Ein neues, ketzerisches Buch stellt die Regeln der Börsenkunst auf den Kopf. Demnach lassen sich Investoren mehr von Instinkt und Gefühl treiben als von analytischem Denken. Selbst "Insider" und Experten handelten oft irrational - künftige Crashs sind danach programmiert.
New York - Harry Markowitz ist eigentlich ein schlauer Mann. Der US-Ökonom bekam 1990 gemeinsam mit zwei Kollegen den Nobelpreis für Wirtschaft verliehen, unter anderem für seine Erkenntnisse zur optimalen Geldanlage. Markowitz' Portfolio-Theorie berechnet nach einer exakten, mathematischen Formel, wie sich der Investor bestmöglich diversifizieren kann und zugleich aber das Risiko minimiert.
Zu dumm, dass Markowitz seine preisgekrönte, bis heute in Fachbüchern zitierte Theorie oft nicht aufs eigene Geld anwenden konnte. Stattdessen widerfuhr ihm beim Investieren immer wieder das, was auch dem gemeinen Amateur passiert: Er wurde zum Opfer seiner Gefühle.
"Ich stellte mir meinen Kummer vor, wenn der Aktienmarkt hochschösse und ich nicht dabei wäre - oder wenn er abstürzte und ich komplett dabei wäre", berichtet Markowitz. Am Ende habe er, der Meister der tollen Portfolio-Theorie, aus Angst vor dem Risiko zum abgestandensten aller Anlagetricks gegriffen: 50 Prozent Aktien, 50 Prozent Anleihen, basta.
Markowitz' Geschichte findet sich als Musterbeispiel in einem neuen Buch, das die Börsenregeln auf den Kopf stellt. "Your Money & Your Brain" heißt es, und darin präsentiert der renommierte US-Finanzjournalist Jason Zweig ("Money", "Time") in erstmals auch für Laien verständlicher Form die aktuellsten Forschungen im Feld der Neuroökonomie. Das ist eine exotische, noch relativ junge Wissenschaft, die Ökonomie, Psychologie und Neurowissenschaft kombiniert, um so herauszufinden, was Investoren wirklich antreibt.
Zeit für einen Reality-Check
Fazit: "Vieles von dem, was wir über das Investieren gelernt haben, ist falsch." Und zwar nicht, was die Mechanismen der Börse angeht, über die schon ganze Bibliotheken zusammengeschrieben wurden, sondern, was die Natur des Spekulanten selbst betrifft. Die triste Einsicht: Die meisten Anleger sind demzufolge dumm - vor allem, wenn sie sich für ganz besonders klug halten. "Investoren", schreibt Zweig mit gewisser Schadenfreude, "sind ihre eigenen, schlimmsten Feinde."
Damit begeht Zweig Börsen-Blasphemie: Er befreit das hochtrabende Wall-Street-Geschäft von seiner ach so mysteriösen Aura, die es bis heute zum Selbstzweck propagiert, und outet die "Insider" als ganz normale Menschen mit geheimen Minderwertigkeitskomplexen.
Der Zeitpunkt für diesen Reality-Check könnte kaum besser gewählt sein: Am 19. Oktober ist der 20. Jahrestag des "Schwarzen Montags", des globalen Börsen-Crashs von 1987. Bei jenem Desaster, dem größten Eintages-Crash in der Geschichte, stürzten die Börsenindizes weltweit ab. Allein der Dow Jones verlor 22,6 Prozentpunkte - damals rund 500 Milliarden Dollar, die über Nacht ausradiert wurden. Und bis heute weiß keiner so recht, warum.
Diesem und ähnlichen Rätseln glaubt die Neuroökonomie nun auf die Spur gekommen zu sein. "Jeder weiß, dass Panikverkäufe eine schlechte Idee sind", schreibt Zweig. Und doch reagieren Anleger immer wieder panisch auf Firmennachrichten oder, wie zuletzt, auf die Probleme im Immobilien- und Kreditmarkt. Warum?
Panikreaktion wie bei Todesgefahr
Jeder wisse: "Buy low, sell high." Und doch täten Anleger oft das Gegenteil. Jeder wisse: "Den Markt zu schlagen ist nahezu unmöglich." Und doch glaube fast jeder Anleger, er könne es schaffen. Jeder wisse: Auch die besten Wall-Street-Analysten könnten nicht prophezeien, wie sich der Markt verhalte. Und doch hingen die Anleger ihnen an den Lippen. Warum?
Investoren laufen im Rudel, sind mal viel zu selbstsicher, dann wieder vor Schreck erstarrt, sie scheuen das Risiko und stürzen sich im nächsten Moment kopfüber hinein. Warum? Die Antwort liege nicht in mathematischen Formeln, nicht in Powerpoint-Folien, Kurven oder Statistiken. Die Antwort liege im menschlichen Gehirn. "Das Gehirn", konstatiert Zweig mit süffisantem Spott, "ist kein optimales Werkzeug für finanzielle Entscheidungen."
Denn das Gehirn bestehe aus enorm starken Ur-Impulsen, aus wortwörtlich steinzeitlichen Überlebensmechanismen, die instinktiv Risiken scheuten und Belohnung anstrebten ("Feuer heiß", "Essen gut"). Darüber liege nur "ein dünnes Furnier" aus jüngeren, analytischen Schaltkreisen, die bei komplexen Fragen wie Aktien und Anlagen überfordert seien.
Menschliches Anlageverhalten lässt sich demnach mit einem Blick auf die Neuronen im Gehirn besser erklären als mit jedem Finanzseminar. So habe finanzieller Verlust oder Gewinn nicht nur materielle Folgen, sondern ziehe auch nachweisbare, physische "biologische Veränderungen" in Gehirn und Körper des Anlegers nach sich. Die Nervenaktivität beim erfolgreichen Investieren sei von der eines Kokain- oder Morphin-Rauschs "nicht zu unterscheiden". Hohe Verluste würden dagegen im selben Hirnbereich verarbeitet wie Todesgefahr.
Kaufgrund für eine Aktie: identische Initialen
"Bei finanziellen Entscheidungen geht es nicht unbedingt nur um Geld", zitiert Zweig den Princeton-Psychologen Daniel Kahneman. "Es geht auch um unfassbare Motive wie Reue oder Stolz." Oder, wie der Autor hilfreich ergänzt, um "Hoffnung, Gier, Anmaßung, Überraschung, Angst, Panik, Bedauern und Glück".
Zweig stellt den New Yorker Magen-Darm-Spezialisten Clark Harris vor, der Aktien einer Baumaterial-Firma namens CNH gekauft habe, ohne das Geringste über das Unternehmen zu wissen. Sein Motiv: Dessen Initialen seien identisch mit denen seines eigenen Namens (Harris' zweiter Vorname ist Nelson). "Ich habe einfach ein gutes Gefühl dabei", sagte Harris zu Zweig.
Sicher, Intuition könne atemberaubende, schnelle Resultate produzieren - aber auch verheerende: "Eines der klarsten Signale, dass du mit einem Investment falsch liegst, ist das Gefühl, richtig zu liegen", schreibt Zweig. Oder mehr noch - der Wunsch, richtig zu liegen.
Diese Kluft zwischen Wunschdenken und Realität beschreibt Zweig am Lotto, jener ewigen Verlockung, dem Spekulieren mit Aktien nicht unähnlich: Die Gewinnchance ist verschwindend gering, die Vorfreude auf möglichen Reichtum jedoch viel stärker - alle Rationalität wird ausgehebelt. Kein Wunder, dass der erfolgreiche Werbeslogan der New York Lottery lautet: "Hey, you never know!"
"Nicht viel Hoffnung"
Die Kunst sei es nun, die richtige Balance zu finden zwischen "reiner Rationalität" und "schierer Emotion", zwischen Analyse und Intuition, Verstand und Gefühl - beides allein für sich sei schlecht fürs Portfolio. Die meisten Investoren jedoch, selbst die angeblich besten, seien damit aber überfordert. Weshalb sich Debakel wie der "Black Monday" auch in Zukunft unweigerlich wiederholen würden.
Ein düsteres Omen. "Wenn du dich für ein finanzielles Genie hältst, dann bist du höchstwahrscheinlich dümmer, als du denkst", schreibt Zweig. "Wenn du dich für einen finanziellen Idioten hältst, dann bist du bestimmt schlauer, als dir klar ist." Als bestes Beispiel nennt er sich selbst - ein langjähriger Wirtschaftsjournalist, der sich im Krisenjahr 1987 die Sporen verdiente, doch feststellen musste, als er sein Investitionsverhalten nun neurologisch testen ließ: "Reinstes Chaos."
Wer sich aber die Mühe mache, sein Gehirn kennenzulernen, beruhigt Zweig seine Leser zum Ende, könne es für die Börse bändigen. Als Vorbild empfahl er die Investorenlegende Warren Buffett, einen Könner dieses Seiltanzes zwischen Analytik und Gefühl.
Joe Nocera, der Chef-Wirtschaftskolumnist der "New York Times", war nach der Lektüre des Zweig-Buchs weniger optimistisch: "Es besteht wirklich nicht viel Hoffnung, dass wir den Dreh beim Investieren jemals rauskriegen."
Und so geht der Seiltanz weiter. Als Ehrengast der New York Stock Exchange (NYSE) durfte heute Mike Koehler, der CEO der Datenfirma Teradata, die Eröffnungsglocke über dem Börsenparkett läuten. Teradata, ein Spin-Off des Tech-Konzerns NCR, empfiehlt sich als brandneuer Anlagetipp. Bleibt nur zu hoffen, dass die dummen Investoren da mitspielen.
*Jason Zweig: "Your Money & Your Brain", Simon & Schuster, New York 2007