Vatikan
"Die Schatten des Abends"
Nach über 23 Jahren auf dem Stuhl Petri ist Johannes Paul II. auf dem Höhepunkt seiner Popularität und am Ende seiner Kraft. Zwar ist das Thema Rücktritt offiziell tabu - doch im Vatikan wird schon heftig die Zukunft geplant: Seilschaften formieren sich, Namen werden lanciert.
Der Brief kam von einem neunjährigen Mädchen. Aber statt in der Abteilung für päpstliche Nullachtfünfzehn-Antworten zu landen, wie das Gros der Fanpost, erreichte er Monsignore Pedro López Quintana. Der ist die Nummer vier im Staatssekretariat des Vatikans.
Sie habe den "lieben Papst" im Fernsehen leiden gesehen, unfähig zu laufen, schrieb die Kleine, und habe ihren Papa gebeten, sofort etwas zu tun.
Papa ist Italiens Marktführer für Behinderten-Technik und entwickelte umgehend einen Spezial-Rollstuhl für Johannes Paul II.: die Batterien extrem stark, die Federn besonders weich, Rückenlehnen und Sitz verstellbar. Und, der Clou der Konstruktion, das Gefährt lässt sich auf 1,50 Meter Höhe liften, wenn der Fahrer sich allseitig präsentieren will.
Freundlich zugelächelt habe der Papst Vater und Töchterchen, heißt es, als die ihm das Hightech-Gerät nach Rom brachten und zur Belohnung eine Audienz bekamen. Aber anschauen wollte er es nicht, nicht darüber reden und es schon gar nicht benutzen. So wurde das weiß lackierte Meisterwerk zu den anderen Rollstühlen gebracht, die dem Katholiken-Oberhaupt in den letzten Wochen angedient wurden. Inzwischen sollen es 15 sein.
Noch will Papst Johannes Paul II., 81, von einem Rollstuhl nichts hören. Doch schon bald, fürchten seine Helfer im Vatikan, werde er auch dieses Martyrium tragen müssen.
"Der Papst im Rollstuhl? Das hätte nichts Negatives", bereitet Kardinal Ersilio Tonini vorsorglich das Terrain, "im Gegenteil, es wäre ein ungeheuer starkes Symbol." Jedenfalls wäre es kein Anlass, meint der 87-jährige Tonini, über den Rücktritt des Katholiken-Oberhaupts zu spekulieren.
Dabei wird gerade im Vatikan, allen Dementis zum Trotz, darüber längst mehr diskutiert und spekuliert als über jedes andere Thema. Schon haben die Seilschaften und Fraktionen begonnen, sich in aller Stille und Diskretion zu ordnen und zu verständigen. Sie rüsten sich für die Zeit nach Karol Wojtyla.
Das US-Magazin "Newsweek" zitierte einen anonymen Kardinal, der Papst lese vor und unterschreibe, "was immer sie ihm geben". Quatsch, sagen andere, Johannes Paul II. sei geistig und mental topfit, starrsinnig und entscheidungsfreudig wie eh und je. Er spreche vielleicht weniger als früher, hat Kardinal Joseph Ratzinger beobachtet, aber seine Fragen seien so präzise wie sein Gedächtnis. Er habe "die wesentlichen Fäden in Händen" und treffe "die wesentlichen Entscheidungen persönlich".
Doch ausgerechnet von der konservativen Vatikan-Truppe, zu der auch Ratzinger, der Chef der Glaubenskongregation, zählt, sei der Papst in den letzten Wochen mehrfach zum Rücktritt gedrängt worden, berichten Insider. Waren es vor zwei Jahren eher liberale Kirchenmänner, wie der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, die das Tabuthema Rücktritt öffentlich ansprachen und dafür heftig gedeckelt wurden, sind es nun ihre kirchlichen Antipoden.
Seit der Papst seinen Kreuzzug gegen den Kommunismus siegreich beendet und sich der Kritik eines ungehemmten Kapitalismus verschrieben hat, geht er seinen einst eifrigsten Bewunderern auf die Nerven. Auch, dass Wojtyla sich im Namen der Kirche "bei allen und jedem für alles und jedes" entschuldige, findet der rechte Rand der Kurie unpassend. Sein Appell an die USA, für Frieden in Israel zu sorgen, scheint ihnen "unausgewogen", will heißen: zu palästinenserfreundlich.
Aber Johannes Paul II. will seinen mäkelnden Vasallen nicht zu Gefallen sein. "Bei wem", fragt er, "sollte ich denn meinen Rücktritt erklären?" Und dem chilenischen Kardinal Jorge Arturo Medina Estévez antwortete er auf die Frage, warum er sich weiter quäle: "Auch Jesus ist nicht vom Kreuz herabgestiegen."
Doch insgeheim habe auch er sich für den Tag X gerüstet, wollen Vatikan-Gerüchte wissen: Ein Rücktrittsbrief des Papstes liege unterschrieben bereit, für den Fall, dass er nicht mehr sprechen könne.
Abwegig ist das nicht. Jeder kann sehen, via Fernsehen weltweit, wie der Mann leidet, wenn er sich zur Messe schleppt, am ganzen Körper zitternd, sich in den Stuhl kauert. Der Kopf ist schwer, die Stimme schwach. Oft sind seine Worte unverständlich.
Nur mit hohen Dosen Antibiotika und Cortison schaffte er sein Oster-Pensum. Ständig plagen ihn Unterleibsschmerzen - Spätfolgen des Attentats von 1981 und zweier Tumoroperationen am Darm. Eine künstliche Hüfte macht ihm zu schaffen. Die Parkinsonsche Krankheit, vor neun Jahren ausgebrochen, rafft ihn sichtlich dahin. Verletzungen, Operationen, Schmerzen haben aus dem athletischen Sportsmann von einst einen schwer behinderten Greis gemacht. Aber der "Marathonmann Gottes", wie die Medien ihn tauften, hält auch die letzten Meter eisern durch.
Im Mai will er nach Bulgarien reisen, im Juli ins kanadische Toronto zum Weltjugendtag, anschließend Mexiko und Guatemala besuchen. Im August steht Polen auf dem Reiseplan. Nur weiß derzeit keiner, wie Johannes Paul II. die Treppe zum Flugzeug bewältigen will.
Sein Tross hat immer größere Mühen, das, was der Chef tun will, in Einklang zu bringen mit dem, was er noch tun kann. Sie ebnen Kirchenstufen ein, setzen flache Podeste neben allzu steile Altare, schieben ihn auf mobilen Plattformen hin und her. Aber sein Bewegungsspielraum wird ständig kleiner.
Scheinbar paradox: Je schwächer "die ergreifendste Ikone menschlichen Schmerzes" (so der Bischof von Civitavecchia, Girolamo Grillo) sich präsentiert, umso populärer wird dieser Karol Wojtyla.
Seit die Welt an seinem Kampf gegen Krankheit und Alter teilhaben darf, liefert Kardinal Tonini die Erklärung, "erreicht er das Bewusstsein aller".
"Kein anderer Mensch in der Geschichte ist je von so vielen Zeitgenossen live erlebt worden", so Wojtyla-Biograf Jan Roß, "in einer endlosen, den Globus umspannenden Serie von Glaubens-Woodstocks." Johannes Paul II. hat eine sklerotische Kirche auf Mission getrimmt. Er hat gegen den Kommunismus wie gegen den kapitalistischen Way of Life gekämpft. Er hat als erster Papst eine jüdische Synagoge besucht und Muslime "Brüder" genannt. Er ist weiter gereist als alle 263 Vorgänger zusammen - immer vorneweg mit seiner höchstpersönlichen Glaubensfahne. So ist er für viele, auch Nichtkatholiken, zu einer moralischen Instanz in einer unmoralischen Welt geworden. Jugendliche Papst-Anhänger - in Italien "Papa-Boys" genannt - demonstrierten gemeinsam mit "No Global"-Protestlern in Genua wie mit Drittweltgruppen in Mexiko.
Was kann, eines fernen oder nahen Tages, nach ihm noch kommen? Viele im Vatikan treibt die Sorge vor dem großen schwarzen Loch um, vor dem Rückfall in eine päpstliche Normalität nach dem historischen Sonderfall. Denn wer wollte, wer könnte im Vergleich mit dem charismatischen Polen bestehen?
Es müsse einer sein, "der, wie Wojtyla, fähig ist, die Welt zu bereisen", fordert Kardinal Tonini. Einer, der weiter missioniert und nicht nur erhält, pflichtet sein slowakischer Kollege Jozef Tomko bei. Aber andere halten dagegen: Die 95 Reisen und 1 123 607 Kilometer in Wojtylas über 23-jähriger Amtszeit seien ohnehin unerreichbar, unvergleichbar.
Deshalb sollte der nächste Papst sich eher um die römische Kirchenverwaltung kümmern, die Johannes Paul II. nie interessiert hat. Er könnte die Kirche im Inneren modernisieren, von antiquierten Teufels- und Marienkulten, zum Beispiel, befreien, von denen Wojtyla nicht lassen will. Vor allem jüngere und liberale Vatikan-Priester hoffen darauf, dass er die zweitausendjährige Glaubensinstitution den Realitäten im dritten Jahrtausend anpasst und viele Gläubige aus Gewissensnöten befreit, etwa bei den dogmatisch-starren Kirchenregeln zu Abtreibung und Empfängnisverhütung.
Einen eher Alten wollen die einen, als Mann des Übergangs; einen Jungen, mit einem Horizont wie einst der 58-jährige Wojtyla, ziehen andere vor. Und: Soll es nach dem ersten Slawen der Kirchengeschichte wieder einer aus dem mächtigen italienischen Kardinalskollegium sein - oder gar einer mit schwarzer Haut?
Ausgerechnet der Wortführer des erzkonservativen Flügels, der deutsche Kardinal Joseph Ratzinger, machte sich in einem "Welt"-Interview Anfang April stark für einen Papst aus Afrika: "Das wäre ein schönes Zeichen für die gesamte Christenheit." An Papst-fähigen Kandidaten jedenfalls sei dort kein Mangel.
Als "papabile" werden zum Beispiel der Nigerianer Francis Arinze, 69, oder Kardinal Bernardin Gantin aus Benin immer wieder gehandelt. Gantin freilich wird im Mai 80 Jahre alt.
Des Deutschen Plädoyer überraschte vor allem seine Freunde, erwarten doch ganz andere die Protektion des Ratzinger-Blocks im Vatikan. Zu ihnen gehören etwa die mächtigen italienischen Kardinäle Giovanni Battista Re, Präfekt der Bischofskongregation, und Camillo Ruini, Präsident der italienischen Bischofskonferenz und Stellvertreter des Papstes als Bischof von Rom. Oder die Lateinamerikaner Cláudio Hummes, Darío Castrillón Hoyos und Lucas Moreira Neves wie auch der Wiener Christoph Schönborn.
Der Österreicher, mit 57 Jahren zweitjüngster Kardinal, ist auch in der politischen Mitte der römisch-katholischen Purpurträger wohlangesehen. Die Favoriten dieser "Zentristen" indes sind der Genueser Kardinal Dionigi Tettamanzi, 68, und der Shooting-Star aus Honduras, Oscar Andrés Rodríguez Maradiaga, 59.
Ein Kandidat der Mitte hat freilich nur Chancen, wenn er entweder die "Dogmatiker" für sich einnimmt - was etwa Tettamanzi kaum gelingen dürfte, seit er sich positiv über die Globalisierungskritiker beim G-8-Gipfel von Genua äußerte - oder den progressiven Flügel im Kirchenstaat überzeugt. Das allerdings ist eine sehr heterogene Gruppe - verbunden durch die Ablehnung von vielem Althergebrachten, aber keineswegs einig über die Alternativen. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, gehört zu den "Progressisten" ebenso wie der wohl scheidende Erzbischof von Mailand, Kardinal Carlo Maria Martini, der Franzose Roger Etchegaray und der Belgier Godfried Danneels.
Die politische Klassifizierung der Kirchenmänner ist allerdings problematisch. Denn wer in jener Glaubensfrage mit den Dogmatikern stimmt, ist bei einem anderen Problem womöglich für die progressive Lösung. Und bei der Wahl eines Papstes spielen viele Dinge eine Rolle: persönliche Freundschaften, die gemeinsame Herkunft aus einem Orden oder einem Land. Auch ein taktisches Votum - für den Kandidaten A, um B zu verhindern - ist denkbar.
Die größte Gruppe wahlberechtigter Kardinäle stellen, wie immer, die Italiener: 20 von 126. Dann folgen die Amerikaner mit 11, die Deutschen mit 7, die Brasilianer mit 6.
Ganz Afrika hat nur 12 Stimmen, Asien 13. Wie eh und je dominiert Europa mit insgesamt 58 Stimmen - das sind 46 Prozent aller Voten - die römisch-katholischen Entscheidungsprozesse. Allerdings sind zunächst Zweidrittelmehrheiten gefragt. Erst nach 33 ergebnislosen Wahlgängen kann die Kardinalsrunde beschließen, dass eine absolute Mehrheit ausreicht, den neuen Papst zu küren.
"Alle aktuellen Spielchen zur Wojtyla-Nachfolge", witzelt ein Vatikaner, hätten indes "ein kleines Problem": Der tiefe Glaube an seine himmlische Mission könne den Papst noch lange im Amt halten und die jüngsten Befunde der Wojtyla-Ärzte, etwa von Professor Corrado Manni, seien durchaus positiv: Körper malad, aber Hirn und Herz okay.
Aus den Worten des Betroffenen selbst lesen andere Papst-Exegeten Gegenteiliges: "Brüder und Schwestern", hatte Johannes Paul II. am Karfreitag vor Tausenden von Gläubigen vor dem römischen Kolosseum mit flacher, zittriger Stimme ins Mikrofon genuschelt, "die Schatten des Abends sind auf uns gefallen."
Das, wollen manche wissen, sei eine klare Botschaft des nahen Abschieds gewesen.
HANS-JÜRGEN SCHLAMP