigkeit, wie der in Schröders Auftrag tätige Staatsrechtler Hans Meyer befand. "Das deutsche Wahlsystem ist unsinnig, weil absolut unstimmig", sagt Meyer noch heute. Deswegen warne er seit Jahren vor möglichen Wahldebakeln. Denn nach den grundgesetzlich festgelegten Wahlrechtsgrundsätzen müsste jede Wählerstimme eigentlich gleich viel wert sein. Doch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts tat sich mit der Beurteilung des Systems der Überhangsmandate schwer. Die acht Richter waren sich gänzlich uneinig. Vier gegen Vier und damit Patt. Am Wahlsystem wurde deswegen nicht gerüttelt. Heute kann der Kläger von damals froh sein, dass gegen seinen erklärten Willen entschieden wurde. Schließlich ist nun er es, den die Überhangmandatsregelung mit ordentlich Rückenwind für die Wahlen ausstattet.
Die Überhangmandate könnten Rot-Grün sogar dann die Regierungsbildung ermöglichen, wenn die PDS in den Bundestag einzieht, wie ein Szenario des Ökonomen Jarass ergibt: In dieser Variante - die nur einige Zehntel von der letzten Wahlumfrage von NFO-Infratest für den SPIEGEL abweicht - käme die SPD auf gut 38,46 Prozent und die Grünen auf 7,45. Die Union müsste sich mit 35,04 bescheiden, die FDP mit 8,39 und die PDS mit 4,77. Bei 13 Überhangmandaten für die Genossen hätte Stoiber trotzdem keine Mehrheit: Schröder könnte mit Rot-grün weiterregieren, oder - wenn der Überhang nicht ganz so üppig ausfällt - notfalls mit einer Ampel oder Rot-Gelb.
Reformbedürftiges Wahlsystem
Politikwissenschaftler Behnke sieht in all diesen Varianten des Wahlausgangs ein "riesiges Problem". Schließlich erhebe die Bundesrepublik den Anspruch, in ihrem Wahlsystem vollständige Stimmengleichheit verwirklicht zu haben. In den USA würden Verzerrungen des Wahlergebnisses von vornherein in Kauf genommen, weil die Bundesstaaten nicht nach der Bevölkerungszahl gewichtet werden. Selbst wenn Behnke die Gefahr, dass die Wahl hierzulande durch Überhangmandate entschieden wird, nur auf "zehn Prozent" beziffert, hält er das Wahlsystem für dringend reformbedürftig.
Es gebe genug Vorschläge und einfache Möglichkeiten, eventuelle Ungerechtigkeiten zu beseitigen - beispielsweise durch die Einführung so genannter Ausgleichsmandate, die es bereits auf Länderebene gibt. Sie erlauben Parteien zwar Überhangmandate, doch werden auch die anderen Parteien mit zusätzlichen Sitzen bedacht, um wieder die durch die Zweistimmen gebotene Sitzverteilung herzustellen. Ein Vorschlag, den Staatsrechtler Meyer am liebsten auch auf Bundesebene umgesetzt wissen möchte.
Ob es erst zum GAU kommen muss, damit die Parteien die möglichen Absurditäten des deutschen Wahlsystems begreifen? Wahrscheinlich schon. Aber auch dann gibt es ein Problem. Schließlich profitiert von den Überhangmandaten meistens die anschließende Regierungspartei. Und infolgedessen besteht bislang nicht der nötige Wille, etwas zu verändern. Möglich wäre das aber allemal: Die Festlegung auf ein bestimmtes Wahlsystem ist nicht im Grundgesetz verankert. Um Änderungen herbeizuführen, würde im Bundestag somit die einfache Mehrheit ausreichen.
Berlin - Damit hatte Helmut Kohl nicht gerechnet. Im November 1994 ließ sich der CDU-Patriarch mit den Stimmen seiner CDU/CSU-FDP-Fraktion zum fünften Mal zum Kanzler wählen. Doch, und dies schmälerte Kohls Triumph, mindestens drei Mitglieder der Regierungskoalition verweigerten ihm die Gefolgschaft. Großes Glück für den Alt-Kanzler: Die Union konnte sich die Abtrünnigen leisten, weil die Partei 1994 über zehn Überhangmandate verfügte. Ohne sie wäre Kohls Wahl möglicherweise gescheitert.
Amerikanische Verhältnisse in Deutschland?
Auch nach dem 22. September könnten Überhangmandate wieder darüber entscheiden, wer Kanzler wird. Darauf weist der Politikwissenschaftler Joachim Behnke hin. "Szenarien, in denen Überhangmandate eine wichtige Rolle spielen, liegen durchaus im Rahmen der derzeit veröffentlichen Umfrageergebnisse", sagt der Dozent der Bamberger Otto-Friedrich-Universität.
Drei der fünf großen Meinungsforschungsinstitute prophezeien den Sozialdemokraten zurzeit einen hauchdünnen Vorsprung vor der Union. Die Demoskopen von Emnid sehen beide Parteien gleichauf; die Allensbacher Meinungsforscher sagen einen Sieg der Union voraus. Und je näher die beiden stärksten Parteien beieinander liegen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Überhangmandate den Weg an die Macht ebnen.
Diese entstehen immer dann, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erringt, als ihr nach ihrem proportionalem Zweistimmen-Anteil zustehen. So ermöglicht das bundesdeutsche System der personalisierten Verhältniswahl mit Erst- und Zweitstimme kuriose Szenarien.
Denkbar wäre sogar, dass nach der Wahl die beim Zweitstimmen-Anteil nur auf Rang zwei liegende Partei über eine Mehrheit der Sitze im Bundestag verfügen darf. Verhältnisse also wie in den USA, wo George W. Bush im Herbst 2000 landesweit weniger Stimmen für sich verbuchen konnte als sein Herausforderer Al Gore und dennoch als Präsident vereidigt wurde.
"Das Wahlergebnis", prophezeit auch der Ökonom Lorenz Jarass von der Fachhochschule Wiesbaden, "könnte durch die Überhangmandate völlig auf den Kopf gestellt werden". Jarass hat die diversen Szenarien schon einmal durchgerechnet - und sie sprechen letztlich fast alle für Rot-grün.
Wenn etwa die SPD genauso viele Überhangmandate wie vor vier Jahren erringt, nämlich 13, und die PDS draußen bleibt, dann könnte die Regierungskoalition über eine Million Stimmen (oder mehr als zwei Prozentpunkte) hinter dem Block von Union und FDP liegen - und hätte trotzdem die Mehrheit.
In solch einem Szenario könnte die Union mit 37,17 Prozent knapp vor der SPD (36,22 Prozent) liegen, die Liberalen würden mit 8,57 Prozent gut einen Prozentpunkt vor den Grünen rangieren - und dennoch hätten Edmund Stoiber und Guido Westerwelle das Nachsehen, ihr Block einen Sitz weniger als die Regierungskoaltion.
Auch wenn die SPD nur gut halb so viel Überhangmandate wie 1998 erringt, nämlich sieben - was angesichts ihres Vorsprungs im Osten durchaus wahrscheinlich ist - sieht es gut aus für Rot-grün: Mit 616 000 Zweitstimmen weniger hätten Schröder und Joschka Fischer in einem Bundestag ohne PDS einen Sitz mehr (303 zu 302) als die Opposition aus Union und Liberalen. Union und SPD lägen in dieser Rechenvariante praktisch gleichauf, und die Grünen rund einen Prozentpunkt hinter den Liberalen.
Sieger, die Verlierer sind
Politikwissenschaftler Behnke hielte dies für einen "demokratietheoretischen GAU", den größten anzunehmenden Politik-Unfall in einem Land, das sich doch stets seines durchdachten Wahlsystems rühmt. Der Wahlforscher warnt deswegen vor einer Sitzverteilung im Bundestag, "die den Menschen sehr schwer zu verkaufen wäre". Sieger, die eigentlich Verlierer sind, könnten den nächsten Bundeskanzler stellen. Die Hauptursache für die Gefahr eines nicht zu rechtfertigenden Wahlergebnisses sieht Behnke im komplizierten System der Überhangmandate.
Dabei klingen die Bestimmungen des Paragraphen 1 des Bundeswahlgesetzes noch ganz simpel. "Von den Abgeordneten werden 299 nach Kreiswahlvorschlägen in den Wahlkreisen und die Übrigen nach Landeswahlvorschlägen (Landeslisten) gewählt", heißt es dort. So setzen sich die 598 zu vergebenden Bundestagsmandate je zur Hälfte aus Direktkandidaten und Listenkandidaten zusammen. Aber die Überhangmandate kommen eben dazu.
Und sie haben sich bei den vergangenen Wahlen stetig vermehrt. Waren es 1990 noch sechs, konnte Helmut Kohl 1994 auf zehn von insgesamt 16 Überhangmandaten vertrauen. 1998 kehrte sich das Blatt zugunsten der SPD, die alle der dreizehn Überhangmandate der 14. Legislaturperiode für sich verbuchte. Auch am Montag kommender Woche, dem Tag der Bekanntgabe des amtlichen Wahlergebnisses, werden die zusätzlichen Bundestagsmandate wieder für Aufregung bei den Parteien sorgen, ist Politologe Behnke überzeugt.
Schröder profitiert von eigener juristischer Niederlage
Dabei waren die verantwortlichen Politiker und insbesondere Bundeswahlleiter Johann Hahlen bemüht, das Problem zu beseitigen, indem viele Wahlkreise einen neuen Zuschnitt erhielten. Vor allem in den neuen Bundesländern wurden sie vergrößert, um zu verhindern, dass mehr als 50 Prozent der auf ein Bundesland entfallenden Mandate von Direktkandidaten eingenommen werden. Das Problem allerdings besteht nach wie vor, denn im Osten konkurrieren im Gegensatz zum Westen drei annähernd gleich starke Parteien: CDU, SPD - und PDS. Ein Direktmandat, für das die relative Mehrheit ausreicht, kann hier bereits mit knapp über 30 Prozent der Erststimmen errungen werden.
Die SPD, die nach den Umfrageergebnissen der vergangenen Tage im Osten kräftig zulegte, hat die Chance, dort viele Direktmandate zu erringen. Der Zweitstimmenanteil der Sozialdemokraten jedoch könnte eine solche Anzahl von Mandaten nicht hergeben - ein klarer Fall für Überhangmandate. Kanzler Schröder darf sich die Hände reiben.
Noch 1997 war die Freude des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten allerdings getrübt. Helmut Kohl hatte 1994 von den Besonderheiten des deutschen Wahlsystems profitiert, und Schröders Landesregierung zog mit einem Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Überhangmandate zu Felde. Das zentrale Argument der Schröder-Juristen von damals lautete: Überhangmandate stellen die "Erfolgswertgleichheit" in Frage. Aus dem Juristen-Deutsch übersetzt und mit einem Beispiel unterfüttert, bedeutete dies: 1994 reichten der mit Überhangmandaten ausgestatteten Union durchschnittlich 65.942 Stimmen, um einen Sitz im Bundestag zu ergattern; die Grünen dagegen, die noch nie ein Direktmandat erringen konnten, mussten im selben Fall 69.884 Wähler für sich gewinnen.
Denkbar ist alles - auch der Super-GAU
Eine Ungerechtigkeit, wie der in Schröders Auftrag tätige Staatsrechtler Hans Meyer befand. "Das deutsche Wahlsystem ist unsinnig, weil absolut unstimmig", sagt Meyer noch heute. Deswegen warne er seit Jahren vor möglichen Wahldebakeln. Denn nach den grundgesetzlich festgelegten Wahlrechtsgrundsätzen müsste jede Wählerstimme eigentlich gleich viel wert sein. Doch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts tat sich mit der Beurteilung des Systems der Überhangsmandate schwer. Die acht Richter waren sich gänzlich uneinig. Vier gegen Vier und damit Patt. Am Wahlsystem wurde deswegen nicht gerüttelt. Heute kann der Kläger von damals froh sein, dass gegen seinen erklärten Willen entschieden wurde. Schließlich ist nun er es, den die Überhangmandatsregelung mit ordentlich Rückenwind für die Wahlen ausstattet.
Die Überhangmandate könnten Rot-Grün sogar dann die Regierungsbildung ermöglichen, wenn die PDS in den Bundestag einzieht, wie ein Szenario des Ökonomen Jarass ergibt: In dieser Variante - die nur einige Zehntel von der letzten Wahlumfrage von NFO-Infratest für den SPIEGEL abweicht - käme die SPD auf gut 38,46 Prozent und die Grünen auf 7,45. Die Union müsste sich mit 35,04 bescheiden, die FDP mit 8,39 und die PDS mit 4,77. Bei 13 Überhangmandaten für die Genossen hätte Stoiber trotzdem keine Mehrheit: Schröder könnte mit Rot-grün weiterregieren, oder - wenn der Überhang nicht ganz so üppig ausfällt - notfalls mit einer Ampel oder Rot-Gelb.
Reformbedürftiges Wahlsystem
Politikwissenschaftler Behnke sieht in all diesen Varianten des Wahlausgangs ein "riesiges Problem". Schließlich erhebe die Bundesrepublik den Anspruch, in ihrem Wahlsystem vollständige Stimmengleichheit verwirklicht zu haben. In den USA würden Verzerrungen des Wahlergebnisses von vornherein in Kauf genommen, weil die Bundesstaaten nicht nach der Bevölkerungszahl gewichtet werden. Selbst wenn Behnke die Gefahr, dass die Wahl hierzulande durch Überhangmandate entschieden wird, nur auf "zehn Prozent" beziffert, hält er das Wahlsystem für dringend reformbedürftig.
Es gebe genug Vorschläge und einfache Möglichkeiten, eventuelle Ungerechtigkeiten zu beseitigen - beispielsweise durch die Einführung so genannter Ausgleichsmandate, die es bereits auf Länderebene gibt. Sie erlauben Parteien zwar Überhangmandate, doch werden auch die anderen Parteien mit zusätzlichen Sitzen bedacht, um wieder die durch die Zweistimmen gebotene Sitzverteilung herzustellen. Ein Vorschlag, den Staatsrechtler Meyer am liebsten auch auf Bundesebene umgesetzt wissen möchte.
Ob es erst zum GAU kommen muss, damit die Parteien die möglichen Absurditäten des deutschen Wahlsystems begreifen? Wahrscheinlich schon. Aber auch dann gibt es ein Problem. Schließlich profitiert von den Überhangmandaten meistens die anschließende Regierungspartei. Und infolgedessen besteht bislang nicht der nötige Wille, etwas zu verändern. Möglich wäre das aber allemal: Die Festlegung auf ein bestimmtes Wahlsystem ist nicht im Grundgesetz verankert. Um Änderungen herbeizuführen, würde im Bundestag somit die einfache Mehrheit ausreichen.