Eine Geschichte wie aus der Kombination von Know How, Glück und Geduld ein unschlagbarer Erfolg wurde.
Viel Vergnügen bei der Lektüre.
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permanent
HANDELSBLATT, Mittwoch, 26. Oktober 2005, 12:32 Uhr
Report
Tamiflu - teurer als Gold
Von Oliver Stock, Handelsblatt
Weißes, bitteres Pulver, das als Puderzucker durchgehen könnte. 75 Milligramm davon stecken in einer gelb-weißen Gelatine-Kapsel. Zehn Kapseln, in Folie eingeschweißt, ergeben eine Packung. Tamiflu.
ZÜRICH. Millionenfach taucht der Name derzeit auf. Jeder will Tamiflu. Mit jedem Vogel, der an Grippe stirbt, steigt die Nachfrage nach der unscheinbaren Kapsel, die die Krankheit beim Menschen lindert. Kaufen und aufheben für den Notfall, heißt die Devise.
Keine Ahnung, was in dem Zeug steckt. Keine Spur ist zu sehen von den Reisen, die Teile des Pulvers hinter sich haben. Von ihrer Herkunft aus China und ihrer Veredelung in den USA. Kein Fingerzeig auf jenes Labor in Australien, in dem der Durchbruch gelang. Kein Hinweis auf jenen Spalt im Molekül, in den das Pulver eindringt, um das Virus aufzuhalten. Dafür beim Blick auf das Preisschild die Erkenntnis, etwas Wertvolles erworben zu haben. Hochgerechnet auf ein Kilo ergibt sich ein Preis, dagegen ist Gold ein Schnäppchen.
Dies ist die Geschichte eines Grippemittels, das heute als wirksamstes Medikament gegen die Vogelgrippe gilt. Rund 20 Jahre hat es von ersten Forschungsergebnissen in Australien bis heute gedauert, ehe sich Tamiflu für den Schweizer Roche-Konzern zum Blockbuster entwickelte – eine Spurensuche.
1986 kehrt der frisch habilitierte deutschstämmige Professor Mark von Itzstein von einem Aufenthalt als Humboldt-Stipendiat in Marburg nach Australien zurück. Von Itzstein ist damals noch keine 40, die runde Brille verleiht seinem Gesicht etwas Pfiffiges. Unter seinem Arbeitskittel trägt der Professor, der an den pharmazeutischen Lehrstuhl der australischen Monash-Universität berufen wird, eine Krawatte. Von Itzstein und sein Team nehmen ein spezielles Wesen unter das Mikroskop: das Neuraminidase-Molekül. Es spielt eine Hauptrolle im Kampf gegen die Grippe.
Gegen das Grippevirus ist zu dieser Zeit kein Kraut gewachsen. Das liegt an seiner tückischen Eigenschaft, sich immer wieder zu verändern. Weil der Eindringling stets eine andere Verkleidung wählt, hilft auf Dauer kein Impfstoff und funktioniert keine körpereigene Abwehr. Das Virus dringt in den Menschen, setzt sich in den Körperzellen fest und regt sie an, Viren nach seinem Vorbild zu produzieren. Die Nachkommenschaft verlässt die Zellen, wobei sie eine klebrige Zellschicht überwinden muss. Den Viren gelingt das mit Hilfe eines Moleküls, das der Schicht die klebrige Wirkung nimmt: Neuraminidase.
Von Itzstein und sein Team entdecken, dass dieses Enzym sich zwar ebenfalls verändert, jedoch stets an der gleichen Stelle eine tiefe Spalte hat. Der Professor bläst zum Angriff und entwickelt einen Stoff, der den Spalt stopft. Er nennt ihn nüchtern GG 167 und testet ihn an grippekranken Mäusen. Tatsächlich gelingt es dem Influenza-Virus nicht mehr, die Wirtszellen zu verlassen. Er bleibt kleben. Von Itzstein hat einen guten Job gemacht. Er ahnt das: „Wir hatten den Ansatz für eine neue Generation von Grippemitteln gefunden.“
1992 steht ein Mann mit strengem Scheitel und schmalem Oberlippenbart etwas unschlüssig vor einem Plakat, das im Foyer der jährlichen Tagung des Infektiologiekongresses in Los Angeles hängt. Norbert Bischofberger, ursprünglich mit einem Professorentitel in Zürich ausgestattet, hatte genug akademische Luft geschnuppert und sich entschlossen, sein Wissen in die Praxis umzusetzen. Seinen ersten Job in einem Unternehmen hat er vor sechs Jahren bei der kleinen US-Biotechfirma Gilead angenommen und es dort zum Forschungschef gebracht.
Das Plakat berichtet von der Entdeckung australischer Wissenschaftler, die Grippe bei Mäusen unter Kontrolle brachten. Als Bischofberger weiterliest, schwindet sein Interesse – beinahe: Der britische Pharmariese Glaxo hat einen Vertrag mit den Australiern abgeschlossen, um GG 167 auf den Markt zu bringen.
Schade. Zu spät, denkt Bischofberger. Aber im Kopf macht er noch eine andere Rechnung auf: Allein in Westeuropa, den USA und Japan erkranken jedes Jahr mehr als 100 Millionen Menschen an Grippe. Bischofberger ist schlagartig klar, dass ein Medikament gegen Grippe ein Segen für die Menschen und ein Geldsegen für den Hersteller bedeuten würde.
Er sucht nach einem Ansatz, um doch noch ins Geschäft zu kommen. Und er findet ihn: Glaxo setzt gezwungenermaßen auf ein Medikament, das inhaliert werden muss. Weil GG 167 wegen seiner Struktur die Darmwand nicht durchdringen und in die Blutbahn der Patienten gelangen kann, ist das Inhalieren zu diesem Zeitpunkt die einzige Möglichkeit, den Stoff im Körper wirksam werden zu lassen. Bischofberger ist inzwischen Pharmaprofi genug, um zu wissen, dass Patienten, die die Wahl zwischen Schlucken und Inhalieren haben, zur Pille greifen. Er beschließt, GG 167 in eine appetitlichere Form zu bringen.
1996 sitzt Martin Karpf im Flugzeug von Zürich nach San Francisco. Damals, als von Itzstein seine Entdeckung machte, hatte Karpf gerade beim Schweizer Pharmariesen Roche angefangen. Karpf setzt seine Brille mit den runden Gläsern auf und studiert im Flugzeugsessel noch einmal die Unterlagen der Kollegen von Gilead: Jahre hatten sie in die Forschung gesteckt und schließlich eine Lösung gefunden. Sie verbargen den Wirkstoff, den sie entwickelt hatten und der genauso wie das GG 167 wirkte, hinter einer zusätzlichen Atomgruppe. Im Schutz dieser Maske gelang es ihm, durch die Darmwand zu schlüpfen, in die Blutbahn zu schwimmen und seinen Kampf gegen das Treiben der Grippeviren aufzunehmen.
Der ganze Versuchsaufbau war kein Computer-Hirngespinst, sondern hatte bereits bei Tieren funktioniert. Und zwar nicht nur bei Mäusen, bei denen Symptome nicht zu erkennen sind, sondern auch bei einem Frettchen, das wie ein Mensch bei Grippe anfängt zu niesen und verquollene Augen bekommt.
In Karpfs Gehirn beginnt es zu arbeiten. Der Mann ist Spezialist für Verfahrensforschung. Gilead hatte ein paar Gramm der Substanz gewonnen, um dann festzustellen, dass eine Massenproduktion einige Nummern zu groß für den kleinen Hersteller sein würde. Also hatten Bischofberger und sein Team Partner gesucht und gefunden: Am 30. September 1996 gaben sie in einer dürftigen, nur 24 Zeilen umfassenden Mitteilung den Vertragsabschluss mit Roche bekannt. Zehn Millionen Dollar zahlten die Schweizer bar auf den Tisch, viermal so viel sollte es später geben, wenn weitere Tests erfolgreich seien. Falls das Medikament auf den Markt käme, wären außerdem umsatzabhängige Lizenzgebühren von Roche an Gilead fällig. Kurzum: Auf Karpf und seinem Team lastete nun die ganze Verantwortung, den Abschluss, bei dem Roche bisher nur zahlte, in ein lohnendes Geschäft zu verwandeln. Er muss ein Verfahren finden, um nicht einen Fingerhut, sondern ein Fass des neuen Medikaments herzustellen. Karpf leistete ganze Arbeit.
Während Bischofberger weiter klinische Tests vornimmt, entscheidet sich das Roche-Team für einen neuen Rohstoff. Für GS 4104, wie der Arbeitstitel bei Gilead lautete, will Roche nicht mehr Chinasäure nehmen, die von immergrünen Chinarindenbäumen stammt, aber nur begrenzt zu haben ist. Stattdessen setzen die Schweizer nun auf Shikimisäure, die zumindest einfacher zu verarbeiten ist. „Wir wussten nur anfangs nicht, wie wir an große Mengen der Substanz gelangen sollten“, berichtet Karpf.
Seine Mitarbeiter schwärmen aus, sie durchwühlen Datenbanken und Papierarchive und präsentieren nach einem Jahr die Lösung: Die begehrte Säure steckt in der Fruchthülle der chinesischen Sternanis-Pflanze. Außerdem lässt sie sich aus gärenden Kolibakterien herstellen. „Wir hatten nun zwei Verfahren, um den Rohstoff zu produzieren. Das war der Durchbruch“, sagt Karpf.
Inzwischen waren seit der Entdeckung der Australier zwölf Jahre vergangen. Im Vergleich zu Glaxo liegt Roche bei der Influenza-Forschung hoffnungslos zurück. Der britische Biotechriese hatte das Stadium der Tierversuche mit seinem in Zanimivir umgetauften GG 167 längst verlassen. Auch Phase eins, der Test an Menschen auf Nebenwirkungen, hatte Zanamivir absolviert und bestanden. Wenn es jetzt noch seine Wirksamkeit bei Grippepatienten beweist, kann Glaxo das Medikament zwei Jahre später 1997 auf den Markt bringen. Ein erbitterter Wettkampf beginnt.
Penny Ward nimmt diesen Wettkampf auf. Im britischen Roche-Forschungszentrum Welwyn trommelt sie Ärzte aus aller Welt zusammen. Deren Aufgabe: Sie sollen die Grippe definieren und von allen Erkältungskrankheiten unterscheidbar machen. Denn GS 4104 würde nur gegen den Grippevirus wirken, nicht beim grippalen Infekt. Bei einer Testreihe mit falschen Grippepatienten wären keine Erfolge zu verzeichnen und jede Zulassungsbehörde würde das Medikament als untauglich ablehnen. Glaxo sollte an dieser Hürde im Jahr 2000 vorerst scheitern: Die US-Zulassungsbehörde stellte eine Zulassung des Glaxo-Produkts zunächst zurück, weil sie die Wirksamkeit nicht eindeutig bewiesen sah.
Doch soweit ist die britische Roche-Mitarbeiterin noch gar nicht. Nachdem am 11. März 1997 der erste Patient ein noch nach dem Gilead- Verfahren hergestelltes GS 4107 eingenommen und vertragen hatte, musste sie nun die Phase zwei organisieren: Klinische Tests mit 117 Testpersonen. Sie werden künstlich angesteckt, damit die Forscher auch sicher gehen können, es mit dem richtigen Virus zu tun zu haben. Die Wirkung überzeugt: Die Symptome klingen nach gut zwei Tagen ab. Die Vergleichsgruppe ohne Medikament liegt fast vier Tage flach.
Ward startet Phase drei, den Großversuch. Ihre Ärzte haben 14 hieb- und stichfeste Grippe-Kriterien wie Fieber und Gelenkschmerzen festgelegt. Roche legt von Alaska bis Florida, von Finnland bis Italien kleine Depots mit dem Medikament an, um bei Ausbruch einer Grippe direkt liefern zu können.
Die Geduld der Forscher wird strapaziert. Am 25. November deuten Daten aus Vancouver auf einen Grippeausbruch hin. Fehlalarm. Den ganzen Winter 1997/98 gibt es keine echte Grippewelle. Ein Ausnahmewinter. Und für Roche, die an Gilead bereits die volle Summe bezahlt hat, beinahe ein Desaster. 1 355 Patienten werden „zusammengekratzt“, wie eine Wissenschaftlerin sich später ausdrückt. Die Statistiker hätten sich mehr gewünscht. Doch auch so lassen die Ergebnisse aufhorchen: Wer GS 4104 innerhalb von 36 Stunden nach Auftreten der Symptome nimmt, ist eineinhalb Tage früher als andere gesund.
Roche stellt den Antrag auf Zulassung und hält im Oktober 1999 die Zustimmung der US-Behörde in den Händen. Auf dem wichtigsten Markt haben die Schweizer die Konkurrenz damit fast eingeholt.
Der Rest ist Marketing. Die WHO genehmigt den Namen Oseltamivir für den entscheidenden Wirkstoff, den Neuraminidasehemmer. Roche nimmt zwei Silben daraus und setzt das „flu“ aus Influenza dahinter.
Vier Jahre bleiben die Tamiflu-Verkäufe hinter den Erwartungen zurück. Ärzte, die das richtige Medikament gegen eine nur vermeintliche Grippe verschreiben und keine Erfolge sehen, tragen dazu bei. Ende 2003 erreichen die Meldungen vom Ausbruch der Vogelgrippe Europa. Roche teilt mit, dass „Tamiflu ein wirksames Mittel zur Behandlung der Vogelgrippe sein könnte“. William Burns, Roches Pharmachef, legt nach: „Roche unternimmt alles, um Tamiflu zur Bekämpfung dieses jüngsten Ausbruchs der Vogelgrippe bereitzustellen“, sagt er am 29. Januar 2004. Die Vorräte, fügt er hinzu, sollten reichen.
Zumindest die letzte Prognose stimmt nicht. Inzwischen haben mehr als 40 Staaten Tausende Tonnen Tamiflu bestellt. Gilead strengt einen Prozess gegen Roche an, um höhere Lizenzeinnahmen zu erzielen. Roche hat die Produktion auf 13 Standorte erhöht. Der Umsatz erreicht die Milliardengrenze.
Blockbuster Tamiflu
Verkaufsrenner: Tamiflu, neben Relenza eines von weltweit nur zwei echten Grippemitteln, entwickelt sich seit Anfang letzten Jahres zum so genannten Blockbuster. Davon spricht die Branche, wenn mit einem Medikament mehr als eine Milliarde Euro Umsatz erzielt wird. Die Betriebsmarge, die Hersteller Roche erzielt, schätzen einige Analysten auf 50 Prozent. Das zweite Grippemittel Relenza verkauft sich nicht so gut, weil das Mittel inhaliert werden muss – aus Sicht der Patienten offenbar ein Nachteil.
Produktionsstandorte: Um der Nachfrage vor allem im Zuge der Vogelgrippe Herr zu werden, weitet Roche die Produktion der Arznei auf weltweit 13 Standorte aus. Damit die Produktionserhöhung möglichst schnell geht, betreiben die Schweizer die Herstellung nicht mehr selbst, sondern haben bereits für sieben Fabriken Lizenzen an andere Pharma- und Chemiefirmen vergeben. Darüber hinaus bietet William Burns, Leiter des Roche-Pharmabereichs an, noch weitere Lizenzen an Staaten und Unternehmen zu vergeben, die in die Produktion einsteigen wollen.
Preise: Patienten in der Schweiz zahlen bis zu 86,50 Franken ( 57,60 Euro) je Schachtel mit zehn Kapseln. In Deutschland kostet das rezeptpflichtige Tamiflu mit rund 35 Euro und in Frankreich mit 26 Euro weniger. Via Internet bieten unzählige Medikamentenhändler Tamiflu ohne Rezept an.
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HANDELSBLATT, Mittwoch, 26. Oktober 2005, 12:32 Uhr
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Tamiflu - teurer als Gold
Von Oliver Stock, Handelsblatt
Weißes, bitteres Pulver, das als Puderzucker durchgehen könnte. 75 Milligramm davon stecken in einer gelb-weißen Gelatine-Kapsel. Zehn Kapseln, in Folie eingeschweißt, ergeben eine Packung. Tamiflu.
ZÜRICH. Millionenfach taucht der Name derzeit auf. Jeder will Tamiflu. Mit jedem Vogel, der an Grippe stirbt, steigt die Nachfrage nach der unscheinbaren Kapsel, die die Krankheit beim Menschen lindert. Kaufen und aufheben für den Notfall, heißt die Devise.
Keine Ahnung, was in dem Zeug steckt. Keine Spur ist zu sehen von den Reisen, die Teile des Pulvers hinter sich haben. Von ihrer Herkunft aus China und ihrer Veredelung in den USA. Kein Fingerzeig auf jenes Labor in Australien, in dem der Durchbruch gelang. Kein Hinweis auf jenen Spalt im Molekül, in den das Pulver eindringt, um das Virus aufzuhalten. Dafür beim Blick auf das Preisschild die Erkenntnis, etwas Wertvolles erworben zu haben. Hochgerechnet auf ein Kilo ergibt sich ein Preis, dagegen ist Gold ein Schnäppchen.
Dies ist die Geschichte eines Grippemittels, das heute als wirksamstes Medikament gegen die Vogelgrippe gilt. Rund 20 Jahre hat es von ersten Forschungsergebnissen in Australien bis heute gedauert, ehe sich Tamiflu für den Schweizer Roche-Konzern zum Blockbuster entwickelte – eine Spurensuche.
1986 kehrt der frisch habilitierte deutschstämmige Professor Mark von Itzstein von einem Aufenthalt als Humboldt-Stipendiat in Marburg nach Australien zurück. Von Itzstein ist damals noch keine 40, die runde Brille verleiht seinem Gesicht etwas Pfiffiges. Unter seinem Arbeitskittel trägt der Professor, der an den pharmazeutischen Lehrstuhl der australischen Monash-Universität berufen wird, eine Krawatte. Von Itzstein und sein Team nehmen ein spezielles Wesen unter das Mikroskop: das Neuraminidase-Molekül. Es spielt eine Hauptrolle im Kampf gegen die Grippe.
Gegen das Grippevirus ist zu dieser Zeit kein Kraut gewachsen. Das liegt an seiner tückischen Eigenschaft, sich immer wieder zu verändern. Weil der Eindringling stets eine andere Verkleidung wählt, hilft auf Dauer kein Impfstoff und funktioniert keine körpereigene Abwehr. Das Virus dringt in den Menschen, setzt sich in den Körperzellen fest und regt sie an, Viren nach seinem Vorbild zu produzieren. Die Nachkommenschaft verlässt die Zellen, wobei sie eine klebrige Zellschicht überwinden muss. Den Viren gelingt das mit Hilfe eines Moleküls, das der Schicht die klebrige Wirkung nimmt: Neuraminidase.
Von Itzstein und sein Team entdecken, dass dieses Enzym sich zwar ebenfalls verändert, jedoch stets an der gleichen Stelle eine tiefe Spalte hat. Der Professor bläst zum Angriff und entwickelt einen Stoff, der den Spalt stopft. Er nennt ihn nüchtern GG 167 und testet ihn an grippekranken Mäusen. Tatsächlich gelingt es dem Influenza-Virus nicht mehr, die Wirtszellen zu verlassen. Er bleibt kleben. Von Itzstein hat einen guten Job gemacht. Er ahnt das: „Wir hatten den Ansatz für eine neue Generation von Grippemitteln gefunden.“
1992 steht ein Mann mit strengem Scheitel und schmalem Oberlippenbart etwas unschlüssig vor einem Plakat, das im Foyer der jährlichen Tagung des Infektiologiekongresses in Los Angeles hängt. Norbert Bischofberger, ursprünglich mit einem Professorentitel in Zürich ausgestattet, hatte genug akademische Luft geschnuppert und sich entschlossen, sein Wissen in die Praxis umzusetzen. Seinen ersten Job in einem Unternehmen hat er vor sechs Jahren bei der kleinen US-Biotechfirma Gilead angenommen und es dort zum Forschungschef gebracht.
Das Plakat berichtet von der Entdeckung australischer Wissenschaftler, die Grippe bei Mäusen unter Kontrolle brachten. Als Bischofberger weiterliest, schwindet sein Interesse – beinahe: Der britische Pharmariese Glaxo hat einen Vertrag mit den Australiern abgeschlossen, um GG 167 auf den Markt zu bringen.
Schade. Zu spät, denkt Bischofberger. Aber im Kopf macht er noch eine andere Rechnung auf: Allein in Westeuropa, den USA und Japan erkranken jedes Jahr mehr als 100 Millionen Menschen an Grippe. Bischofberger ist schlagartig klar, dass ein Medikament gegen Grippe ein Segen für die Menschen und ein Geldsegen für den Hersteller bedeuten würde.
Er sucht nach einem Ansatz, um doch noch ins Geschäft zu kommen. Und er findet ihn: Glaxo setzt gezwungenermaßen auf ein Medikament, das inhaliert werden muss. Weil GG 167 wegen seiner Struktur die Darmwand nicht durchdringen und in die Blutbahn der Patienten gelangen kann, ist das Inhalieren zu diesem Zeitpunkt die einzige Möglichkeit, den Stoff im Körper wirksam werden zu lassen. Bischofberger ist inzwischen Pharmaprofi genug, um zu wissen, dass Patienten, die die Wahl zwischen Schlucken und Inhalieren haben, zur Pille greifen. Er beschließt, GG 167 in eine appetitlichere Form zu bringen.
1996 sitzt Martin Karpf im Flugzeug von Zürich nach San Francisco. Damals, als von Itzstein seine Entdeckung machte, hatte Karpf gerade beim Schweizer Pharmariesen Roche angefangen. Karpf setzt seine Brille mit den runden Gläsern auf und studiert im Flugzeugsessel noch einmal die Unterlagen der Kollegen von Gilead: Jahre hatten sie in die Forschung gesteckt und schließlich eine Lösung gefunden. Sie verbargen den Wirkstoff, den sie entwickelt hatten und der genauso wie das GG 167 wirkte, hinter einer zusätzlichen Atomgruppe. Im Schutz dieser Maske gelang es ihm, durch die Darmwand zu schlüpfen, in die Blutbahn zu schwimmen und seinen Kampf gegen das Treiben der Grippeviren aufzunehmen.
Der ganze Versuchsaufbau war kein Computer-Hirngespinst, sondern hatte bereits bei Tieren funktioniert. Und zwar nicht nur bei Mäusen, bei denen Symptome nicht zu erkennen sind, sondern auch bei einem Frettchen, das wie ein Mensch bei Grippe anfängt zu niesen und verquollene Augen bekommt.
In Karpfs Gehirn beginnt es zu arbeiten. Der Mann ist Spezialist für Verfahrensforschung. Gilead hatte ein paar Gramm der Substanz gewonnen, um dann festzustellen, dass eine Massenproduktion einige Nummern zu groß für den kleinen Hersteller sein würde. Also hatten Bischofberger und sein Team Partner gesucht und gefunden: Am 30. September 1996 gaben sie in einer dürftigen, nur 24 Zeilen umfassenden Mitteilung den Vertragsabschluss mit Roche bekannt. Zehn Millionen Dollar zahlten die Schweizer bar auf den Tisch, viermal so viel sollte es später geben, wenn weitere Tests erfolgreich seien. Falls das Medikament auf den Markt käme, wären außerdem umsatzabhängige Lizenzgebühren von Roche an Gilead fällig. Kurzum: Auf Karpf und seinem Team lastete nun die ganze Verantwortung, den Abschluss, bei dem Roche bisher nur zahlte, in ein lohnendes Geschäft zu verwandeln. Er muss ein Verfahren finden, um nicht einen Fingerhut, sondern ein Fass des neuen Medikaments herzustellen. Karpf leistete ganze Arbeit.
Während Bischofberger weiter klinische Tests vornimmt, entscheidet sich das Roche-Team für einen neuen Rohstoff. Für GS 4104, wie der Arbeitstitel bei Gilead lautete, will Roche nicht mehr Chinasäure nehmen, die von immergrünen Chinarindenbäumen stammt, aber nur begrenzt zu haben ist. Stattdessen setzen die Schweizer nun auf Shikimisäure, die zumindest einfacher zu verarbeiten ist. „Wir wussten nur anfangs nicht, wie wir an große Mengen der Substanz gelangen sollten“, berichtet Karpf.
Seine Mitarbeiter schwärmen aus, sie durchwühlen Datenbanken und Papierarchive und präsentieren nach einem Jahr die Lösung: Die begehrte Säure steckt in der Fruchthülle der chinesischen Sternanis-Pflanze. Außerdem lässt sie sich aus gärenden Kolibakterien herstellen. „Wir hatten nun zwei Verfahren, um den Rohstoff zu produzieren. Das war der Durchbruch“, sagt Karpf.
Inzwischen waren seit der Entdeckung der Australier zwölf Jahre vergangen. Im Vergleich zu Glaxo liegt Roche bei der Influenza-Forschung hoffnungslos zurück. Der britische Biotechriese hatte das Stadium der Tierversuche mit seinem in Zanimivir umgetauften GG 167 längst verlassen. Auch Phase eins, der Test an Menschen auf Nebenwirkungen, hatte Zanamivir absolviert und bestanden. Wenn es jetzt noch seine Wirksamkeit bei Grippepatienten beweist, kann Glaxo das Medikament zwei Jahre später 1997 auf den Markt bringen. Ein erbitterter Wettkampf beginnt.
Penny Ward nimmt diesen Wettkampf auf. Im britischen Roche-Forschungszentrum Welwyn trommelt sie Ärzte aus aller Welt zusammen. Deren Aufgabe: Sie sollen die Grippe definieren und von allen Erkältungskrankheiten unterscheidbar machen. Denn GS 4104 würde nur gegen den Grippevirus wirken, nicht beim grippalen Infekt. Bei einer Testreihe mit falschen Grippepatienten wären keine Erfolge zu verzeichnen und jede Zulassungsbehörde würde das Medikament als untauglich ablehnen. Glaxo sollte an dieser Hürde im Jahr 2000 vorerst scheitern: Die US-Zulassungsbehörde stellte eine Zulassung des Glaxo-Produkts zunächst zurück, weil sie die Wirksamkeit nicht eindeutig bewiesen sah.
Doch soweit ist die britische Roche-Mitarbeiterin noch gar nicht. Nachdem am 11. März 1997 der erste Patient ein noch nach dem Gilead- Verfahren hergestelltes GS 4107 eingenommen und vertragen hatte, musste sie nun die Phase zwei organisieren: Klinische Tests mit 117 Testpersonen. Sie werden künstlich angesteckt, damit die Forscher auch sicher gehen können, es mit dem richtigen Virus zu tun zu haben. Die Wirkung überzeugt: Die Symptome klingen nach gut zwei Tagen ab. Die Vergleichsgruppe ohne Medikament liegt fast vier Tage flach.
Ward startet Phase drei, den Großversuch. Ihre Ärzte haben 14 hieb- und stichfeste Grippe-Kriterien wie Fieber und Gelenkschmerzen festgelegt. Roche legt von Alaska bis Florida, von Finnland bis Italien kleine Depots mit dem Medikament an, um bei Ausbruch einer Grippe direkt liefern zu können.
Die Geduld der Forscher wird strapaziert. Am 25. November deuten Daten aus Vancouver auf einen Grippeausbruch hin. Fehlalarm. Den ganzen Winter 1997/98 gibt es keine echte Grippewelle. Ein Ausnahmewinter. Und für Roche, die an Gilead bereits die volle Summe bezahlt hat, beinahe ein Desaster. 1 355 Patienten werden „zusammengekratzt“, wie eine Wissenschaftlerin sich später ausdrückt. Die Statistiker hätten sich mehr gewünscht. Doch auch so lassen die Ergebnisse aufhorchen: Wer GS 4104 innerhalb von 36 Stunden nach Auftreten der Symptome nimmt, ist eineinhalb Tage früher als andere gesund.
Roche stellt den Antrag auf Zulassung und hält im Oktober 1999 die Zustimmung der US-Behörde in den Händen. Auf dem wichtigsten Markt haben die Schweizer die Konkurrenz damit fast eingeholt.
Der Rest ist Marketing. Die WHO genehmigt den Namen Oseltamivir für den entscheidenden Wirkstoff, den Neuraminidasehemmer. Roche nimmt zwei Silben daraus und setzt das „flu“ aus Influenza dahinter.
Vier Jahre bleiben die Tamiflu-Verkäufe hinter den Erwartungen zurück. Ärzte, die das richtige Medikament gegen eine nur vermeintliche Grippe verschreiben und keine Erfolge sehen, tragen dazu bei. Ende 2003 erreichen die Meldungen vom Ausbruch der Vogelgrippe Europa. Roche teilt mit, dass „Tamiflu ein wirksames Mittel zur Behandlung der Vogelgrippe sein könnte“. William Burns, Roches Pharmachef, legt nach: „Roche unternimmt alles, um Tamiflu zur Bekämpfung dieses jüngsten Ausbruchs der Vogelgrippe bereitzustellen“, sagt er am 29. Januar 2004. Die Vorräte, fügt er hinzu, sollten reichen.
Zumindest die letzte Prognose stimmt nicht. Inzwischen haben mehr als 40 Staaten Tausende Tonnen Tamiflu bestellt. Gilead strengt einen Prozess gegen Roche an, um höhere Lizenzeinnahmen zu erzielen. Roche hat die Produktion auf 13 Standorte erhöht. Der Umsatz erreicht die Milliardengrenze.
Blockbuster Tamiflu
Verkaufsrenner: Tamiflu, neben Relenza eines von weltweit nur zwei echten Grippemitteln, entwickelt sich seit Anfang letzten Jahres zum so genannten Blockbuster. Davon spricht die Branche, wenn mit einem Medikament mehr als eine Milliarde Euro Umsatz erzielt wird. Die Betriebsmarge, die Hersteller Roche erzielt, schätzen einige Analysten auf 50 Prozent. Das zweite Grippemittel Relenza verkauft sich nicht so gut, weil das Mittel inhaliert werden muss – aus Sicht der Patienten offenbar ein Nachteil.
Produktionsstandorte: Um der Nachfrage vor allem im Zuge der Vogelgrippe Herr zu werden, weitet Roche die Produktion der Arznei auf weltweit 13 Standorte aus. Damit die Produktionserhöhung möglichst schnell geht, betreiben die Schweizer die Herstellung nicht mehr selbst, sondern haben bereits für sieben Fabriken Lizenzen an andere Pharma- und Chemiefirmen vergeben. Darüber hinaus bietet William Burns, Leiter des Roche-Pharmabereichs an, noch weitere Lizenzen an Staaten und Unternehmen zu vergeben, die in die Produktion einsteigen wollen.
Preise: Patienten in der Schweiz zahlen bis zu 86,50 Franken ( 57,60 Euro) je Schachtel mit zehn Kapseln. In Deutschland kostet das rezeptpflichtige Tamiflu mit rund 35 Euro und in Frankreich mit 26 Euro weniger. Via Internet bieten unzählige Medikamentenhändler Tamiflu ohne Rezept an.