HANDELSBLATT, Dienstag, 25. November 2003, 13:07 Uhr
Der Staat steckt tiefer in der Kreide, als offizielle Statistiken ausweisen
Deutschland sitzt auf Berg von versteckten Schulden
Von Olaf Storbeck, Handelsblatt
Die Sache weckt böse Erinnerungen an das Geschäftsgebahren des US-Konzerns Enron: Die Bundesrepublik sitzt, ähnlich wie der Pleite gegangene US-Energiehändler, auf einem riesigen Berg von Verbindlichkeiten, die in keiner offiziellen Statistik auftauchen – Volkswirte sprechen von der „impliziten Staatsverschuldung“.
DÜSSELDORF. Die stillen Lasten haben ein gigantisches Ausmaß erreicht: Sie summierten sich 2002 auf sage und schreibe 270 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP), zeigen Berechnungen des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR). Die offiziellen Verbindlichkeiten – im Fachjargon explizite Schulden genannt – beliefen sich dagegen „nur“ auf 61 % des BIP. „Bei den Staatsschulden verhält es sich wie mit einem Eisberg“, sagt der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen. „Die Öffentlichkeit diskutiert über die Spitze und merkt nicht, dass noch viel mehr unterhalb der Wasserlinie liegt.“
Anders als im Fall von Enron sind die versteckten Schulden der Bundesrepublik allerdings nicht durch kriminelle Energie entstanden – sie sind das automatische Ergebnis der umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme: Alle Menschen, die heute in die gesetzliche Renten- oder Pflegeversicherung einzahlen, erwerben damit zugleich zukünftige Ansprüche gegenüber dem Staat. Diese Verbindlichkeiten tauchen in keiner Haushaltsstatistik auf, sind ökonomisch gesehen aber mit Schulden identisch. Denn für den Staat entstehen in der Zukunft Zahlungsverpflichtungen – genauso wie bei der Aufnahme von Krediten. „Es macht also keinen Unterschied, ob ein Bürger ein Konto bei der gesetzlichen Rentenversicherung hat oder Staatsanleihen hält“, sagt Raffelhüschen. Auch der SVR-Vorsitzende Wolfgang Wiegard betont: „Die impliziten Staatsschulden sind genauso existent wie die expliziten.“
Der Schuldenstand und die jährliche Neuverschuldung geben die künftigen Zahlungsverpflichtungen des Staats daher nicht vollständig wider. „Als Indikatoren für die Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sind diese Kennziffern nur unzureichend geeignet“, schreibt der Sachverständigenrat in seinem jüngsten Jahresgutachten.
Daher versuchen Ökonomen, sich mit Modellrechnungen zu helfen: Vereinfacht gesagt projizieren sie die derzeitige Finanzpolitik in die Zukunft und untersuchen: Reichen die künftigen Einnahmen des Staates aus, um in der Zukunft die Zahlungsverpflichtungen zu bedienen? „Diese Simulationsrechnungen laufen über einen sehr langen Zeithorizont“, sagt Hans Dietrich von Loeffelholz, Finanzexperte des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung. „Sie sind daher mit Vorsicht zu interpretieren.“ Denn die Ergebnisse hängen stark von den Annahmen über das künftige Wirtschaftswachstum und die demografische Entwicklung ab. „Außerdem ändert sich die Rechtslage in der Rentenversicherung laufend“, betont Loeffelholz.
Allerdings: Auch wenn die genauen Zahlen zur Höhe der Tragfähigkeitslücke schwanken, kommen unterschiedliche Studien stets zu ganz ähnlichen Ergebnissen: „Wir bürden den zukünftigen Generationen zu viele Lasten auf, die diese kaum noch tragen können“, sagt Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchener Ifo-Instituts. „Deutschland lebt über seine Verhältnisse.“
Für eine dauerhaft tragfähige Finanzpolitik müsste der Staat ab sofort alle heutigen und zukünftigen Ausgaben drastisch zusammenstreichen: „Sämtliche Staatsausgaben, die gegenwärtigen und die aus heutiger Sicht in die Zukunft fortgeschriebenen, müssten um rund 12 % reduziert werden“, schreibt der SVR. 2002 lag das Konsolidierungsvolumen damit bei 125 Mrd. Euro.
Daneben gibt es noch einen zweiten Weg hin zu tragfähigeren Staatsfinanzen: Eine grundlegende Reform der Sozialversicherungen. Ein erster Schritt wäre die Umsetzung der Renten-Vorschläge der Rürup-Kommission: Allein die schrittweise Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre bis 2035 und die Begrenzung der Rentenanstiege durch den Nachhaltigkeitsfaktor würde die verdeckte Staatsverschuldung laut SVR von 270 % auf 141 % reduzieren.
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Grüße
NL
Der Staat steckt tiefer in der Kreide, als offizielle Statistiken ausweisen
Deutschland sitzt auf Berg von versteckten Schulden
Von Olaf Storbeck, Handelsblatt
Die Sache weckt böse Erinnerungen an das Geschäftsgebahren des US-Konzerns Enron: Die Bundesrepublik sitzt, ähnlich wie der Pleite gegangene US-Energiehändler, auf einem riesigen Berg von Verbindlichkeiten, die in keiner offiziellen Statistik auftauchen – Volkswirte sprechen von der „impliziten Staatsverschuldung“.
DÜSSELDORF. Die stillen Lasten haben ein gigantisches Ausmaß erreicht: Sie summierten sich 2002 auf sage und schreibe 270 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP), zeigen Berechnungen des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR). Die offiziellen Verbindlichkeiten – im Fachjargon explizite Schulden genannt – beliefen sich dagegen „nur“ auf 61 % des BIP. „Bei den Staatsschulden verhält es sich wie mit einem Eisberg“, sagt der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen. „Die Öffentlichkeit diskutiert über die Spitze und merkt nicht, dass noch viel mehr unterhalb der Wasserlinie liegt.“
Anders als im Fall von Enron sind die versteckten Schulden der Bundesrepublik allerdings nicht durch kriminelle Energie entstanden – sie sind das automatische Ergebnis der umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme: Alle Menschen, die heute in die gesetzliche Renten- oder Pflegeversicherung einzahlen, erwerben damit zugleich zukünftige Ansprüche gegenüber dem Staat. Diese Verbindlichkeiten tauchen in keiner Haushaltsstatistik auf, sind ökonomisch gesehen aber mit Schulden identisch. Denn für den Staat entstehen in der Zukunft Zahlungsverpflichtungen – genauso wie bei der Aufnahme von Krediten. „Es macht also keinen Unterschied, ob ein Bürger ein Konto bei der gesetzlichen Rentenversicherung hat oder Staatsanleihen hält“, sagt Raffelhüschen. Auch der SVR-Vorsitzende Wolfgang Wiegard betont: „Die impliziten Staatsschulden sind genauso existent wie die expliziten.“
Der Schuldenstand und die jährliche Neuverschuldung geben die künftigen Zahlungsverpflichtungen des Staats daher nicht vollständig wider. „Als Indikatoren für die Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sind diese Kennziffern nur unzureichend geeignet“, schreibt der Sachverständigenrat in seinem jüngsten Jahresgutachten.
Daher versuchen Ökonomen, sich mit Modellrechnungen zu helfen: Vereinfacht gesagt projizieren sie die derzeitige Finanzpolitik in die Zukunft und untersuchen: Reichen die künftigen Einnahmen des Staates aus, um in der Zukunft die Zahlungsverpflichtungen zu bedienen? „Diese Simulationsrechnungen laufen über einen sehr langen Zeithorizont“, sagt Hans Dietrich von Loeffelholz, Finanzexperte des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung. „Sie sind daher mit Vorsicht zu interpretieren.“ Denn die Ergebnisse hängen stark von den Annahmen über das künftige Wirtschaftswachstum und die demografische Entwicklung ab. „Außerdem ändert sich die Rechtslage in der Rentenversicherung laufend“, betont Loeffelholz.
Allerdings: Auch wenn die genauen Zahlen zur Höhe der Tragfähigkeitslücke schwanken, kommen unterschiedliche Studien stets zu ganz ähnlichen Ergebnissen: „Wir bürden den zukünftigen Generationen zu viele Lasten auf, die diese kaum noch tragen können“, sagt Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchener Ifo-Instituts. „Deutschland lebt über seine Verhältnisse.“
Für eine dauerhaft tragfähige Finanzpolitik müsste der Staat ab sofort alle heutigen und zukünftigen Ausgaben drastisch zusammenstreichen: „Sämtliche Staatsausgaben, die gegenwärtigen und die aus heutiger Sicht in die Zukunft fortgeschriebenen, müssten um rund 12 % reduziert werden“, schreibt der SVR. 2002 lag das Konsolidierungsvolumen damit bei 125 Mrd. Euro.
Daneben gibt es noch einen zweiten Weg hin zu tragfähigeren Staatsfinanzen: Eine grundlegende Reform der Sozialversicherungen. Ein erster Schritt wäre die Umsetzung der Renten-Vorschläge der Rürup-Kommission: Allein die schrittweise Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre bis 2035 und die Begrenzung der Rentenanstiege durch den Nachhaltigkeitsfaktor würde die verdeckte Staatsverschuldung laut SVR von 270 % auf 141 % reduzieren.
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Grüße
NL