Die Talfahrt ist noch nicht vorbei
Wie im September kennen die Märkte nur eine Richtung: nach unten. Das Tempo wird immer höher. Daran ändern auch kurze und heftige Zwischenerholungen nichts. Im Gegenteil: Sie gehören zu einer ausgeprägten Talfahrt. Dennoch setzen Experten darauf, dass der Ausverkauf nicht mehr lange währt und eine Gegenbewegung naht.
ULF SOMMER
HANDELSBLATT, 18.6.2002
DÜSSELDORF. Selbst hart gesottene Fundamental-Analysten wechseln die Fronten: Seitdem sich die Börse von Konjunktur- und Unternehmens-Nachrichten vollkommen abkoppelt und ein Eigenleben führt, richten sich die Augen der Investoren auf die Charts und ihre Interpreten, den Technikern. Ihnen war es immerhin gelungen, im Herbst 2000 die bereits begonnene Baisse als ausgeprägte Trendwende zu erkennen. Damit kamen sie zwar ein halbes Jahr zu spät, aber immer noch deutlich früher als die Mehrzahl der „Fundis“.
Blütenweiß ist allerdings auch die Weste der Charttechniker nicht. Denn als die meisten Indizes vor einigen Wochen die 200-Tage-Linie (Durchschnittskurs der vergangenen 200 Börsentage) überwanden und gleichzeitig die langfristigen Abwärtstrends gebrochen wurden (siehe Chart), riefen sie das Ende der Baisse aus – voreilig, wie sich schnell herausstellte. Die zwei wichtigen Barrieren waren zwar geknackt, aber nicht nachhaltig, das heißt um mehrere Prozentpunkte und für mehrere Tage. Die Techniker waren einem klassischen Fehlsignal aufgesessen – einer Falle der Bären.
Seitdem die 200-Tage-Linie wieder unterschritten worden ist, gibt es an dem Fortbestand der Baisse keinen Zweifel mehr. Die Geschwindigkeit der Talfahrt überrascht Händler und Investmentstrategen gleichermaßen und lässt sich nur mit dem Ausverkauf im September vergleichen. Damals wiesen allerdings alle Fundamentaldaten aus Konjunktur und Unternehmen in den Keller. Hinzu kamen die Terrorangriffe auf die USA, die aus dem Ausverkauf einen Crash machten.
„Auffällig ist seit langem, dass jeder Korrekturschub nach unten doppelt so ausgeprägt ausfällt wie der voran gegangene“, sieht Michael Riesner von der DZ-Bank die Talfahrt noch nicht beendet. Seine Erklärung für das Phänomen: Zahl und Volumen der Hedge-Funds, die erfolgreich auf niedrigere Kurse spekulieren (indem sie sich Aktien leihen, diese leer verkaufen und sich später bei niedrigen Kursen eindecken), erhöhen sich permanent. Hinzu kommt, dass viele Hedge-Funds über elektronische Systeme verfügen. Diese helfen, Aktien rasch auf den Markt zu werfen, sobald der Markt Schwäche zeigt. Dazu gehört aber auch, dass Zwischenerholungen immer heftiger ausfallen: Immer mehr Leerverkäufer müssen sich mit Aktien eindecken, sobald die Börse zulegt. Niemand will den Kursen hinterherlaufen.
Nach einer kurzen technischen Erholung, wie sie beispielsweise gestern zu erkennen war, erwartet Riesner bis Mitte Juli die tiefsten Kurse. „Der langfristige Aufwärtstrend seit 1982 verläuft bei 4 000 Punkten. Ein Test dieser Marke ist sehr wahrscheinlich, und es wird schwierig, diese zu halten“ sagt Riesner. Er empfiehlt aber nicht, das Unmögliche zu versuchen, auf die tiefsten Stände zu warten. Anleger sollten in zwei Wochen beginnen, sich in den schwachen Markt einzukaufen.
Dass die tiefsten Kurse bereits mit dem Einbruch am vergangenen Freitag gesehen wurden, glauben Charttechniker nicht. „Der typische Ausverkaufsrutsch fehlt noch“, meint Riesner. Für Ralph Bloch vom Finanzhaus Raymond James & Associates ist dieses Szenario erst dann erfüllt, wenn sehr schwache Börsentage von extrem hohen Umsätzen begleitet werden. Ansätze dazu waren am Freitag vorhanden. Allerdings wurde die leichte Ausverkaufs-Stimmung durch eine Erholung des New Yorker Aktienmarktes jäh unterbrochen. Weil die Gegenbewegung nicht von noch höheren Umsätzen begleitet wurde, vermögen Charttechniker keine Trendwende zu erkennen.
Im Gegenteil, meint Uwe Wagner von der Deutschen Bank: „Unter strategischen Gesichtspunkten dominieren in allen beobachteten Aktienindizes intakte, übergeordnete Abwärtstrends, welche auf der Unterseite keine sinnvoll herleitbaren Unterstützungen mehr aufweisen.“ Doch ebenso wie WGZ-Bank-Analyst Stephen Schneider, der in den nächsten Tagen mit einer kurfristigen Erholung und einem Dax-Anstieg bis etwa 4 680 Zähler rechnet, sieht auch Wagner gute Chancen, dass die Märkte nach dem Freitagseinbruch kurzzeitig zu einer technischen Gegenbewegung ausholen.
So eine Zwischenrally kann die Indizes, wie schon so oft in der Vergangenheit, bis an die Obergrenze des langfristigen Abwärtstrends führen. Dieser verläuft beim Dax bei 5 200 Punkten und ergibt sich aus einer Linie zwischen den Hochpunkten seit Beginn des Abschwungs im März 2000. Damit liegt das Potenzial immerhin bei 20 %. Für deutlich mehr reicht es wohl nur, wenn die beiden Barrieren – langfristiger Abwärtstrend und 200-Tage-Linie – überwunden werden. Allerdings nachhaltig, sonst trampeln die Bullen wieder in eine Falle der starken Bären.
Wie im September kennen die Märkte nur eine Richtung: nach unten. Das Tempo wird immer höher. Daran ändern auch kurze und heftige Zwischenerholungen nichts. Im Gegenteil: Sie gehören zu einer ausgeprägten Talfahrt. Dennoch setzen Experten darauf, dass der Ausverkauf nicht mehr lange währt und eine Gegenbewegung naht.
ULF SOMMER
HANDELSBLATT, 18.6.2002
DÜSSELDORF. Selbst hart gesottene Fundamental-Analysten wechseln die Fronten: Seitdem sich die Börse von Konjunktur- und Unternehmens-Nachrichten vollkommen abkoppelt und ein Eigenleben führt, richten sich die Augen der Investoren auf die Charts und ihre Interpreten, den Technikern. Ihnen war es immerhin gelungen, im Herbst 2000 die bereits begonnene Baisse als ausgeprägte Trendwende zu erkennen. Damit kamen sie zwar ein halbes Jahr zu spät, aber immer noch deutlich früher als die Mehrzahl der „Fundis“.
Blütenweiß ist allerdings auch die Weste der Charttechniker nicht. Denn als die meisten Indizes vor einigen Wochen die 200-Tage-Linie (Durchschnittskurs der vergangenen 200 Börsentage) überwanden und gleichzeitig die langfristigen Abwärtstrends gebrochen wurden (siehe Chart), riefen sie das Ende der Baisse aus – voreilig, wie sich schnell herausstellte. Die zwei wichtigen Barrieren waren zwar geknackt, aber nicht nachhaltig, das heißt um mehrere Prozentpunkte und für mehrere Tage. Die Techniker waren einem klassischen Fehlsignal aufgesessen – einer Falle der Bären.
Seitdem die 200-Tage-Linie wieder unterschritten worden ist, gibt es an dem Fortbestand der Baisse keinen Zweifel mehr. Die Geschwindigkeit der Talfahrt überrascht Händler und Investmentstrategen gleichermaßen und lässt sich nur mit dem Ausverkauf im September vergleichen. Damals wiesen allerdings alle Fundamentaldaten aus Konjunktur und Unternehmen in den Keller. Hinzu kamen die Terrorangriffe auf die USA, die aus dem Ausverkauf einen Crash machten.
„Auffällig ist seit langem, dass jeder Korrekturschub nach unten doppelt so ausgeprägt ausfällt wie der voran gegangene“, sieht Michael Riesner von der DZ-Bank die Talfahrt noch nicht beendet. Seine Erklärung für das Phänomen: Zahl und Volumen der Hedge-Funds, die erfolgreich auf niedrigere Kurse spekulieren (indem sie sich Aktien leihen, diese leer verkaufen und sich später bei niedrigen Kursen eindecken), erhöhen sich permanent. Hinzu kommt, dass viele Hedge-Funds über elektronische Systeme verfügen. Diese helfen, Aktien rasch auf den Markt zu werfen, sobald der Markt Schwäche zeigt. Dazu gehört aber auch, dass Zwischenerholungen immer heftiger ausfallen: Immer mehr Leerverkäufer müssen sich mit Aktien eindecken, sobald die Börse zulegt. Niemand will den Kursen hinterherlaufen.
Nach einer kurzen technischen Erholung, wie sie beispielsweise gestern zu erkennen war, erwartet Riesner bis Mitte Juli die tiefsten Kurse. „Der langfristige Aufwärtstrend seit 1982 verläuft bei 4 000 Punkten. Ein Test dieser Marke ist sehr wahrscheinlich, und es wird schwierig, diese zu halten“ sagt Riesner. Er empfiehlt aber nicht, das Unmögliche zu versuchen, auf die tiefsten Stände zu warten. Anleger sollten in zwei Wochen beginnen, sich in den schwachen Markt einzukaufen.
Dass die tiefsten Kurse bereits mit dem Einbruch am vergangenen Freitag gesehen wurden, glauben Charttechniker nicht. „Der typische Ausverkaufsrutsch fehlt noch“, meint Riesner. Für Ralph Bloch vom Finanzhaus Raymond James & Associates ist dieses Szenario erst dann erfüllt, wenn sehr schwache Börsentage von extrem hohen Umsätzen begleitet werden. Ansätze dazu waren am Freitag vorhanden. Allerdings wurde die leichte Ausverkaufs-Stimmung durch eine Erholung des New Yorker Aktienmarktes jäh unterbrochen. Weil die Gegenbewegung nicht von noch höheren Umsätzen begleitet wurde, vermögen Charttechniker keine Trendwende zu erkennen.
Im Gegenteil, meint Uwe Wagner von der Deutschen Bank: „Unter strategischen Gesichtspunkten dominieren in allen beobachteten Aktienindizes intakte, übergeordnete Abwärtstrends, welche auf der Unterseite keine sinnvoll herleitbaren Unterstützungen mehr aufweisen.“ Doch ebenso wie WGZ-Bank-Analyst Stephen Schneider, der in den nächsten Tagen mit einer kurfristigen Erholung und einem Dax-Anstieg bis etwa 4 680 Zähler rechnet, sieht auch Wagner gute Chancen, dass die Märkte nach dem Freitagseinbruch kurzzeitig zu einer technischen Gegenbewegung ausholen.
So eine Zwischenrally kann die Indizes, wie schon so oft in der Vergangenheit, bis an die Obergrenze des langfristigen Abwärtstrends führen. Dieser verläuft beim Dax bei 5 200 Punkten und ergibt sich aus einer Linie zwischen den Hochpunkten seit Beginn des Abschwungs im März 2000. Damit liegt das Potenzial immerhin bei 20 %. Für deutlich mehr reicht es wohl nur, wenn die beiden Barrieren – langfristiger Abwärtstrend und 200-Tage-Linie – überwunden werden. Allerdings nachhaltig, sonst trampeln die Bullen wieder in eine Falle der starken Bären.