Vier Sterne für eine Toilette

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vega2000:

Vier Sterne für eine Toilette

 
07.05.02 22:46

Nach Jahrzehnten übelster Zustände in öffentlichen Bedürfnisanstalten beginnt man in China, die Hygiene zu entdecken


Peking, im Mai – Etwas ist heute anders in der Verbotenen Stadt: Schwarze Limousinen schweben über das kaiserliche Pflaster, gleiten durch heilige Gassen, vorbei am Pavillon des Gegenseitigen Wohlbefindens. Chauffeure vorn, dunkle Anzüge hinten. „Wer hätte das gedacht“– Direktor Yu Changjiang sagt es mehr zu sich selbst –, „dass eine so kleine Sache einmal so große Beachtung finden würde?“ In einer Ecke im Nordwesten kommen sie fast lautlos zum Stehen, die Audis mit den blickdichten Scheiben. Männer mit dunklen Brillen und in Wolle verpackte Frauen verlassen ihre Funktionärssänften und huschen hinein. „Versammlungsraum der alten Kader“ steht auf dem Schild. Alle warten, dass Direktor Yu das Wort ergreift. „Genossen“, sagt er auf dem Podium mit fester Stimme. „Fürs erste Jahr melde ich die erfolgreiche Erfüllung unserer Mission!“ Erleichterter Applaus. Die „Hauptversammlung für den Aufbau der Sterne-Toiletten“ ist eröffnet. Nein, kein Druckfehler: „Sterne-Toiletten“ wie „Sterne-Hotels“.

Wer weiß schon genau, wann es angefangen hat? War es, als Präsident Jiang Zemin entnervt die Frage stellte, wann denn sein China, das schließlich Satelliten in den Weltraum schießt, in der Lage sei, eine Toilette zu bauen, deren Gestank einen nicht umbringe? War es 1997 beim Staatsbesuch des Premiers Zhu Rongji in Australien? Zhu hatte sich zur Pinkelpause zurückgezogen und war dann so lange weggeblieben, dass die Sicherheitsleute besorgt den Waschraum stürmten, wo sie ihren Premier – einen ehemaligen Ingenieur – stirnrunzelnd über den sorgfältig zerlegten Einzelteilen der Wasserspar-Toilette vorfanden. „Das müssen wir in China einführen!“, soll Zhu beeindruckt befohlen haben. Oder war es viel früher und viel weiter unten gewesen, in den hutongs , den Gassen der Stadt, wo in öffentlichen Anstalten eisige Winterwinde die Hintern der Werktätigen massierten und üble Dämpfe ihnen den Atem nahmen? Den Atem von Yu zum Beispiel, der damals noch Direktor des Pekinger Tourismusamtes war und erst 1985, da war er schon über 30, einer Offenbarung teilhaftig wurde: seines ersten eigenen Klos. Hatte sie da ihre Anfänge, die Revolution?

Direktor Yu mag das Wort nicht, er überlässt es den Kollegen von der Stadtverwaltung, die große „Toilettenrevolution“ zu verkünden. Yu spricht lieber von „Kultur“: „Im Verständnis für die Toilettenkultur zeigt sich der Grad der Zivilisiertheit eines Landes“, findet Yu zum Beispiel. Der Direktor weiß sich da in Übereinstimmung mit der Weltmeinung, schließlich kam er unlängst zurück vom „Welt-Toiletten-Gipfel“ in Singapur. 200 Teilnehmer, 30 Nationen und ein Anliegen: der Fortschritt der Menschheit. „Genau dafür ist Toilettenkultur ein Symbol“, sagt Yu. Die Einsichten, die ihm im November in Singapur zuteil wurden, hält Yu für nicht weniger als ein Zeugnis von der „Tiefe der menschlichen Erkenntnis“. Ansporn sind sie ihm sowieso: „Folgt mir!“, ruft der Direktor und marschiert hinein in den Kaiserpalast. Da, zwischen purpurnen Mauern, spitzt plötzlich glänzender Marmor und blinkendes Messing hervor. „Öffentliche Toilette“ steht auf dem Schild. „Vier Sterne!“, verkündet Yu stolz.

Vor der Tiefe der menschlichen Erkenntnis standen in China bislang die Abgründe der öffentlichen Bedürfnisanstalten. Wenn Direktor Yu seinem Auditorium berichtet, er habe beim Gipfel in Singapur mit Rede und Peking- Video „große Aufmerksamkeit erregt“, dann hält man zunächst unwillkürlich den Atem an: Er wird ihnen doch nicht das alte China gezeigt haben? Jene achtziger und frühen neunziger Jahre, welche sie in der Stadtverwaltung mit nur vier Worten wieder aufleben lassen: „Heulen, Hüpfen, Kreischen und Kichern.“ Der Beamte Ma Kangding erklärt uns das mit breitem Grinsen: „Heulen, weil dir der Gestank schon im Anmarsch die Tränen in die Augen getrieben hat. Als Nächstes musstest du springen: von einem Bein auf das andere, deinen Weg finden zwischen Urinlachen und falsch platzierten Häuflein. Das Kreischen kam dann vor allem aus dem Mund der weiblichen Genossen, wenn sie unter sich blickten und das Gewimmel der Maden sahen. Aber zum Schluss, wenn alle nebeneinander hockten, ging es meist recht fröhlich zu: Es wurde gescherzt und gelacht.“

Alles ein Platzproblem

Trennmauern gab es meist keine und Türen schon gar nicht; wer etwas Privatsphäre wollte, der schlug eine Zeitung vor dem Gesicht auf – was einen nicht davor schützte, dass die Nachbarn links und rechts eine Debatte über die Schlagzeile anfingen. „Die Brüstungen hätten Platz weggenommen“, erklärt Ingenieur Ma Kangding: „Statt acht hätten wir nur noch sechs Leute untergebracht.“ Durchaus ein Argument an einem Ort, an dem sich ganze Straßenzüge eine einzige öffentliche Toilette teilen, an dem morgens Hunderte von Bewohnern gemeinsam zum Gassenklo schlurfen, um den Nachttopf zu entleeren. Die Pekinger Stadtregierung hatte in den sechziger Jahren befohlen, die Toiletten aus den alten Hofhäusern in die Gasse zu verlegen: Der gemeinsame Toilettengang der Nachbarschaft kam der Entsorgung entgegen und war zudem ein Schritt auf dem Weg ins kommunistische Paradies. Noch heute haben amtlichen Statistiken zufolge nur 40,2 Prozent der Chinesen ihr eigenes Klo: Die Mehrheit ist gezwungen, öffentlich zu müssen.

Das wird noch eine Weile so bleiben – aber dass es auch anders geht, ohne Heulen und Kreischen, ohne Touristen in die Flucht zu schlagen und die eigenen Leute zu martern, dies zu beweisen sind sie angetreten, Leute wie Direktor Yu und Ingenieur Ma, die sich als Teil eines landesweiten Aufbruchs fühlen. „Ein großes Geschäft dauert 20 Minuten, ein kleines noch bis zu zwei Minuten“, rechnet Yu vor. „Auch wir Chinesen bekommen ein Bewusstsein dafür, dass jede Minute davon Lebenszeit ist, die man genießen sollte: voller Kultur und Qualität.“

Wie das so ist in China: Wenn sie in die Moderne schreiten, dann mit Siebenmeilenstiefeln. Schanghais neuer Stolz ist ein öffentliches WC in der Form eines Klaviers, eine Ökotoilette dazu: Der Klavierdeckel ist mit Solarzellen belegt. Kosten: 400000 Yuan (57000 Euro). In Peking achtet man mehr auf eine „harmonische Einbindung in die Umgebung“ (Yu), aber auch die Vier-Sterne-Toilette in der Verbotenen Stadt ist ein Prachtstück: Klimaanlage, Ruheraum mit Sofa und Bar und ein Fernseher von 23 Zoll Größe, wahrhaft kaiserlich. An spiegelnden Kachelwänden Gemälde, Plastikefeu sorgt für Grün. Und für Europäer der Clou: jede Menge Sitzklos, auch wenn die traditionellen Stehschächte noch immer überwiegen: „Wir Chinesen gehen eben lieber in die Hocke“, erklärt Ma Kangding die Kluft zwischen den Kulturen.

Auch Ma, mittlerweile quasi Pekings Herr der Brillen, hat die Leidenschaft gepackt: Egal, ob auf Frankfurts Flughafen oder im Pariser Louvre – er zückt als Erstes den Fotoapparat und hält die entsprechenden Örtlichkeiten fest. Deutsche Toiletten hält der höfliche Ma übrigens für „wunderbar“, trotzdem: „Wir finden Hocken einfach hygienischer.“

„Mmmm“, freut sich im Palastklo der herbeigeeilte Vize-Bürgermeister Zhang Mao und hält sein Näschen in die Kameras des Staatsfernsehens: „Was für eine gute Luft!“ Er wendet sich fragend ans Servicepersonal: „Und die Frauen- WCs sind alle um die Hälfte größer?“ Eifriges Nicken. 240 Millionen Yuan (34 Millionen Euro) will Peking in den nächsten zwei Jahren in die Gruben stecken, rechtzeitig vor Olympia 2008 für die Touristen insgesamt 600 Ein- bis Vier- Sterne-Toiletten errichten und gleichzeitig die eigenen Leute aus der Tristesse der noch 4700 vorrevolutionären Gassen-Klohäuschen erlösen. 2000 von ihnen sollen im Zuge des Altstadtabrisses ohnehin verschwinden.

Es ist nicht immer einfach. Der Beamte Ma weist darauf hin, dass „die Benutzungsrate in China ein Vielfaches von der im Westen“ sei (in der Stadt Lanzhou fanden sie eine Toilette, die sich mehr als 9000 Bürger teilten) – schneller Verschleiß garantiert. Seitdem auf Befehl der Stadtregierung im letzten Monat die Eintrittsgebühren abgeschafft wurden, klagt zudem die Beijing Daily, würden viele Pekinger mit Badetuch und gar Wäsche anrücken und auf dem Nachhauseweg Aschenbecher und Wandgemälde mitgehen lassen. Direktor Yu ist jedoch nicht bange. Er fiebert schon dem Jahr 2004 entgegen, da darf seine Stadt den „Welt-Toiletten-Gipfel“ ausrichten. Bis dahin will er keine Gelegenheit auslassen, seine Bürger zu rechtem Bewusstsein zu erziehen. „Der 19. November vor allem ist eine gute Gelegenheit für Propaganda“, sagt Yu. „Denn diesen Tag haben wir in Singapur gemeinsam zum Welt-Toiletten-Tag erklärt.“

Auch die Chinesen bekommen ein Bewusstsein dafür, dass jede Minute auf der Toilette Lebenszeit ist, die man genießen sollte: neue Anlage in Peking

Quelle:SZ
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