Argentiniens neuer Übergangspräsident Duhalde steht für all das, was das Land seit vielen Jahren ruiniert: Korruption und Klüngel.
Am Ende siegte wieder einmal der alte Klüngel. Als die Abgeordneten und Senatoren am späten Dienstagabend das Kongressgebäude an der Straße des 25. Mai im Zentrum von Buenos Aires verließen, hieß der neue Präsident Argentiniens Eduardo Duhalde. Der Peronist ist der fünfte Staatschef an der Spitze des südamerikanischen Landes, und das alles innerhalb von knapp zwei Wochen. Neuer Rekord.
Bis zum 10. Dezember 2003 soll Duhalde im Amt bleiben, die ursprünglich für den 3. März angekündigten vorgezogenen Neuwahlen sind vergessen. Dass es soweit kam, hat der Peronist einem Parteifreund zu verdanken. Dessen Name: Carlos Menem. Der ehemalige Präsident, der gerne noch einmal zum Staatschef gewählt werden möchte, habe jeden einzelnen seiner Unterstützer in der Partei angewiesen, zur Abstimmung über Duhalde zu erscheinen, berichtete die argentinische Tageszeitung "Clarín".
Der Grund: Menem, der zwischen 1989 bis 1999 zwei Amtszeiten lang regierte, darf laut der argentinischen Verfassung erst nach einer vierjährigen Auszeit erneut für das höchste Amt im Staat kandidieren. Vorgezogene Neuwahlen im März hätten seine Ambitionen auf ein drittes Mandat durchkreuzt.
Politik auf argentinisch: Im Chaos der vergangenen zwei Wochen wurde immer deutlicher, woran das Land jenseits der makroökonomischen Probleme wirklich leidet: den korrupten Sippschaften und Clans, die für ein paar Millionen Dollar vor einem Ausverkauf der staatlichen Interessen nicht zurückschrecken. In Argentinien zeichnen sich die Parteien weniger durch inhaltliche Programmatik aus als durch den Führungsstil einer charismatischen Persönlichkeit. Menem ist ein solcher "Caudillo", dem persönliche Loyalitätsbeziehungen wichtiger sind als formale politische Strukturen.
Während der Präsidentschaft von "El Jefe" (Der Chef), wie ihn seine Anhänger noch immer ehrfürchtig nennen, kam es zu Günstlingswirtschaft und Korruption. Menem gilt als einer der Hauptschuldigen für die ausweglose Finanzlage seines Landes. In seiner Heimatprovinz La Rioja, einem der ärmsten Landstriche Argentiniens, konnte die "lokale Aristokratie" der Familie Menem und der Familie seiner damaligen Frau Zulema Yoma nach Gutdünken schalten und walten. Auch nach der Scheidung von Zulema rissen die guten Geschäftsbeziehungen der beiden Familien nicht ab.
Erst als der Verdacht aufkam, der Menem-Clan habe Haubitzen, Gewehre und Munition aus Überschussbeständen des Heeres für 600 Mio. $ auf eigene Rechnung verkauft, reagierte die Justiz. Menem und Mitglieder seiner Sippe kamen für fünf Monate in Untersuchungshaft. Eine Art Luxusarrest, den er sich mit Grill- und Champagnerpartys erträglich machte. Auch der gerade gescheiterte Interimspräsident Adolfo Rodríguez Saá gilt als Caudillo wie aus dem Bilderbuch. Der Spross einer traditionsreichen Familie regierte seine Heimatprovinz San Luis 18 Jahre lang mit harter Hand. Über all die Jahre versorgte er seine Sippschaft mit lukrativen Geschäften und einträglichen Posten.
Wie sein Vorgänger und Parteifreund Rodríguez Saá wird auch der neue Präsident Duhalde nur ein Mann des Übergangs bleiben. Wenn alles nach Plan läuft, übergibt er Menem in 24 Monaten ein mehr oder weniger stabilisiertes Land, das der dann als strahlender Held unter seine Fittiche nimmt.
Dass die Argentinier der zweiten großen Partei, der Radikalen Bürgerunion (UCR), noch einmal den Posten des Staatschefs anvertrauen, hält der renommierte Politikexperte und Meinungsforscher Rosendo Fraga zunächst für so gut wie ausgeschlossen: "Es wird für die Radikalen nicht einfach sein, eine politische Alternative zu stellen, nachdem sie zweimal an der Macht scheiterten und ihre Wähler betrogen haben."
1989 war es UCR-Präsident Raúl Alfonsín, der unter dem Eindruck von Hyperinflation und blutiger Straßenschlachten vorzeitig das Feld für den bereits gewählten Nachfolger Menem räumen musste. Nach zwei Amtsperioden des selbst- und machtverliebten Peronisten schienen die Argentinier genug zu haben von der "Fiesta Menemista" und wählten den soliden, aber glanzlosen Fernando de la Rúa von der UCR in den Präsidentenpalast. Doch angesichts der erdrückenden Wirtschaftskrise und der Tatsache, dass die peronistische Mehrheit in beiden Häusern des Parlaments die Zusammenarbeit bei der Erstellung des Haushaltsplans für 2002 verweigerten, gab auch er am 20. Dezember auf.
Nach Senatspräsident Ramón Puerta, der verfassungsgemäß nach de la Rúas Rücktritt einsprang, Übergangskandidat Adolfo Rodríguez Saá, der nach nur einer Woche abtrat, und dem "Lückenfüller" für 24 Stunden, Parlamentspräsident Eduardo Camaño, ist nun Duhalde an der Reihe. Für Detlef Nolte, Argentinien-Experte beim Institut für Iberoamerika-Kunde in Hamburg, ist der Peronist die Lösung "mit der größten Haltbarkeit". Eine vorgezogene Abstimmung über einen neuen Präsidenten und eine neue Regierung wäre seiner Meinung nach problematisch, da die Peronisten zerstritten sind.
Viele Argentinier teilen diese Meinung nicht. Als seine Ernennung bekannt wurde, zogen, wie schon in den vergangenen zwei Wochen, wieder tausende Menschen Töpfe klappernd vor den Sitz der Regierung und konnten nur von Tränengassalven der Polizei abgehalten werden. "Wahlen jetzt", skandierten sie und "Ich habe ihn nicht gewählt". Der Populist Duhalde ist für sie ein Repräsentant derselben politischen Klasse, die sie mit ihren Massenprotesten hatten loswerden wollen. "Das Gute an Duhalde ist, dass er Ausstrahlung hat und nicht so ein Langweiler ist wie de la Rúa", urteilt die Argentinierin Ana Cortez, die als Unternehmensberaterin in Frankfurt arbeitet. "Vielleicht kann er damit etwas bewegen. Aber der Preis dafür ist hoch. Argentinien wird dies mit Korruption bezahlen." So wie bislang.
Der Argentinier kennen Duhalde von früher. Zwischen 1989 und 1991 saß er als Vize-Präsident an der Seite von Menem im Präsidentenpalast "Casa Rosada". Er trat zurück, um Gouverneur der Provinz Buenos Aires zu werden, in der die Mehrheit der 36 Millionen Argentinier lebt.
Zwar predigt der Katholik und fünffache Vater dem Volk die Tugend. Es ist aber ein offenes Geheimnis, dass er selbst im Drogengeschäft mitmischte. Die Provinz steht vor dem Bankrott, Duhalde warf mit Geld nur so um sich. "Wir wollen keine solchen Politiker mehr", empört sich eine Demonstrantin in Buenos Aires. Duhalde müsste eigentlich größtes Verständnis für die Dame haben. Erst vor wenigen Monaten hatte er gelästert: "Die politische Führung ist scheiße, und natürlich schließe ich mich selbst mit ein."
Brasilien
Der Versuch, wichtige Themen der gegenwärtigen politisch-gesellschaftlichen Debatte in Brasilien zu benennen, wird immer subjektiven Charakter haben. Aufgrund zahlreicher Skandale und der Ineffizienz staatlicher Institutionen in den 1980-er und 1990-er Jahren hat sich auch in Brasilien Politikverdrossenheit breit gemacht. Auf der anderen Seite wurde das Bewusstsein für die Notwendigkeit von grundlegenden Veränderungen in Politik und Gesellschaft gestärkt. Im Folgenden werden wichtige Themen der Konsolidierung der Demokratie in Brasilien behandelt. Dazu gehören das Zusammenspiel der verschiedenen Institutionen, die politische Partizipation über Partien und Wahlen, aber auch die Garantie von Bürgerrechten und rechtstaatlicher Verhältnisse. Anschliessend werden verschiedene Aspekte der brasilianischen Aussenpolitik betrachtet.
Zusammenspiel der Institutionen
Brasilien durchlief in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie viele Länder Lateinamerikas eine längere Phase autoritärer Herrschaft. Seit 1964 bestimmte das Militär die Richtlinien der Politik. Erst im Laufe der 1980-er Jahre kehrte das Land dann langsam wieder in die Bahnen demokratischer Herrschaft zurück. Diese Demokratisierung verlief verhältnismässig friedlich. Heute bekennen sich alle relevanten politischen Parteien zum Prozess der politischen Machtverteilung durch Wahlen - was mit Blick in die brasilianische Geschichte oder in einige Nachbarländer nicht ganz so selbstverständlich ist wie es scheint.
Viele Probleme beim Übergang zu gefestigten demokratischen Strukturen teilt Brasilien mit anderen lateinamerikanischen Gesellschaften. Kritische Stimmen prangern den fortwährenden autoritären und gewaltgeprägten politischen Alltag und den weiterhin wichtigen Einfluss des Militärs auf die Politik an. Dennoch haben sich die wiedergeborenen Demokratien in Lateinamerika angesichts der widrigen wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen bisher als erstaunlich überlebensfähig erwiesen. Auch die junge brasilianische Demokratie verarbeitete kritische Situationen wie die Absetzung eines gewählten Präsidenten wegen Korruptionsvorwürfen relativ reibungslos (Affäre Collor, 1992). In dieser Hinsicht kann also die Redemokratisierung in Brasilien als Erfolg gewertet werden.
Solche auf den gesamtlateinamerikanischen Kontext bezogenen Analysen sind aber oft zu unpräzise, um die Herausforderungen des brasilianischen politischen Systems nach 1988 zu verstehen. Damals hat die neue Verfassung die Legislative gegenüber dem Präsidenten entscheidend gestärkt. Ausserdem kam es zu einer Justizialisierung der Politik, denn viele wichtige politische Entscheidungen können nun vor dem Obersten Bundesgericht angefochten werden. Damit ist präsidialer Willkür ein weiterer Riegel vorgeschoben. Dennoch ist es diesem durchaus möglich, Koalitionen zur Stützung seiner Regierung zu schmieden und Reformen voranzutreiben. Er muss aber zu diesem Zweck Zugeständnisse machen an Parteibosse und die Gouverneure in den Bundesstaaten. Diese lassen sich ihre Unterstützung oft in Regierungsämtern oder neuen Geldmitteln erkaufen.
Das Riesenland Brasilien hat im Verlauf seiner Geschichte zwischen Zentralismus und Dezentralisierung hin- und hergependelt. Mit der demokratischen Verfassung von 1988 wurde ein föderales politisches System begründet, in dem die Bundesstaaten und auch die Kommunen eine wichtige Rolle spielen. Dennoch gibt es gegenwärtig eine intensive Diskussion über die Ausgewogenheit von Aufgaben- und Mittelverteilung zwischen den drei Ebenen Bund, Ländern und Kommunen.
Parteien und Wahlen
Ein wichtiges Thema bleibt in Brasilien die Reform der Parteien- und Wahlgesetzgebung. Das Parteienspektrum ist in Brasilien ausserordentlich breit gefächert. Knapp 20 Parteien sind im Kongress vertreten und machen die Verabschiedung konsistenter Reformvorhaben schwer. Hinzu kommt, dass die Politiker sich nur beschränkt an die Parteidisziplin oder an die Wahlversprechen halten. Fachleute sind sich weitgehend einig, dass neben kulturellen Faktoren die brasilianische Parteien- und Wahlgesetzgebung mit verantwortlich ist für diese Situation.
Da der Wahlerfolg der Kandidaten vor allem von ihrer eigenen Kapazität abhängt, Profil zu zeigen und die notwendigen finanziellen Ressourcen für den Wahlkampf aufzubringen, fügen sich die gewählten Repräsentanten nur ungern in die Parteidisziplin ein. Ein weiterer gewichtiger Faktor ist die Finanzierung des aufwändigen Wahlkampfes (port). Da die mitgliederschwachen Parteien nur über beschränkte eigene Einnahmen verfügen und die öffentliche Finanzierung durch den Staat nur sehr bescheiden ausfällt, müssen sich die Kandidaten nach privaten Geldgebern umsehen. Dadurch entstehen Verpflichtungen, die die Integrität bei der späteren Amtsausübung in Gefahr bringt.
Obgleich unter technisch-administrativen Gesichtspunkten der Wahlprozess in Brasilien äusserst modern ist (eine gesonderte Wahlgerichtsbarkeit und elektronische Wahlurnen garantieren Unabhängigkeit und Effizienz), erfolgt in der Praxis die Stimmabgabe häufig immer noch im Kontext klientelistischer Beziehungen zwischen Wählern und Kandidaten. Jüngere Untersuchungen zeigen, dass der Stimmenkauf (eng) immer noch eine weit verbreitete Praxis ist.
Von einer engeren Rückbindung der Politiker an Parteien und Wähler und einer transparenteren Finanzierung des Wahlkampfes erhoffen sich die Brasilianer ein verantwortlicheres Handeln ihrer gewählten Vertreter in Kongress und Regierung. Die Debatte über notwendige gesetzliche Reformen zieht sich bereits über ein Jahrzehnt hin, allerdings immer noch ohne Aussicht auf eine baldige Umsetzung.
Es wird immer wieder darauf verwiesen, dass Wahlen in Brasilien sich eher an Personen als an Parteien ausrichten. Ohne diese Ansicht widerlegen zu wollen muss darauf verwiesen werden, dass inzwischen eine gewisse Stabilisierung im Parteienspektrum stattgefunden hat. Die wichtigsten politischen Gruppierungen sind die beiden konservativ-liberalen Parteien PFL und PPB, die sozialdemokratische Partei PSDB und die Linksparteien PDT, PT und PPS. Stimmengewichtig, aber ideologisch eher profillos sind die beiden Parteien PMDB und PTB (alle port).
Die letzten landesweiten Wahlen fanden in ganz Brasilien im Oktober 2000 auf Kommunalebene statt, bei denen Gemeinderäte und Bürgermeister neu gewählt werden. Erstmals konnten sich auch die derzeitigen Amtsinhaber einer Wiederwahl stellen, was bisher nicht möglich war. Die Wahlergebnisse in den über 5000 Kommunen des Landes weisen keinen eindeutigen Trend auf. Wichtig waren meist lokale Themen wie Schulbildung, Krankenversorgung, Sicherheit und Korruptionsskandale. Obgleich die Wahlen auf Kommunalebene tatsächlich weitgehend Persönlichkeitswahlen sind stellen die oben genannten Parteien fast 90% der neu gewählten Bürgermeister.
In mehreren Städten gibt es inzwischen interressante Innovationen im Sinne einer stärkeren Bürgerbeteiligung an wichtigen politischen Entscheidungen. Wichtige politische Ämter haben neben dem Präsidenten die Gouverneure wichtiger Bundesstaaten und die Bürgermeister der Millionenstädte inne. Diese Exekutivämter werden in allgemeinen, direkten Wahlen besetzt, was den Amtsinhabern eine grosse Unabhängigkeit verleiht. Der schon im Oktober 1994 gewählte Präsident Fernando Henrique Cardoso wurde beim Urnengang 1998 in seinem Amt bestätigt. Während eines Deutschlandbesuchs im Jahr 2000 nahm er in einem Interview Stellung zu verschiedenen kritischen Fragen. Im November 2002 werden wieder Neuwahlen stattfinden. Brasilien befindet sich deshalb gegenwärtig in der heissen Phase des Wahlkampfes, der über Kontinuität oder Kehrtwende nach fast einem Jahrzehnt unter Cardosos Herrschaft entscheiden wird. Bei diesem politischen Grossereignis wird nicht nur das Präsidentenamt neu besetzt werden. Auch die Kongressmitglieder, die Gouverneure und die Abgeordneten der Landesparlamente müssen sich der Wahl stellen.
Bürgerrechte und Rechtstaatlichkeit
Fragen der Umsetzung demokratischer Partizipation in einem Modell sich gegenseitig kontrollierender politischer Institutionen standen im Zentrum der Redemokratisierungsdebatte. In der darauffolgenden Konsolidierungsphase sind andere Fragen in den Blickwinkel gerückt. Dazu gehört die Respektierung von Grund- und Bürgerrechten durch den Staat, die Möglichkeit der Konfliktlösung auf gerichtlichem Wege und die Durchsetzung des rechtstaatlichen Ordnungsanspruchs durch Polizei und Strafverfolgungsbehörden. Brasilianer sehen die Realität in ihrem Land anders. Missbrauch von Polizei gegen Unterschichtsangehörige, Korruptionsanfälligkeit der Gerichte und Straflosigkeit für Bessergestellte werden als zunehmend bedrückend empfunden. Bei spektakulären Fällen lassen sich Probleme dann oft besonders zugespitzt herausarbeiten.
Polizei und Justiz in Brasilien wird vorgeworfen, sie seien selbst korrupt und damit Teil des Problems. Eine Reform dieser Institutionen ist unumgänglich, um mehr Rechtsstaatlichkeit zu erreichen. Gerade die armen Bevölkerungschichten leiden unter dem Mangel an an Rechtsschutz. Oft sind sie selbst Ziel von Übergriffen der Sicherheitskräfte. Die Länderberichte von Amnesty International (1997, 1998, 1999, 2000, 2001, 2002) schildern zahlreiche Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Landkonflikten, aber auch gegenüber Indianern, Strassenkindern und anderen Minderheiten. Seit Mitte der 1990er Jahre setzt sich die brasilianische Regierung mit dem Problem der Menschenrechtsverletzung verstärkt auseinander. Ziel der Bundes- und verschiedener Landesregierungen ist, sowohl den Machtmissbrauch und gewalttätige Übergriffe der Polizei als auch die Organisierte Kriminalität unter Kontrolle zu bringen.
Dennoch sind Pauschalverurteilungen nicht angebracht. Beim Versuch, sich einen Überblick über den brasilianischen Rechtsstaat zu verschaffen, wird man sich neben der Rechtsordnung auch mit der Gerichtsverfassung, vielleicht sogar mit den historischen Grundlagen des in Lateinamerika bereits lange verankerten Rechtssystems befassen müssen. Oft sind vergleichende Studien im lateinamerikanischen Kontext aufschlussreich und bringen Hinweise für mögliche Lösungsansätze.
Als Ursachen für die Straflosigkeit, eine der zentralen Schwächen des Rechssystems in den Augen der Brasiliener, werden von Spezialisten verschiedene Gründe angeführt: Überlastung der Gerichte, Lücken im Rechtssystem, Korruption oder Erpressung gegen Verfahrensbeteiligte. Auch wenn das Vertrauen in den brasilianischen Rechtsstaat derzeit lädiert ist, sind differenzierte Betrachtungen zu Zivil-, Straf-, Arbeits- und Umweltrecht notwendig. Eine gesonderte Betrachtung verdienen dann nochmals Fragen des Staatshaftungsrechts und des gewerblichen Rechtsschutzes. Durch die Reform von Polizei und Justiz soll die zunehmende Kriminalität auf der Strasse, aber auch Wirtschaftskriminalität, Drogenmafia und Korruption (port) bekämpft werden. Mitglieder der Oberschicht, die bei diesen Formen organisierter Kriminalität und politischer Manipulation oft eine Schlüsselrolle spielen, konnten sich in der Vergangenheit einer Bestrafung meist entziehen. Seit der Absetzung des Präsidenten Collor durch ein Impeachmentverfahren (1992) sind aber auch andere hochrangige Politiker nicht mehr unantastbar. Seit der Rückkehr zur zivilen Herrschaft 1985 wurde 15 Bundesabgeordneten und 1 Senator aufgrund unlauterer Praktiken das Mandat entzogen. Weitere 6 Abgeordnete und 2 Senatoren haben sich der Verurteilung durch Rücktritt entzogen. Dazu gehört auch der ehemalige Senatspräsident Antonio Carlos Magalhães (PFL), einer der mächtigsten Männer in der brasilianischen Politik, der im Bundesstaat Bahia seine Hausmacht hat. Über seinem Nachfolger, dem jetzigen Senatspräsidenten Jader Barbalho (PMDB), schwebt ebenfalls bereits das Damoklesschwert einer Untersuchung duch die Ethikkommission aufgrund dunkler Geschäfte in der Vergangenheit.
Informieren sie sich weiter unten über das Konzept der Deutschen Regierung für die Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika und Brasilien.
Um sich über den Stand dieser und anderer Diskussionsthemen zu informieren, können Sie sich in eine der grossen überregionalen Tageszeitungen (Estado de São Paulo , Folha de São Paulo, Jornal do Brasil, O Globo) oder Wochenzeitschriften (Veja, Istoé) Brasiliens einwählen (alle port). Wöchentliche Nachrichten und Kommentare von brasilianischen Journalisten (auf engl.) gibts ausserdem beim Estado de São Paulo und bei InfoBrazil.
Neue Aussenpolitik
Mit dem Amtsantritt von Präsident Cardoso 1995 hat die Aussenpolitik (eng) in Brasilien einen Aufschwung erfahren. Wichtige Themen dieser neuen brasilianischen Aussenpolitik sind im lateinamerikanischen Kontext die wirtschaftliche Integration im Rahmen des Mercosul, der ursprünglich auf eine schrittweise Annäherung zwischen Brasilien und Argentinien seit 1985 zurückging und 1991 unter Einbeziehung der kleineren Nachbarländer Paraguay und Uruguay in die Wege geleitet wurde. Ziel der Zusammenarbeit ist ein gemeinsamer Markt mit freiem Güterverkehr und gemeinsamem Aussenzoll. Auch eine Abstimmung der Wirtschaftspolitik und der Gesetzgebung ist in dem Vertragswerk vorgesehen. Gegenwärtig aber besteht das praktische Ziel in der Verwirklichung einer Freihandelszone. Obgleich die Integrationsbemühungen gegenwärtig immer wieder unter den Auswirkungen der Finanzkrisen in Brasilien und Argentinien leiden, zeigt eine langfristige Analyse dass sich das Handelsvolumen zwischen den Partnerländern seit der Gründung des Mercosul entscheidend ausgeweitet hat. Auch in politischer Hinsicht hat die Integration Früchte getragen, da sie alte Rivalitäten zwischen Brasilien und Argentinien beseitigte und die Demokratisie in Paraguay gegen Putschversuche stärkte. Die Fachliteratur zum Thema Mercosur ist in jüngster Zeit stark angewachsen. Für die fernere Zukunft stellt sich die Frage, ob sich der Wirtschaftsraum Mercosul der nordamerikanischen ALCA oder der Europäischen Gemeinschaft annähern wird.
Im Verhältnis zu den anderen südamerikanischen Nationen (die meisten sind ja unmittelbare Nachbarn) nimmt Brasilien die Rolle einer regionalen Führungsmacht ein. Dabei versucht das Land eine unabhängige Position gegenüber der der Supermacht USA einzunehmen. Das erste Gipfeltreffen der südamerikanischen Staatschefs, das im Jahr 2000 in Brasilia stattfand, brachte diesen Anspruch deutlich zum Ausdruck. Im Gegensatz zu dem früher stark ideologisch geprägten Pro- oder Antiamerikanismus der brasilianischen Aussenpolitik ist die gegenwärtige Position eher von einer moderaten Haltung geprägt, bei der das nationale Eigeninteresse im Vordergrund steht. Heikle Themen, die auch immer wieder zur diplomatischen Konfrontation mit den USA führen, stehen oft in Zusammenhang mit der Auflösung des Prinzips der nationale Souveränität, der Brasilien kritisch gegenübersteht. Dies zeigt sich in der Ablehnung einer Verurteilung der Wahlfälschungen in Peru unter Fujimori durch die OAS, aber auch in der kritischen Haltung gegenüber dem Kolumbienplan zur Bekämpfung der Drogenmafia. Ausserdem aber ist die internationale Diskussion über das Amazonasgebiet ein Thema, bei dem diplomatische Kreise, das Militär, aber auch die intellektuellen Eliten des Landes mit grosser Empfindlichkeit reagieren und auf das brasilianische Souveränitätsrecht pochen.
Im internationalen Kontext versucht Brasilien, sich als Mittelmacht zu profilieren. Auf der einen Seite zeigt sich dies in der Teilnahme des Landes an Friedensmissionen der Vereinten Nationen (Osttimor, Angola). Auf der anderen Seite fordert Brasilien eine Strukturänderung der internationalen Wirtschaftsordnung. Wichtige Themen sind hierbei der Protektionismus der reichen Nationen im Bereich des Agrarhandels, neue Handelshemmnisse durch Auflagen hinsichtlich der sozial- und Umweltverträglichkeit von Exportartikeln, das Patentrecht und Biopiraterie, das internationale Finanzsystem und die Verschuldungsfrage. Der Führungsanspruch Brasiliens als Mittelmacht wird auch durch den Anspruch auf einen ständigen Sitz des Landes im UN-Sicherheitsrat unterstrichen.