von Torsten Wöhlert
Ges(ch)ichtsloser Kanzler
KOMMENTARSchröders neue Peinlichkeit
In Washington, an einem der schönsten Orte der Stadt, steht das Lincoln Memorial. Geht man die große Freitreppe hinauf in die Halle mit der Statue des im amerikanischen Bürgerkrieg siegreichen Nordstaaten-Präsidenten, blickt einen Geschichte an: Ein übermächtiger Mann empfängt auf einer Art Thron sitzend die Besucher. An den Marmorwänden Zitate, die das liberale und humanistische Credo des Sklavenbefreiers belegen sollen. Wer jedoch links an Lincoln vorbei ins Innere des Memorials tritt und an einem bestimmten Punkt verharrt, erkennt im rückwärtigen Profil des hier Geehrten deutlich die Gesichtszüge seines erbittertsten Gegenspielers, des Südstaatengenerals Robert E. Lee.
Dieser "Zufall" ist zu plastisch, um wirklich zufällig zu sein: Er verrät ein ungewöhnliches Verständnis von Geschichte eines, von dem Gerhard Schröder lernen kann. Da haben die "Sieger der Geschichte" einem der ihren ein Denkmal gesetzt - und nicht vergessen, dem "Verlierer" ihren Respekt zu erweisen. Dahinter steht - ob nachträglich interpretiert oder nicht, ist eigentlich egal - die ebenso einfache wie wahre Einsicht: Wir wären nicht da, wo wir sind, ohne Euch.
Nun ist der amerikanische Bürgerkrieg, nicht zu vergleichen mit den Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges. Und dennoch: So gern wie Kanzler Schröder seit kurzem damit hausieren geht, dass Deutschland mehr Weltoffenheit demonstrieren sollte, so laut möchte man ihm zurufen: Dann fang zu Hause damit an! Was war das für eine peinliche Veranstaltung, als die deutsche Protokollabteilung den russischen Präsidenten in Berlin allein nach Treptow gehen ließ - zu jenem sowjetischen Ehrenmal, das an 48.000 gefallene Rotarmisten erinnert, die bei der Schlacht um Berlin ihr Leben ließen. Sie kamen und starben nicht als Eroberer, sondern als Befreier, weil die Schröders jenes Jahrgangs es nicht vermocht hatten, sich selbst von einer faschistischen Diktatur zu erlösen.
Hier geht es nicht um politische Ästhetik. Und auch nicht darum, dass Putin sich geweigert haben soll, an der Kohlschen Neuen Wache, die alle "Opfer von Terror und Gewaltherrschaft" ehren will, einen Kranz niederzulegen. Selbst Kohl hätte diese "Kröte" geschluckt und wäre nach Treptow gegangen. Der Mann hat ein Gespür für Historisches. Schröder hingegen gehen solche Regungen ab. Die Neue Mitte kennt statt historischem Bewusstsein ganz offensichtlich nur noch hemdsärmliges Selbstbewusstsein.
Wie glaubt ausgerechnet so ein Kanzler davon reden zu können, dass Deutschland internationaler werden soll?! Als wenn es mit Green Cards für Computerspezialisten getan wäre. Nein, Schröder hat sich als das erwiesen, was er ist: ein moderner deutscher Kleingeist, ein Machertyp, der es aus armen Verhältnissen bis ganz nach oben gebracht hat ohne deshalb wirklich an Statur zu gewinnen. Kein Enkel Willy Brandts. Der müsste im Grabe rotieren!
und jetzt noch ein paar fakten die ihr wegen dem hochwasser verdrägt.
Mit Rot-Grünem Hammer vernagelt
Schröders Kartenspiel
Das letzte Versprechen seiner Kampagne hatte Gerhard Schröder schon am Wahlabend eingelöst. "Der zehnte heißt Kohl", hatte der SPD-Kandidat als weiteren Grund auf eine kleine Garantiekarte gedruckt, warum diesmal die Sozialdemokraten die Regierung stellen sollten. "Bewahren Sie diese Karte auf, und Sie werden sehen, dass wir halten, was wir versprechen", so die vollmundige Ankündigung. Nun droht die raffinierte Idee wieder zum erfolgreichen Werbemittel zu werden - für die bürgerliche Opposition.
Denn bei den neun anderen Gründen kann von hundertprozentigem Erfolg keine Rede sein. Der größte Fortschritt ist gar verbunden mit dem gröbsten Vertrauensbruch. Auf der Habenseite der Regierung steht die Rentenreform. "Kohls Fehler korrigieren bei Renten", dass hatte die SPD versprochen - und gehalten. Doch ganz anders, als einst lautstark und polemisch propagiert.
Geschafft hat Rot-Grün den Einstieg in eine zusätzliche Säule der Alterssicherung, die private Vorsorge. Die hatte die Union jahrelang verweigert, auch nachdem (fast) allen klar war, dass die umlagefinanzierte Rente längst nicht mehr sicher war. Aber wie hat Rot-Grün diesen Fortschritt erkauft?
Den von Vorgänger Norbert Blüm eingeführten "demographischen Faktor" wollte Sozialminister Walter Riester abschaffen, weil er das Rentenniveau zu stark absenke. Nun heißt das Instrument anders, die Wirkung ist ähnlich. Gleich nach dem Amtsantritt hatte die Regierung noch mit einem flotten Eingriff die Renten für ein Jahr von der Lohnentwicklung abgekoppelt und die Alten mit einem Inflationsausgleich abgespeist. Für die Kassenlage durchaus wünschenswert, nur leider ein Wahlbetrug.
Die Privatvorsorge dagegen hat Rot-Grün so kompliziert konstruiert, dass es sich für viele Arbeitnehmer gar nicht lohnt, mit staatlicher Hilfe vorzusorgen. Denn die Auflagen für die Anbieter von Rentensparfonds sind so bürokratisch und streng, dass die Rendite drastisch sinkt. Manch herkömmliches Sparprodukt wirft bessere Renditen ab - auch ohne die opulenten öffentlichen Zuschüsse.
Bei der anderen Sozialversicherung, dem Gesundheitswesen, ist die Bilanz nicht besser. Formal alles erledigt, nur mit den Folgen haben Rot-Grün und die Bürger nun auf Jahre zu kämpfen. Chronisch Kranke müssen weniger zuzahlen - abgehakt. Jugendliche erhalten wieder Zahnersatz - auch abgehakt. Aber: Nach dem verordneten Ende der Budgetierung explodierten die Arzneiausgaben, die Kassen registrierten auch für 2001 ein höheres Defizit als erwartet, die Beitragssätze sind nicht gesunken, sondern weiter gestiegen.
Wie viel besser sind die Resultate doch bei den sogenannten weichen Themen, die Schröder "Gedöns" nennt. So konnte die stille Frauenministerin Christine Bergmann tatsächlich einiges für das "Aktionsprogramm Frau und Beruf" durchsetzen, beispielsweise ein Startgeld für Unternehmerinnen oder mehr Erziehungsurlaub. Die Vorschrift, dass Unternehmen bei gleicher Qualifikation zuerst Frauen statt Männer einstellen müssten, stoppten Wirtschaftsminister Müller und der Kanzler.
Auch gerechter sollte die Politik werden. Die Reformen bei Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die die Vorgängerregierung gegen harten Widerstand durchgesetzt hatte, machte Rot-Grün wieder rückgängig. Dazu kamen gleich noch ein strengeres Betriebsverfassungsgesetz, das Recht auf Teilzeit und neue Vorschriften über Zeitverträge. "Gemessen an den Flexibilitätsanforderungen", urteilt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, könnten alle diese Änderungen "nicht überzeugen".
Zwar hatte die SPD konkrete Angaben meist vermieden, doch wo es Zahlen gab, ging's prompt daneben. Die Investitionen in Bildung, Forschung und Wissenschaft wollte sie innerhalb von fünf Jahren verdoppeln. Noch ist nichts verloren - aber auch erst 21 Prozent in den ersten vier Jahren geschafft. Sollte es noch ein weiteres Jahr unter seiner Führung geben, müsste Schröder halt die restlichen versprochenen 80 Prozent schnell nachholen.
Besonders augenfällig kümmerte sich der Kanzler um die neuen Länder. "Chefsache" hatte er vollmundig getönt - aber auch Ehrensache? Zwar durchpflügte der SPD-Vorsitzende bei zwei sommerlichen Reisen die neuen Länder, schüttelte Hände, besichtigte Plattenbauten und Ex-Kombinate und traf sogar auf bislang unbekannte Ost-Cousinen. An der Lage zwischen Elbe und Oder aber änderte sich wenig. Im Vergleich zum Jahresdurchschnitt 1998 ging die Arbeitslosigkeit bis 2001 lediglich um 4.000 Menschen zurück. In den vergangenen zwei Jahren ist sie sogar noch gestiegen.
Familienpolitik: Krumm und schief
Am günstigsten, ermittelte das Meinungsforschungsinstitut infratest, sehen die Bürger die Leistungen in der Steuerpolitik. 58 Prozent der Befragten sind zufrieden. Mehr Steuergerechtigkeit hatte die SPD versprochen. Familien sollten um 2.500 Mark entlastet werden und mehr Kindergeld kassieren. Und auf den ersten Blick ist das auch aufgegangen. Die Eichelsche Steuerreform, auf mehrere Stufen verteilt, lässt beim Vergleich der Tarife zunächst tatsächlich mehr in der Tasche. Und das Kindergeld für die ersten beiden Kleinen stieg auf 300 Mark.
Beim genauen Hinsehen ist die Bilanz dagegen nicht so rosig. Zwar brachte die Regierung auf Druck des Bundesverfassungsgerichts einen Betreuungs-Freibetrag auf den Weg, doch der enthält so viele Haken und Ösen, dass er den Familien vielfach nichts nützt. Er kommt nur Doppelverdienern und Alleinerziehenden zugute. Weil aber im Gegenzug die Absetzbarkeit von Haushaltshilfen - im SPD-Kampfjargon Dienstmädchen-Privileg genannt - gestrichen wurde, ergeben sich skandalöse Auswirkungen für die Familien: Engagiert eine berufstätige Mutter eine Putzfrau, um sich nachmittags selbst um ihren Nachwuchs zu kümmern, kann sie die Raumpflegerin nicht bei der Steuer geltend machen. Greift sie dagegen selbst zu Schrubber und Staubwedel und schiebt ihre Kinder in fremde Hände ab, zahlt das Finanzamt einen Teil des Tagesmutter-Gehaltes zurück.
Der Haushaltsfreibetrag, der nur Alleinerziehenden zustand, und die Betreuung von Kindern während der Arbeitszeit abdecken sollte, diskriminiere verheiratete Eltern - das hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden. Beide Gruppen müssten gleich behandelt werden.
Der Vorgabe entledigte sich Rot-Grün nach der alten sozialistischen Manier - allen sollte es gleich schlecht gehen. Denn statt auch verheirateten Eltern den Betreuungsaufwand großzügig anzuerkennen, strich die Regierung auf Betreiben von Finanzminister Hans Eichel lieber für alle den Freibetrag. Nach Protesten bleibt er noch bis 2004 ungeschmälert, dann fällt er völlig weg. Auch den Ausbildungsfreibetrag strich die Regierungskoalition kräftig zusammen. Er gilt nur noch für Kinder über 18 Jahre, die nicht mehr bei den Eltern wohnen.
Ökosteuer: Rot-Grüner Hammer
Wie in den vergangenen Jahren unter der bürgerlichen Bundesregierung finanzieren die Eltern ihre Entlastung selbst - über höhere Mehrwertsteuerausgaben oder neuerdings über die Ökosteuer. Sie sollte den Energieverbrauch verteuern, die Einnahmen sollten in der Rentenversicherung niedrigere Beiträge bescheren. Doch unter dem Strich blieb davon kaum etwas für die Familien. Nicht nur, dass ein Teil der Einnahmen in Eichels Haushalt versickerte und gar nicht zur Entlastung bei der Sozialversicherung führte. Familien sind von den gestiegenen Energiekosten besonders stark betroffen.
Gerade die typische Familie mit nur einem Verdiener und mehreren Kindern zahlt kräftig drauf. Während der Arbeitnehmer durch die Umfinanzierung bei seinem Rentenbeitrag einmal entlastet wird, schlägt die Ökosteuer bei jedem Familienmitglied zu. Die Kinder fahren mit dem Bus zur Schule, planschen im Stadtbad, können schlechter mit Flugzeug oder Bahn in Urlaub reisen. Familien müssen im Winter größere Wohnungen heizen, verbrauchen mehr Licht. Überall stiegen aufgrund der höheren Steuerlast die Preise und öffentlichen Tarife. Kaum eine Steuer ist gegen die nachwachsende Generation so ungerecht und brutal wie das rot-grüne Lieblingsprojekt.
Die sogenannte Umweltabgabe, ein Kernstück der Schröderschen Steuerpolitik, ist inzwischen eine seiner schwersten Hypotheken. In den ersten fünf Jahren von 1999 bis 2003 spült sie 56 Milliarden Euro der Energieverbraucher in die Staatskasse. Die Grundidee, in den 70er Jahren von liberalen Ökonomen entwickelt, ist durchaus sinnvoll. Durch eine Steuer auf Energieverbrauch oder Umweltverschmutzung zahlt jeder mehr, der die Natur belastet. Mit dem Erlös, so das ursprüngliche Konzept, wird die Reparatur der Umweltschäden finanziert.
Rot-Grün machte aus dem umweltbewussten Finanzierungsinstrument ein simples grün lackiertes Abkassieren. Denn die deutsche Ökosteuer zielt nicht auf den Schutz der Natur, sondern auf die Rettung der Altersversicherung. Rasen für die Rente wurde zum geflügelten Wort.
Der Arbeitsmarkt - vernagelt
Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, in dem Schröder sich einen sicheren Sieg ausgerechnet hatte, ist nun zum Menetekel für die Regierungsarbeit des Niedersachsen geworden. Auf ihrer Garantiekarte hatte die SPD es zunächst im Ungefähren belassen. Ihr Versprechen: "Mehr Arbeitsplätze durch eine konzertierte Aktion für Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit" kann vieles heißen. In den beginnenden Aufschwung 1998 platzierte Schröder mit der Garantiekarte - und erst recht mit seinem Versprechen, die Arbeitslosigkeit auf 3,5 Millionen Menschen zu reduzieren - nach eigenen Vorstellungen den Grundstein für seine Wiederwahl. Ein ehrgeiziges Ziel sollte die Hoffnung der Wähler wecken - ein scheinbar ehrgeiziges Ziel. Gleichzeitig würden aber ab dem Amtsantritt der neuen Bundesregierung aufgrund des demographischen Wandels hunderttausende Menschen mehr aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, als junge nachwachsen. Eine Reduzierung der Unterbeschäftigung sollte also möglich sein - denn faktisch standen die Chancen dadurch nicht schlecht.
Das Ergebnis ist paradox. Die scheinbar schwierigere Zusage "mehr Arbeitsplätze" hat der Kanzler erreicht. Bei näherem Hinsehen ist das Jobwunder nicht mehr so beeindruckend. "Die Zahl der Erwerbstätigen ist gegenüber 1998 um 1,1 Milionen gestiegen", lobt sich Arbeitsminister Walter Riester immer wieder. Aktuell zählen die Statistiker 937.000 mehr Erwerbstätige mehr als zum Start von Rot-Grün, aber immerhin. Was der ehemalige Gewerkschaftsfunktionär verschweigt: Viele sind gar keine der sehnsüchtig verlangten Vollzeit-Arbeitsplätze, sondern lediglich Mini-Jobs. Etwa die Hälfte sind "630-Mark-Jobs", bestätigt Ministeriumssprecher Klaus Vater - freilich nur auf Nachfrage.
Denn tatsächlich ist die Arbeit in Deutschland weiter zusammengeschmolzen. Das geleistete Volumen sank im Jahr 2001 um ein Prozent. Dieses "im Hinblick auf die Erwerbstätigenzahl überraschende Ergebnis ist auf den größeren Anteil der geringfügigen Beschäftigung zurückzuführen", schreibt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Gutachten vom November 2001. Mehr noch: Die Gutachter - drei der "Fünf Weisen" hat Rot-Grün seit seinem Amtsantritt ernannt - kommen zu einem vernichtenden Urteil, weil neben den offiziellen Arbeitslosen auch noch 1,7 Millionen Menschen in Umschulungen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder im Vorruhestand geparkt und damit verdeckt ohne reguläre Arbeit sind: "Hier hat die Politik ihre Möglichkeiten nicht ausgenutzt, die in diesem Bereich beschlossenen politischen Maßnahmen trugen nicht zu einer Erhöhung der Beschäftigung bei." Im Vergleich zu den Daten bei Amtsantritt 1998 - allerdings im saisonal günstigeren Herbst - schoss die Zahl der Arbeitslosen bis Ende Februar 2002 in die Höhe: plus 324.000.
Als Schlüssel zum Arbeitsmarkt hatte Schröder das Bündnis für Arbeit ausersehen. "Eine konzertierte Aktion für Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit" sollte den Durchbruch bringen. Nach hundert Tagen jubelte die SPD, "Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften reden wieder miteinander". Das ist längst passé. Im Jahr 2001 saß das Bündnis gerade einmal zusammen, beim letzten Treffen gab es nicht mal mehr eines der meist nichtssagenden Kommuniqués.
Auch das Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit, ebenfalls Teil der SPD-Garantie, floriert nur qualitativ. Zwar kamen mittlerweile insgesamt rund eine halbe Million junger Menschen in den Genuss der drei Milliarden Euro, doch der langfristige Erfolg ist nur mittelmäßig. Ein Drittel der Jugendlichen fand im Anschluss tatsächlich einen regulären Job. Ein weiteres Drittel drehte in anderen Maßnahmen die nächste Warteschleife, und das übrige Drittel fiel direkt wieder in die Arbeitslosigkeit.
Kein Wunder, dass Arbeitsminister Walter Riester gleich mehrere Anläufe unternahm, die Arbeitslosenstatistik neu berechnen zu lassen. Ein Viertel der registrierten 4,3 Millionen seien nämlich für die Bundesanstalt für Arbeit in Wahrheit nur Karteileichen und suchten gar keinen Job. Jahrelang hatten Wissenschaftler und bürgerliche Politiker auch einen hohen Anteil von Drückebergern vermutet und dafür laute Schelte kassiert. Nun, kurz vor dem Wahltag, sollte Schröders Faulenzer-Debatte plötzlich quantifizierbare Folgen haben. Denn durch die neue Zählweise wäre die Summe der wirklich Suchenden auf wundersame Weise schlagartig sogar unter Schröders Versprecher-Marke von 3,5 Millionen gesaust. "Diese Regierung bekämpft nur noch die Statistik, aber nicht mehr die Arbeitslosigkeit", konnte Hermann-Josef Arentz, der Vorsitzende der CDU-Sozialausschüsse, triumphieren.
Zwar ist der Versuch, die Arbeitslosenstatistik zu bereinigen, gerade noch einmal gescheitert. Doch Schröder und seine Minister versuchen an vielen Stellen, durch plötzliche Neuberechnungen oder plumpe Täuschung die eigene Bilanz aufzupäppeln. Der Kanzler versucht sich in der Politik nach der 3-Wetter-Taft-Methode: Mehr Fülle, mehr Glanz - ganz gleich, wie stark der Gegenwind auch sein mag.
So möchte Finanzminister Hans Eichel plötzlich das Wachstum anders berechnen - nach dem in den USA üblichen "hedonischen Verfahren" (nein. Liebe Toskana-Fraktion: nicht "hedonistischen Verfahren"). Das Ziel: Die peinliche Schlusslicht-Debatte muss weg, weil sie die derzeit gefährlichste Waffe der Opposition ist. Kein Land steht bei Wachstum oder Verschuldung in der EU schlechter da als der einstige Musterknabe.
Anfangs schien der Kanzler noch mit seiner Ausrede durchzukommen, die Weltkonjunktur sei schuld an der desolaten Joblage. Doch dann fiel auf, dass alle anderen EU-Länder mit der weltweiten Krise besser zurecht kommen. Der Rückstand muss folglich hausgemacht sein. "Der spanische Premierminister, der vor fünf, sechs Jahren noch zu uns aufgeschaut hat, sagt mir: Wir haben einen Haushalt mit Nullverschuldung", berichtet der Unionskanzlerkandidat mit einer Mischung aus Scham und Wahlkampf-Vorfreude.
Um den "Blauen Brief" aus Brüssel, die Verwarnung wegen des drohenden Überschreitens der Maastrichter Stabilitätskriterien, zu vermeiden, ließ sich Eichel auf ein gefährliches Geschäft ein. Bis 2004, so die leichtsinnige Zusagen an die Kommission und die Partnerstaaten, werde Deutschland einen ausgeglichenen Staatshaushalt vorlegen. Um den eigenen Wahlkampf nicht zu gefährden, machte Eichel ein Geschäft zu Lasten Dritter. Den Konsolidierungsbeitrag sollen nämlich vor allem Länder und Gemeinden erbringen. Die verweisen darauf, von den rund 100 UMTS-Milliarden nichts abbekommen zu haben und auch ansonsten vom Bund ausgeplündert zu werden.
Inzwischen ist die Glaubwürdigkeit von Rot-Grün deutlich gesunken. Nur noch eine Minderheit erwartet vom Schröder-Kabinett die schwerstwiegenden Probleme lösen zu können. Fast 70 Prozent trauen es Finanzminister Hans Eichel nicht zu, sein Spar-Versprechen gegenüber der EU-Kommission einzuhalten, bis 2004 auf neue Schulden verzichten zu können. Keine Steuererhöhungen - diese Zusagen des einstigen Star-Ministers halten inzwischen 89 Prozent der vom infratest-Institut befragten Bürger für eine glatte Lüge. Selbst bei den eigenen Anhängern sieht es nicht besser aus - 84 Prozent der SPD-Fans würden auf Eichels Versprechen keinen Steuergroschen verwetten.
Dabei hatte der Kanzler so oft einen flotten Spruch auf den Lippen: "Wenn es einfach wäre, könnten es ja andere machen", begründete er seinen Anspruch, dass nur ein Supermann wie er für die Herkulesaufgabe der Sanierung Deutschlands in Frage komme. Nun aber entpuppt er sich als Schönwetter-Kanzler: Wenn's richtig schwierig wird, ist seine Bilanz mager.
Ges(ch)ichtsloser Kanzler
KOMMENTARSchröders neue Peinlichkeit
In Washington, an einem der schönsten Orte der Stadt, steht das Lincoln Memorial. Geht man die große Freitreppe hinauf in die Halle mit der Statue des im amerikanischen Bürgerkrieg siegreichen Nordstaaten-Präsidenten, blickt einen Geschichte an: Ein übermächtiger Mann empfängt auf einer Art Thron sitzend die Besucher. An den Marmorwänden Zitate, die das liberale und humanistische Credo des Sklavenbefreiers belegen sollen. Wer jedoch links an Lincoln vorbei ins Innere des Memorials tritt und an einem bestimmten Punkt verharrt, erkennt im rückwärtigen Profil des hier Geehrten deutlich die Gesichtszüge seines erbittertsten Gegenspielers, des Südstaatengenerals Robert E. Lee.
Dieser "Zufall" ist zu plastisch, um wirklich zufällig zu sein: Er verrät ein ungewöhnliches Verständnis von Geschichte eines, von dem Gerhard Schröder lernen kann. Da haben die "Sieger der Geschichte" einem der ihren ein Denkmal gesetzt - und nicht vergessen, dem "Verlierer" ihren Respekt zu erweisen. Dahinter steht - ob nachträglich interpretiert oder nicht, ist eigentlich egal - die ebenso einfache wie wahre Einsicht: Wir wären nicht da, wo wir sind, ohne Euch.
Nun ist der amerikanische Bürgerkrieg, nicht zu vergleichen mit den Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges. Und dennoch: So gern wie Kanzler Schröder seit kurzem damit hausieren geht, dass Deutschland mehr Weltoffenheit demonstrieren sollte, so laut möchte man ihm zurufen: Dann fang zu Hause damit an! Was war das für eine peinliche Veranstaltung, als die deutsche Protokollabteilung den russischen Präsidenten in Berlin allein nach Treptow gehen ließ - zu jenem sowjetischen Ehrenmal, das an 48.000 gefallene Rotarmisten erinnert, die bei der Schlacht um Berlin ihr Leben ließen. Sie kamen und starben nicht als Eroberer, sondern als Befreier, weil die Schröders jenes Jahrgangs es nicht vermocht hatten, sich selbst von einer faschistischen Diktatur zu erlösen.
Hier geht es nicht um politische Ästhetik. Und auch nicht darum, dass Putin sich geweigert haben soll, an der Kohlschen Neuen Wache, die alle "Opfer von Terror und Gewaltherrschaft" ehren will, einen Kranz niederzulegen. Selbst Kohl hätte diese "Kröte" geschluckt und wäre nach Treptow gegangen. Der Mann hat ein Gespür für Historisches. Schröder hingegen gehen solche Regungen ab. Die Neue Mitte kennt statt historischem Bewusstsein ganz offensichtlich nur noch hemdsärmliges Selbstbewusstsein.
Wie glaubt ausgerechnet so ein Kanzler davon reden zu können, dass Deutschland internationaler werden soll?! Als wenn es mit Green Cards für Computerspezialisten getan wäre. Nein, Schröder hat sich als das erwiesen, was er ist: ein moderner deutscher Kleingeist, ein Machertyp, der es aus armen Verhältnissen bis ganz nach oben gebracht hat ohne deshalb wirklich an Statur zu gewinnen. Kein Enkel Willy Brandts. Der müsste im Grabe rotieren!
und jetzt noch ein paar fakten die ihr wegen dem hochwasser verdrägt.
Mit Rot-Grünem Hammer vernagelt
Schröders Kartenspiel
Das letzte Versprechen seiner Kampagne hatte Gerhard Schröder schon am Wahlabend eingelöst. "Der zehnte heißt Kohl", hatte der SPD-Kandidat als weiteren Grund auf eine kleine Garantiekarte gedruckt, warum diesmal die Sozialdemokraten die Regierung stellen sollten. "Bewahren Sie diese Karte auf, und Sie werden sehen, dass wir halten, was wir versprechen", so die vollmundige Ankündigung. Nun droht die raffinierte Idee wieder zum erfolgreichen Werbemittel zu werden - für die bürgerliche Opposition.
Denn bei den neun anderen Gründen kann von hundertprozentigem Erfolg keine Rede sein. Der größte Fortschritt ist gar verbunden mit dem gröbsten Vertrauensbruch. Auf der Habenseite der Regierung steht die Rentenreform. "Kohls Fehler korrigieren bei Renten", dass hatte die SPD versprochen - und gehalten. Doch ganz anders, als einst lautstark und polemisch propagiert.
Geschafft hat Rot-Grün den Einstieg in eine zusätzliche Säule der Alterssicherung, die private Vorsorge. Die hatte die Union jahrelang verweigert, auch nachdem (fast) allen klar war, dass die umlagefinanzierte Rente längst nicht mehr sicher war. Aber wie hat Rot-Grün diesen Fortschritt erkauft?
Den von Vorgänger Norbert Blüm eingeführten "demographischen Faktor" wollte Sozialminister Walter Riester abschaffen, weil er das Rentenniveau zu stark absenke. Nun heißt das Instrument anders, die Wirkung ist ähnlich. Gleich nach dem Amtsantritt hatte die Regierung noch mit einem flotten Eingriff die Renten für ein Jahr von der Lohnentwicklung abgekoppelt und die Alten mit einem Inflationsausgleich abgespeist. Für die Kassenlage durchaus wünschenswert, nur leider ein Wahlbetrug.
Die Privatvorsorge dagegen hat Rot-Grün so kompliziert konstruiert, dass es sich für viele Arbeitnehmer gar nicht lohnt, mit staatlicher Hilfe vorzusorgen. Denn die Auflagen für die Anbieter von Rentensparfonds sind so bürokratisch und streng, dass die Rendite drastisch sinkt. Manch herkömmliches Sparprodukt wirft bessere Renditen ab - auch ohne die opulenten öffentlichen Zuschüsse.
Bei der anderen Sozialversicherung, dem Gesundheitswesen, ist die Bilanz nicht besser. Formal alles erledigt, nur mit den Folgen haben Rot-Grün und die Bürger nun auf Jahre zu kämpfen. Chronisch Kranke müssen weniger zuzahlen - abgehakt. Jugendliche erhalten wieder Zahnersatz - auch abgehakt. Aber: Nach dem verordneten Ende der Budgetierung explodierten die Arzneiausgaben, die Kassen registrierten auch für 2001 ein höheres Defizit als erwartet, die Beitragssätze sind nicht gesunken, sondern weiter gestiegen.
Wie viel besser sind die Resultate doch bei den sogenannten weichen Themen, die Schröder "Gedöns" nennt. So konnte die stille Frauenministerin Christine Bergmann tatsächlich einiges für das "Aktionsprogramm Frau und Beruf" durchsetzen, beispielsweise ein Startgeld für Unternehmerinnen oder mehr Erziehungsurlaub. Die Vorschrift, dass Unternehmen bei gleicher Qualifikation zuerst Frauen statt Männer einstellen müssten, stoppten Wirtschaftsminister Müller und der Kanzler.
Auch gerechter sollte die Politik werden. Die Reformen bei Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die die Vorgängerregierung gegen harten Widerstand durchgesetzt hatte, machte Rot-Grün wieder rückgängig. Dazu kamen gleich noch ein strengeres Betriebsverfassungsgesetz, das Recht auf Teilzeit und neue Vorschriften über Zeitverträge. "Gemessen an den Flexibilitätsanforderungen", urteilt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, könnten alle diese Änderungen "nicht überzeugen".
Zwar hatte die SPD konkrete Angaben meist vermieden, doch wo es Zahlen gab, ging's prompt daneben. Die Investitionen in Bildung, Forschung und Wissenschaft wollte sie innerhalb von fünf Jahren verdoppeln. Noch ist nichts verloren - aber auch erst 21 Prozent in den ersten vier Jahren geschafft. Sollte es noch ein weiteres Jahr unter seiner Führung geben, müsste Schröder halt die restlichen versprochenen 80 Prozent schnell nachholen.
Besonders augenfällig kümmerte sich der Kanzler um die neuen Länder. "Chefsache" hatte er vollmundig getönt - aber auch Ehrensache? Zwar durchpflügte der SPD-Vorsitzende bei zwei sommerlichen Reisen die neuen Länder, schüttelte Hände, besichtigte Plattenbauten und Ex-Kombinate und traf sogar auf bislang unbekannte Ost-Cousinen. An der Lage zwischen Elbe und Oder aber änderte sich wenig. Im Vergleich zum Jahresdurchschnitt 1998 ging die Arbeitslosigkeit bis 2001 lediglich um 4.000 Menschen zurück. In den vergangenen zwei Jahren ist sie sogar noch gestiegen.
Familienpolitik: Krumm und schief
Am günstigsten, ermittelte das Meinungsforschungsinstitut infratest, sehen die Bürger die Leistungen in der Steuerpolitik. 58 Prozent der Befragten sind zufrieden. Mehr Steuergerechtigkeit hatte die SPD versprochen. Familien sollten um 2.500 Mark entlastet werden und mehr Kindergeld kassieren. Und auf den ersten Blick ist das auch aufgegangen. Die Eichelsche Steuerreform, auf mehrere Stufen verteilt, lässt beim Vergleich der Tarife zunächst tatsächlich mehr in der Tasche. Und das Kindergeld für die ersten beiden Kleinen stieg auf 300 Mark.
Beim genauen Hinsehen ist die Bilanz dagegen nicht so rosig. Zwar brachte die Regierung auf Druck des Bundesverfassungsgerichts einen Betreuungs-Freibetrag auf den Weg, doch der enthält so viele Haken und Ösen, dass er den Familien vielfach nichts nützt. Er kommt nur Doppelverdienern und Alleinerziehenden zugute. Weil aber im Gegenzug die Absetzbarkeit von Haushaltshilfen - im SPD-Kampfjargon Dienstmädchen-Privileg genannt - gestrichen wurde, ergeben sich skandalöse Auswirkungen für die Familien: Engagiert eine berufstätige Mutter eine Putzfrau, um sich nachmittags selbst um ihren Nachwuchs zu kümmern, kann sie die Raumpflegerin nicht bei der Steuer geltend machen. Greift sie dagegen selbst zu Schrubber und Staubwedel und schiebt ihre Kinder in fremde Hände ab, zahlt das Finanzamt einen Teil des Tagesmutter-Gehaltes zurück.
Der Haushaltsfreibetrag, der nur Alleinerziehenden zustand, und die Betreuung von Kindern während der Arbeitszeit abdecken sollte, diskriminiere verheiratete Eltern - das hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden. Beide Gruppen müssten gleich behandelt werden.
Der Vorgabe entledigte sich Rot-Grün nach der alten sozialistischen Manier - allen sollte es gleich schlecht gehen. Denn statt auch verheirateten Eltern den Betreuungsaufwand großzügig anzuerkennen, strich die Regierung auf Betreiben von Finanzminister Hans Eichel lieber für alle den Freibetrag. Nach Protesten bleibt er noch bis 2004 ungeschmälert, dann fällt er völlig weg. Auch den Ausbildungsfreibetrag strich die Regierungskoalition kräftig zusammen. Er gilt nur noch für Kinder über 18 Jahre, die nicht mehr bei den Eltern wohnen.
Ökosteuer: Rot-Grüner Hammer
Wie in den vergangenen Jahren unter der bürgerlichen Bundesregierung finanzieren die Eltern ihre Entlastung selbst - über höhere Mehrwertsteuerausgaben oder neuerdings über die Ökosteuer. Sie sollte den Energieverbrauch verteuern, die Einnahmen sollten in der Rentenversicherung niedrigere Beiträge bescheren. Doch unter dem Strich blieb davon kaum etwas für die Familien. Nicht nur, dass ein Teil der Einnahmen in Eichels Haushalt versickerte und gar nicht zur Entlastung bei der Sozialversicherung führte. Familien sind von den gestiegenen Energiekosten besonders stark betroffen.
Gerade die typische Familie mit nur einem Verdiener und mehreren Kindern zahlt kräftig drauf. Während der Arbeitnehmer durch die Umfinanzierung bei seinem Rentenbeitrag einmal entlastet wird, schlägt die Ökosteuer bei jedem Familienmitglied zu. Die Kinder fahren mit dem Bus zur Schule, planschen im Stadtbad, können schlechter mit Flugzeug oder Bahn in Urlaub reisen. Familien müssen im Winter größere Wohnungen heizen, verbrauchen mehr Licht. Überall stiegen aufgrund der höheren Steuerlast die Preise und öffentlichen Tarife. Kaum eine Steuer ist gegen die nachwachsende Generation so ungerecht und brutal wie das rot-grüne Lieblingsprojekt.
Die sogenannte Umweltabgabe, ein Kernstück der Schröderschen Steuerpolitik, ist inzwischen eine seiner schwersten Hypotheken. In den ersten fünf Jahren von 1999 bis 2003 spült sie 56 Milliarden Euro der Energieverbraucher in die Staatskasse. Die Grundidee, in den 70er Jahren von liberalen Ökonomen entwickelt, ist durchaus sinnvoll. Durch eine Steuer auf Energieverbrauch oder Umweltverschmutzung zahlt jeder mehr, der die Natur belastet. Mit dem Erlös, so das ursprüngliche Konzept, wird die Reparatur der Umweltschäden finanziert.
Rot-Grün machte aus dem umweltbewussten Finanzierungsinstrument ein simples grün lackiertes Abkassieren. Denn die deutsche Ökosteuer zielt nicht auf den Schutz der Natur, sondern auf die Rettung der Altersversicherung. Rasen für die Rente wurde zum geflügelten Wort.
Der Arbeitsmarkt - vernagelt
Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, in dem Schröder sich einen sicheren Sieg ausgerechnet hatte, ist nun zum Menetekel für die Regierungsarbeit des Niedersachsen geworden. Auf ihrer Garantiekarte hatte die SPD es zunächst im Ungefähren belassen. Ihr Versprechen: "Mehr Arbeitsplätze durch eine konzertierte Aktion für Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit" kann vieles heißen. In den beginnenden Aufschwung 1998 platzierte Schröder mit der Garantiekarte - und erst recht mit seinem Versprechen, die Arbeitslosigkeit auf 3,5 Millionen Menschen zu reduzieren - nach eigenen Vorstellungen den Grundstein für seine Wiederwahl. Ein ehrgeiziges Ziel sollte die Hoffnung der Wähler wecken - ein scheinbar ehrgeiziges Ziel. Gleichzeitig würden aber ab dem Amtsantritt der neuen Bundesregierung aufgrund des demographischen Wandels hunderttausende Menschen mehr aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, als junge nachwachsen. Eine Reduzierung der Unterbeschäftigung sollte also möglich sein - denn faktisch standen die Chancen dadurch nicht schlecht.
Das Ergebnis ist paradox. Die scheinbar schwierigere Zusage "mehr Arbeitsplätze" hat der Kanzler erreicht. Bei näherem Hinsehen ist das Jobwunder nicht mehr so beeindruckend. "Die Zahl der Erwerbstätigen ist gegenüber 1998 um 1,1 Milionen gestiegen", lobt sich Arbeitsminister Walter Riester immer wieder. Aktuell zählen die Statistiker 937.000 mehr Erwerbstätige mehr als zum Start von Rot-Grün, aber immerhin. Was der ehemalige Gewerkschaftsfunktionär verschweigt: Viele sind gar keine der sehnsüchtig verlangten Vollzeit-Arbeitsplätze, sondern lediglich Mini-Jobs. Etwa die Hälfte sind "630-Mark-Jobs", bestätigt Ministeriumssprecher Klaus Vater - freilich nur auf Nachfrage.
Denn tatsächlich ist die Arbeit in Deutschland weiter zusammengeschmolzen. Das geleistete Volumen sank im Jahr 2001 um ein Prozent. Dieses "im Hinblick auf die Erwerbstätigenzahl überraschende Ergebnis ist auf den größeren Anteil der geringfügigen Beschäftigung zurückzuführen", schreibt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Gutachten vom November 2001. Mehr noch: Die Gutachter - drei der "Fünf Weisen" hat Rot-Grün seit seinem Amtsantritt ernannt - kommen zu einem vernichtenden Urteil, weil neben den offiziellen Arbeitslosen auch noch 1,7 Millionen Menschen in Umschulungen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder im Vorruhestand geparkt und damit verdeckt ohne reguläre Arbeit sind: "Hier hat die Politik ihre Möglichkeiten nicht ausgenutzt, die in diesem Bereich beschlossenen politischen Maßnahmen trugen nicht zu einer Erhöhung der Beschäftigung bei." Im Vergleich zu den Daten bei Amtsantritt 1998 - allerdings im saisonal günstigeren Herbst - schoss die Zahl der Arbeitslosen bis Ende Februar 2002 in die Höhe: plus 324.000.
Als Schlüssel zum Arbeitsmarkt hatte Schröder das Bündnis für Arbeit ausersehen. "Eine konzertierte Aktion für Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit" sollte den Durchbruch bringen. Nach hundert Tagen jubelte die SPD, "Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften reden wieder miteinander". Das ist längst passé. Im Jahr 2001 saß das Bündnis gerade einmal zusammen, beim letzten Treffen gab es nicht mal mehr eines der meist nichtssagenden Kommuniqués.
Auch das Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit, ebenfalls Teil der SPD-Garantie, floriert nur qualitativ. Zwar kamen mittlerweile insgesamt rund eine halbe Million junger Menschen in den Genuss der drei Milliarden Euro, doch der langfristige Erfolg ist nur mittelmäßig. Ein Drittel der Jugendlichen fand im Anschluss tatsächlich einen regulären Job. Ein weiteres Drittel drehte in anderen Maßnahmen die nächste Warteschleife, und das übrige Drittel fiel direkt wieder in die Arbeitslosigkeit.
Kein Wunder, dass Arbeitsminister Walter Riester gleich mehrere Anläufe unternahm, die Arbeitslosenstatistik neu berechnen zu lassen. Ein Viertel der registrierten 4,3 Millionen seien nämlich für die Bundesanstalt für Arbeit in Wahrheit nur Karteileichen und suchten gar keinen Job. Jahrelang hatten Wissenschaftler und bürgerliche Politiker auch einen hohen Anteil von Drückebergern vermutet und dafür laute Schelte kassiert. Nun, kurz vor dem Wahltag, sollte Schröders Faulenzer-Debatte plötzlich quantifizierbare Folgen haben. Denn durch die neue Zählweise wäre die Summe der wirklich Suchenden auf wundersame Weise schlagartig sogar unter Schröders Versprecher-Marke von 3,5 Millionen gesaust. "Diese Regierung bekämpft nur noch die Statistik, aber nicht mehr die Arbeitslosigkeit", konnte Hermann-Josef Arentz, der Vorsitzende der CDU-Sozialausschüsse, triumphieren.
Zwar ist der Versuch, die Arbeitslosenstatistik zu bereinigen, gerade noch einmal gescheitert. Doch Schröder und seine Minister versuchen an vielen Stellen, durch plötzliche Neuberechnungen oder plumpe Täuschung die eigene Bilanz aufzupäppeln. Der Kanzler versucht sich in der Politik nach der 3-Wetter-Taft-Methode: Mehr Fülle, mehr Glanz - ganz gleich, wie stark der Gegenwind auch sein mag.
So möchte Finanzminister Hans Eichel plötzlich das Wachstum anders berechnen - nach dem in den USA üblichen "hedonischen Verfahren" (nein. Liebe Toskana-Fraktion: nicht "hedonistischen Verfahren"). Das Ziel: Die peinliche Schlusslicht-Debatte muss weg, weil sie die derzeit gefährlichste Waffe der Opposition ist. Kein Land steht bei Wachstum oder Verschuldung in der EU schlechter da als der einstige Musterknabe.
Anfangs schien der Kanzler noch mit seiner Ausrede durchzukommen, die Weltkonjunktur sei schuld an der desolaten Joblage. Doch dann fiel auf, dass alle anderen EU-Länder mit der weltweiten Krise besser zurecht kommen. Der Rückstand muss folglich hausgemacht sein. "Der spanische Premierminister, der vor fünf, sechs Jahren noch zu uns aufgeschaut hat, sagt mir: Wir haben einen Haushalt mit Nullverschuldung", berichtet der Unionskanzlerkandidat mit einer Mischung aus Scham und Wahlkampf-Vorfreude.
Um den "Blauen Brief" aus Brüssel, die Verwarnung wegen des drohenden Überschreitens der Maastrichter Stabilitätskriterien, zu vermeiden, ließ sich Eichel auf ein gefährliches Geschäft ein. Bis 2004, so die leichtsinnige Zusagen an die Kommission und die Partnerstaaten, werde Deutschland einen ausgeglichenen Staatshaushalt vorlegen. Um den eigenen Wahlkampf nicht zu gefährden, machte Eichel ein Geschäft zu Lasten Dritter. Den Konsolidierungsbeitrag sollen nämlich vor allem Länder und Gemeinden erbringen. Die verweisen darauf, von den rund 100 UMTS-Milliarden nichts abbekommen zu haben und auch ansonsten vom Bund ausgeplündert zu werden.
Inzwischen ist die Glaubwürdigkeit von Rot-Grün deutlich gesunken. Nur noch eine Minderheit erwartet vom Schröder-Kabinett die schwerstwiegenden Probleme lösen zu können. Fast 70 Prozent trauen es Finanzminister Hans Eichel nicht zu, sein Spar-Versprechen gegenüber der EU-Kommission einzuhalten, bis 2004 auf neue Schulden verzichten zu können. Keine Steuererhöhungen - diese Zusagen des einstigen Star-Ministers halten inzwischen 89 Prozent der vom infratest-Institut befragten Bürger für eine glatte Lüge. Selbst bei den eigenen Anhängern sieht es nicht besser aus - 84 Prozent der SPD-Fans würden auf Eichels Versprechen keinen Steuergroschen verwetten.
Dabei hatte der Kanzler so oft einen flotten Spruch auf den Lippen: "Wenn es einfach wäre, könnten es ja andere machen", begründete er seinen Anspruch, dass nur ein Supermann wie er für die Herkulesaufgabe der Sanierung Deutschlands in Frage komme. Nun aber entpuppt er sich als Schönwetter-Kanzler: Wenn's richtig schwierig wird, ist seine Bilanz mager.