USA: Imperium oeconomicum

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USA: Imperium oeconomicum

 
27.03.03 07:45
Die Vereinigten Staaten sind die wirtschaftliche Supermacht. Der Irak-Krieg könnte das ändern. Denn Amerika braucht den Rest der Welt – die Zuwanderer, die Finanziers und die Käufer...

In Mount Pleasant, Texas, gibt es noch hausgemachten Apfelkuchen. Große Paraden zum amerikanischen Unabhängigkeitstag am 4. Juli. Und einen unerschütterlichen Glauben an das Vaterland. Die Fernseher in dem 12000-Seelen-Städtchen zwei Autostunden östlich von Dallas laufen jetzt Tag und Nacht. Frische Nachrichten vom Krieg kommen rund um die Uhr.

Mount Pleasant ist das, was die Amerikaner Middle America nennen – ein gottesfürchtiger und patriotischer Flecken in der Provinz. Wie viele ärmere Gemeinden im ländlichen Texas stellt die Kleinstadt zahlreiche junge Männer als Soldaten. In Mount Pleasant hat fast jeder einmal gekämpft, ob im Zweiten Weltkrieg, in Korea oder am Golf. „Wir haben jeden beschützt, jeder Nation geholfen“, sagt Gene Hinson, der örtliche Apotheker. Und fügt hinzu, was Middle America in diesen Tagen so denkt: „Jetzt kehren uns viele Länder den Rücken zu. Da kann man nur hoffen, dass ihnen nie mehr ein Steuergroschen Entwicklungshilfe gezahlt wird.“

Die Stimmung ist eindeutig: Amerika will der Welt zeigen, wo es langgeht – ob mit militärischem oder wirtschaftlichem Druck. Dass das wirkt, denkt auch der eine oder andere Intellektuelle des Landes. Eine ganze Menge Geschäftsleute und Diplomaten aus Frankreich, berichtete am Wochenende der New York Times-Kolumnist Thomas L. Friedman mit spürbarer Befriedigung, meinten nun, dass der französische Präsident und sein Außenminister in ihrer Ablehnung des Krieges im Irak „zu weit gegangen sind“ – ganz einfach deshalb, weil die Franzosen „stark vom Handel mit und den Investitionen aus den USA abhängen“.


Ein voreiliger Triumph? Der Waffengang am Golf ist gerade erst in seine heiße Phase gegangen, und am Wochenanfang gab es für die alliierten Truppen nicht nur gute Nachrichten. Dennoch: Die militärische Übermacht der Vereinigten Staaten gilt – den Amerikanern jedenfalls – als so klar, dass die Börsennotierungen schon vor dem ersten Schusswechsel in die Höhe schnellten. Dass die Aktienkurse auch wieder sanken, ist für Amerikas Patrioten dabei nur ein vorübergehendes Phänomen. Wie soll ein Krieg wohl ausgehen, in dem der Angreifer die Hälfte aller Weltrüstungsausgaben tätigt?

Die US-Volkswirtschaft jedenfalls wird die militärische Muskelschau am Golf kaum belasten. Die Vereinigten Staaten können sich Kriege leisten. Das aberwitzige Rüstungsbudget von knapp 400 Milliarden Dollar macht gerade mal dreieinhalb Prozent des amerikanischen Sozialproduktes aus, und selbst das Bombardement von Bagdad schlägt nach den jüngsten Schätzungen aus dem Weißen Haus mit „nur“ 70 bis 80 Milliarden Dollar zu Buche. Das ist wenig im Vergleich zur Wirtschaftskraft der USA.

Amerika ist ein wirtschaftlicher Koloss. Mit fünf Prozent der Weltbevölkerung erwirtschaften die Vereinigten Staaten fast ein Drittel des Weltsozialprodukts. Die Mehrheit der 100 größten Unternehmen der Erde hat ihren Hauptsitz in Amerika, die mächtigsten Investmentbanken der Welt sind an der Wall Street zu Hause. Keine andere Nation liefert mehr Filme, Fernsehen und Musik, nirgendwo sonst wird Jahr für Jahr eine größere Zahl neuer Patente angemeldet. Der Dollar ist nach wie vor die internationale Leitwährung, Amerikaner kontrollieren die Schaltzentralen des Internet und bilden die Topmanager der Welt aus. Betrachtet man die Statistiken, kann sich unter den großen Industrienationen kein anderes Land mit den Vereinigten Staaten messen. Ob beim Wachstum, bei der Produktivitätsentwicklung oder der Mobilisierung von Arbeitskräften – überall sind Amerikas Zahlen die besten.

Auf den ersten Blick jedenfalls. Zwischen all den Kriegsberichten geht fast unter, dass sich das Leistungsbilanzdefizit der Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr um 28 Prozent vergrößert hat – auf rund eine halbe Billion Dollar. Wieder einmal führten die Amerikaner mehr Waren und Dienstleistungen ein, als sie exportierten, und wieder einmal taten sie das auf Pump, im Gegenzug für Anleihen, Investitionen und Aktien. Die Welt leiht Amerika Geld. Das ist einerseits ein Vertrauensbeweis, andererseits aber auch eine Zeitbombe, falls es sich die Welt irgendwann anders überlegt. So passierte es in den achtziger Jahren während der Ära Reagan, als der Dollarkurs stark schwankte und 1987 die Börsen krachten. Weltweite Finanztumulte waren die Folge. Heute haben „die internationalen Anleger weniger Kapital zur Verfügung, und sie sind ohnehin schon kräftig in amerikanische Werte investiert“, warnt Catherine Mann vom Institute for International Economics (IIE). „Die Finanzierungsprobleme für das explodierende Defizit wachsen rapide“, mahnt die Investmentbank Goldman Sachs.

Um sein Wachstum weiter zu finanzieren, ist Amerika auf Gedeih und Verderb auf den Goodwill der Anleger aus dem Ausland angewiesen. Der aber hängt nicht allein von schierer wirtschaftlicher Größe oder militärischer Macht ab. Dass die Vereinigten Staaten die ökonomische und politische Nummer eins der Welt sind, ist unbestritten. Dass sie es bleiben, nicht. Noch Anfang der neunziger Jahre war vom „decline“ Amerikas die Rede, von der Furcht vor einem relativen Abstieg. In den Augen der Kritiker fiel das Imperium schon damals zurück.

Gewarnt wurde vor etlichen Rissen im amerikanischen System. Der Princeton-Ökonom Paul Krugman etwa prangerte in seinem Bestseller The Age of Diminished Expectations die wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich im Lande an und prognostizierte, dass immer größere Teile der Bevölkerung keine Chance haben würden, sich ihren „amerikanischen Traum“ zu erfüllen, sondern in einem Kreislauf aus Armut und Niedriglohnjobs stecken blieben – und tatsächlich wächst bis heute der Abstand zwischen wohlhabenden und verarmten Amerikanern. Kulturkritiker wie Robert Putnam (Bowling Alone) sahen die ganze amerikanische Gesellschaft auseinander driften. Andere Experten warnten angesichts eines in Teilen maroden Bildungssystems vor den Gefahren für die amerikanische Wissensgesellschaft. Heute haben 40 Millionen US-Bürger keine Krankenversicherung, verdienen die Chefs im Durchschnitt 400-mal mehr als ihre Angestellten und Arbeiter.

Dennoch sind die Debatten weitgehend verstummt. Zunächst machte ihnen der unerwartete Börsen- und Wirtschaftsboom der späten neunziger Jahre den Garaus, dann der aufwallende Patriotismus nach den Terroranschlägen des 11. September 2001. Und jetzt?

Zwar spiegelte schon die euphorische Reaktion der Börse zum Kriegsbeginn wider, was in diesen Tagen viele Ökonomen und Wall-Street-Auguren glauben: dass Amerika stark bleibt. Dass es „geopolitische Unsicherheiten“ waren, die zuletzt den Aufschwung verzögert haben, wie Notenbankchef Alan Greenspan sagte. Dass also ein schneller Sieg im Krieg den Markt und das Wachstum endlich wieder aus ihren Fesseln befreien wird. „Die USA stehen vor einem Wirtschaftsboom“, erwartet der amerikanische Ökonom Fred Bergsten. Es sei „gut möglich, dass die US-Wirtschaft in der zweiten Hälfte dieses Jahres um vier bis fünf Prozent wächst“.

Andere sind da weniger überzeugt: Er sei immer noch „entschieden zurückhaltend“ in Sachen Wirtschaftswachstum, sagt Morgan-Stanley-Chefökonom Stephen Roach. Das Economic Policy Institute in Washington prognostiziert auf absehbare Zeit bestenfalls jobless growth, also mäßiges Wachstum ohne zusätzliche Arbeitsplätze. Die Meldungen von Massenentlassungen und Betriebsschließungen reißen nicht ab, eine Reihe von Fluggesellschaften könnten in den kommenden Monaten Konkurs anmelden, die verschuldeten und um ihren Arbeitsplatz bangenden amerikanischen Konsumenten halten sich bei ihren Einkäufen neuerdings zurück. Ob es also in kurzer Frist zu einer Erholung der für die Welt so wichtigen US-Wirtschafskraft kommt, ist keine ausgemachte Sache.

Ohne einen nachhaltigen Aufschwung aber werden auch die strukturellen Probleme der USA wieder stärker zutage treten. Schon jetzt machen sich kritische Ökonomen Sorgen, dass etwa all jene ehemaligen Sozialhilfe-Empfänger, die während des Booms der Neunziger einen Job fanden, nun wieder in die Armut zurückfallen. Geld für neue Sozialprogramme allerdings fehlt – was auch daran liegt, dass der wichtigste Mann im Staat über seine Prioritäten längst entschieden hat. George W. Bush will in der kommenden zehn Jahre insgesamt 1,8 Billionen Dollar neuer Schulden aufnehmen, die ins Militär und in radikale Steuersenkungsprogramme fließen sollen. Zurückzahlen kann Bush diese Schulden nur, wenn Amerika bald wieder Wachstum nach dem Vorbild der neunziger Jahre liefert. Eine gewagte Wette.

Finanzieren muss er sie vorher. Dabei könnte der militärische Konflikt am Golf sogar hilfreich sein – sobald Siegesbilder aus Bagdad über die Bildschirme der Welt flackern. „Amerika bekommt all dieses ausländische Kapital, weil die Leute denken: Die USA sind so mächtig, sie sind geopolitisch sicher“, sagt Edward D. Luttwak vom Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington. Doch lässt sich die militärische Übermacht wirklich so einfach in die Welt der Wirtschaft übersetzen?

„Die wirtschaftliche Sphäre funktioniert anders als die militärische und geopolitische“, meint Joseph Nye, Dean der Kennedy School of Government in Harvard und Autor des Buches The Paradox of American Power. In der Wirtschaft, so Nye, „bestehen viele Abhängigkeiten, es gibt eher ein Kräftegleichgewicht zwischen den Blöcken“. Im Klartext: Amerika ist auf den Rest der Welt angewiesen – auch wenn es das nicht so gern wahrhaben will.

Große Teile der amerikanischen Exportwirtschaft – die immerhin zehn Prozent zum Bruttosozialprodukt des Landes beiträgt und Millionen Arbeitsplätze sichert – brauchen freundlich gesinnte Konsumenten in aller Welt. Globale Marken wie Coca-Cola und Nike könnten leiden, wenn Verbraucher in Asien, Lateinamerika oder Europa die Vereinigten Staaten für ein aufdringliches und selbstherrliches Imperium hielten. Sie sind es schließlich, die amerikanischen Lebensstil und amerikanische Coolness in die Wohnzimmer und Küchen der Welt transportieren – genauso wie die Musik- und Filmstudios Amerikas.

Zu den Geheimnissen des amerikanische Wirtschaftserfolges gehört bislang auch die anhaltende Attraktivität als Einwanderungsland. Junge Familien mit frischer Arbeitskraft und potenziell vielen Kindern, die auf der Suche nach dem amerikanischen Traum in die USA kommen, sorgen für eine „jüngere, gemischtere und im Schnitt dynamischere“ Gesellschaft, wie der britische Economist einmal urteilte. Hält dieser Trend an, wird diese Gesellschaft Mitte des Jahrhunderts 15 Jahre jünger sein als die Bevölkerung Europas – das dann zu Recht old Europe hieße und dessen Volkswirtschaften unter der Rentenlast ächzen werden. Nur: Kommen die Einwanderer auch dann noch, wenn die USA ihr gutes Image in aller Welt verlieren und sich zunehmend abschotten?

Schon jetzt werden Immigranten aus islamischen Nationen bespitzelt und teilweise aus dem Land vertrieben. Sogar ausländische Studenten haben es immer schwerer. „Ich gehe davon aus, dass der Antragsweg künftig länger wird, vielleicht dreimal so lang“, fürchtet Allan Goodman, Präsident des Institute of International Education, das die begehrten Fulbright-Stipendien vergibt.

Und noch in einem weiteren Bereich könnte der amerikanischen Wirtschaft Übles drohen, wenn im Krieg und danach allzu viel Goodwill verloren ginge: Auch amerikanische Unternehmen sind in aller Welt auf die Kooperation mit den Behörden angewiesen. Konzerne, die fusionieren wollen, müssen sich dafür die Genehmigung europäischer Behörden holen; der Softwareproduzent Microsoft muss seine Wettbewerbspraktiken auch vor der EU-Kommission und Gerichten in aller Welt rechtfertigen. Amerikanische Fluggesellschaften brauchen Landeerlaubnis, amerikanische Film- und Fernsehmacher verdienen ohne internationale Copyright-Gesetze weniger Geld, und ohne Zulassungen in fernen Ländern bleiben amerikanische Landwirte auf ihren gentechnisch veränderten Nahrungsmitteln sitzen. „Die Welt in Freunde und Feinde aufzuteilen würde ökonomisch teuer ausfallen“, glaubt Jeff Madrick, ein New Yorker Ökonom. Hier – eher als bei explodierenden Kriegskosten oder in einer unsicheren Versorgung mit Öl – liegen langfristig die größten Gefahren für die Vereinigten Staaten.

Das ist auch in den USA eigentlich keine neue Erkenntnis. Viele Regeln der internationalen Wirtschaft sind in den vergangenen Jahrzehnten unter starkem US-Einfluss entstanden. Die Welthandelsorganisation (WTO) zum Beispiel ist letztlich eine Erfindung der Amerikaner – und die kommende WTO-Verhandlungsrunde für eine weitere Liberalisierung des weltweiten Güter- und Dienstleistungsverkehrs könnte zu einem großen Test werden. Der transatlantische Streit um Agrarsubventionen etwa sei schon jetzt „eine tickende Zeitbombe“, meint Jagdish Bhagwati, Handelsökonom an der Columbia University – und ist ein möglicherweise auf Dauer gefährlicherer Konfliktpunkt als die anhaltende Auseinandersetzung um den Irak und den Krieg.

Die Preisfrage dabei ist, wie weit die Regierung des Kriegspräsidenten Bush ihre amerikazentrische Sicht der Dinge auch in der wirtschaftlichen Sphäre durchsetzen will. „Jeder weiß: Es gibt laute Stimmen in den USA, die internationale Institutionen ablehnen, und viele davon sind Bush sehr nahe“, glaubt Lester Thurow vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Längst schon gehört es zur offiziellen Strategie des US-Handelsrepräsentanten Robert Zoellick, außerhalb der WTO bilaterale Handelsverträge ganz nach dem Gusto der Vereinigten Staaten abzuschließen. Dass manche Entwicklungsländer mit Drohungen über den Entzug von Hilfe auf die eigene Seite gezogen werden sollen, war nicht nur Teil des diplomatischen Schauspiels vor Kriegsbeginn im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Es gehört auch zum amerikanischen Geschäftsgebaren im Ringen um handelspolitische Verbündete.

Ob diese Strategie auch nach dem Ende des Irak-Kriegs fortgesetzt – und vielleicht noch verstärkt – wird, hängt ganz davon ab, wie dieser Krieg zu Ende geht und wann.

Triumphiert Amerika schnell und eindeutig, könnte das „eine generelle Aura schaffen, nach dem Motto ,Die USA sind stark genug, um es allein zu schaffen‘“, sagt Nye. Dauert es länger, werden die Verluste größer, schwächelt die Wirtschaft weiter und bleibt der Aufschwung aus, werden auch in Amerika jene Stimmen lauter, die Krieg nicht nur für das falsche Mittel der Politik gehalten haben. Es werden sich auch jene melden, die ihre Finger auf die Wunden der amerikanischen Gesellschaft und der amerikanischen Wirtschaft legen.

Gut möglich, dass man dann auch in Mount Pleasant nicht mehr nur über die Krieger redet, die der Ort hervorgebracht hat. Sondern auch über seine Arbeitslosen und seine Armen.

(c) DIE ZEIT 27.03.2003 Nr.14  
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