An der Börse ist er allgegenwärtig, der menschliche Tunnelblick. Meist begegnet er uns schon beim Kauf: Ist man auf die Idee gekommen, einen Titel zu kaufen, neigt man dazu, bestätigende Argumente unkritisch zu übernehmen. Gegenargumente werden dagegen eher als störend empfunden und verdrängt. In verschärfter Form lässt sich dies schön in den einschlägigen Internet-Foren verfolgen. Vernünftige Warner haben dort meist einen schweren Stand. Einzelne Anleger lassen sich selbst durch erdrückende Fakten nicht von ihrer Meinung abbringen.
Noch verhängnisvoller wirkt dieser Verdrängungsmechanismus aber, wenn es um die Bewertung der eigenen Depotpositionen geht. Gewinner werden gefeiert, Verlustbringer umso lieber ausgeblendet.
Dieses Phänomen lässt sich beispielsweise auch an der Nutzung der Musterdepots bei boerse.ARD.de beobachten. Steigt der Dax, brummt der Server, weil sich viele Börsianer über die Fortschritte ihrer Schätzchen freuen wollen. Fallen aber die Kurse, wollen es viele nicht mehr so genau wissen und die Zahl der Depotzugriffe geht deutlich zurück.
Die Wissenschaft führt dieses Verhalten darauf zurück, dass Menschen sich ungern Fehler eingestehen. Wie Studien mit Anlegern ergaben, schmerzen Verluste deutlich stärker, als Gewinne in gleicher Höhe erfreuen. Denn ein Kursverlust bedeutet zugleich eine Fehlentscheidung, deren Eingeständnis mit Schuldgefühlen und Reue einhergeht. Solche Dissonanzen versuchen Menschen gerne zu vermeiden.
Das erklärt die Zurückhaltung der Börsianer, wenn es ans Realisieren von Kursverlusten geht. Selbst wenn die Aussichten für den Kursverlierer trübe sind – die Hoffnung, dass der Posten doch wieder die Pluszone erreicht, stirbt zuletzt. Schließlich ist das Misserfolgs-Erlebnis erst komplett, wenn der Verlustbringer verkauft wurde. Aussitzen tut dagegen weniger weh. Hand aufs Herz: Lässt sich so nicht manche Depotleiche aus den seligen Zeiten der New-Economy-Hausse erklären? Werden aber Verluste ausgeblendet, wird auch das Lernen aus Fehlern erschwert.
Tipp: Transaktionen andersherum betrachten!
Um der selektiven Wahrnehmung ein Schnippchen zu schlagen, ist es hilfreich, seine Transaktionen grundsätzlich auch aus der entgegengesetzten Perspektive zu betrachten. Wollen Sie eine Aktie kaufen, überlegen Sie sich, was für einen Verkauf des Titels sprechen würde. Denken Sie umgekehrt daran zu verkaufen, überlegen Sie sich zuerst, ob es nicht auch starke Argumente für einen Kauf des Papiers gibt. Würden Sie eine Depotleiche heute auf keinen Fall mehr kaufen, sollten Sie überlegen, ob Sie sie nicht schleunigst abstoßen sollten.
Haben Sie sich zu einem Kauf entschlossen, sollten Sie gleichzeitig Ihre persönliche Schmerzgrenze bestimmen: Welchen Verlust will ich mir höchstens mit diesem Titel leisten? Ein einfaches Mittel, solche Schmerzgrenzen umzusetzen, sind Stop-Loss-Orders. Die funktionieren meist besser als rein "mentale" Verlustbremsen – die selektive Wahrnehmung lässt grüßen!