Mit Spider-Man aus der Versenkung
Von Carsten Volkery, New York
Vor drei Jahren war Marvel Enterprises am Boden. Rivalisierende Milliardäre hatten den Traditionsverlag in den Bankrott getrieben, Comic-Fans boykottierten die einstige Kultfirma. Mit dem Kinohit "Spider-Man" melden sich die New Yorker jetzt zurück - und das ist erst der Anfang.
Marvel
Comicfigur Spider-Man: "Wir bekommen die komplette Gage der Stars"
New York - Wie ein Superheld sieht Peter Cuneo nicht aus. Kein hautenger Ganzkörperanzug, stattdessen ein dunkler Zweireiher und ein biederer Seitenscheitel. Auch eine Brille hat er. Und Schuppen auf den Schultern. Dennoch hat der 57-jährige Krisenmanager gute Chancen, zum neuesten Helden der Comic-Branche zu werden: In seinen drei Jahren als Chef von Marvel Enterprises hat Cuneo das gekenterte Comic-Flaggschiff wieder aufgerichtet.
In diesen Tagen kann er den ersten großen Erfolg der "neuen Marvel-Gruppe" feiern: Der Kinofilm "Spider-Man" hat in den USA sämtliche Rekorde gebrochen: Allein am ersten Wochenende spielte der Actionstreifen 114 Millionen Dollar ein. Noch nie hatte ein Film in drei Tagen die 100-Millionen-Dollar-Hürde genommen. Zwar geht der Großteil des Geldes an das Hollywood-Studio Columbia Pictures, aber Marvel bekommt Prozente.
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Kassenknüller: Spider-Man brach alle Rekorde
Als Cuneo im Juli 1999 das Steuer übernahm, schien die Lage hingegen hoffnungslos: Marvel hatte gerade einen dreijährigen Prozess vor dem Konkursgericht hinter sich. Die New Yorker Milliardäre Ronald Perelman und Carl Icahn, beide stadtbekannte Raider, hatten sich zuvor einen erbitterten Übernahmekampf um das Comic-Imperium geliefert. Am Ende blieb nur der Bankrott. Wie CBS-Reporter Dan Raviv in seinem neuen Buch "Comic Wars" schreibt, saugte der damalige Marvel-Eigentümer Perelman noch 500 Millionen Dollar aus der Firma, bevor er sie mit 600 Millionen Dollar Schulden dem Schicksal überließ.
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Neuauflage wird bereits gedreht: Hale Berry in X-Men
Während Perelman, der Marvel 1993 an die Börse gebracht hatte, mit immer neuen Aufsehen erregenden Übernahmen den Börsenwert auf bis zu drei Milliarden Dollar trieb, schmolz Marvels Marktanteil bei Comic-Bänden auf 25 Prozent. In der Blütezeit hatte er bei 70 Prozent gelegen. Der Ruf des Traditionsunternehmens, das neben Spider-Man unter anderem die Figuren Hulk, Men in Black und X-Men geschaffen hat, war gründlich ruiniert: Die Händler beschwerten sich, die Fans riefen zum Boykott auf. Auch die Anleger hatten jegliches Vertrauen in das Unternehmen verloren.
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Routinejob: Spider-Man alias Tobey Maguire in lebensgefährlicher Situation
Das war die Situation, die Cuneo vorfand. Für den Krisenmanager war Marvel der siebte Turnaround, profiliert hatte er sich zuvor unter anderem mit der Rettung der Haarfärbemarke Clairol und dem Elektro-Rasierer-Hersteller Remington. Geduldig begann er die Wiederbelebung der Kultfirma, geleitet von dem superhelden-verdächtigen Motto: "Never panic".
Nach drei Jahren Restrukturierung ist Marvel zwar noch nicht vollends rehabilitiert, doch die Richtung scheint zu stimmen: Der Marktanteil bei Comics liegt wieder bei 40 Prozent, zehn Prozent über dem des Erzrivalen DC ("Superman", "Batman"), der zu AOL Time Warner gehört. Im vierten Quartal 2001 konnte Cuneo den ersten Gewinn seit dem Bankrott verzeichnen. Auch die Schuldenlast hat sich im vergangenen Jahr um 100 Millionen Dollar verringert. Die Aktie, die zeitweise zum "Penny Stock" abzurutschen drohte, hat in den vergangenen zwölf Monaten um rund 270 Prozent zugelegt.
Marvel-Comic Heroes
Die wichtigste Entwicklung ist jedoch der Umbau des 500-Mitarbeiter-Unternehmens vom Spielzeug- und Comichersteller zum Lizenzrechtehändler. Cuneo begreift "Spider-Man" als den Beginn der "goldenen Marvel-Ära". Das Lizenzgeschäft, das bisher nur 22 Prozent des Umsatzes ausmacht, soll zum Wachstumsmotor werden. "Wir müssen unsere Comic-Figuren als Marken begreifen", sagte er vergangene Woche bei einem Treffen der New York American Marketing Association (NYAMA).
Marvel hält die Rechte an 4700 Comic-Figuren. Mit diesem Trumpf will Cuneo in den Zukunftsmärkten Film, DVD und Videospiele mitmischen. Spider-Man und Hulk seien ähnliche Goldesel wie Hollywood-Stars, man müsse sie nur an genug Medien verkaufen, sagt er. Wenn das gelinge, seien Comic-Figuren sogar noch profitabler als ihre menschlichen Kollegen: "Wir bekommen die komplette Gage der Stars, nicht nur zehn Prozent." Im Lizenzgeschäft sind Gewinnmargen von bis zu 90 Prozent zu erzielen.
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Viel zu billig verkauft: Bei "Men in Black" war Marvel nicht am Umsatz beteiligt
Die weniger rentablen Unternehmensbereiche wie die kapitalintensive Spielzeug-Produktion, die bisher für 51 Prozent des Umsatzes sorgt, hingegen werden eingestellt oder ausgelagert. Das traditionelle Comic-Geschäft läuft weiter - als günstiges Entwicklungslabor für Geschichten und Figuren. "Andere müssen für ihre Forschungsabteilung zahlen, wir verdienen sogar dran", sagt Cuneo zufrieden. Der Comic-Bereich trägt 27 Prozent des Gesamtumsatzes bei.
Die Neu-Orientierung ist bereits deutlich erkennbar: Das Lizenzgeschäft wuchs im vergangenen Jahr mit 100 Prozent am schnellsten. Die Spielzeugtochter "Toy Biz" wurde hingegen stark zusammengekürzt, viele Produktlinien ganz eingestellt. Damit sank auch der Gesamtumsatz um 22 Prozent - auf 181 Millionen Dollar. Es war der dritte Umsatzrückgang in Folge.
Doch Cuneo sieht keine Alternative zur Radikalkur. Am Mittwoch, wenn er die Zahlen für das erste Quartal vorlegt, wird er an die Analysten und Anleger appellieren, die große Vision nicht aus den Augen zu verlieren.
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Für "The Hulk" engagiert: Oscar-Preisträger Lee
Die ist sehr Hollywood-lastig: Für 2003 sind bereits vier große Kinofilme geplant. Im Januar kommt "Daredevil" mit Ben Affleck in die Kinos, im Mai "X2", die Fortsetzung von "X-Men". Der Mutanten-Film mit Halle Berry und Patrick Stewart war der Sommerhit des Jahres 2000. Im Juni dann folgt "The Hulk" von Regisseur Ang Lee ("Crouching Tiger, Hidden Dragon"). Für August ist "The Punisher" angesetzt. Laut Cuneo sind noch sieben weitere Filme bei verschiedenen Hollywood-Studios in Arbeit.
Im Unterschied zu früheren Verfilmungen besteht Marvel ab sofort immer auf einer Gewinnbeteiligung. Bei "Men in Black" (1997) und "X-Men" (2000) hatte das Unternehmen die Rechte für eine einmalige Millionenzahlung abgegeben - weit unter Wert, ärgert sich Cuneo bis heute. Es lag allerdings vor allem daran, dass Marvel nicht in der Position war, Bedingungen zu stellen.
Die Wall Street wartet noch ab. Kein einziger Analyst folgt dem Unternehmen, die Börsianer halten sich mit Einschätzungen zurück. "Es gibt noch keine Jury für Marvel", sagte John Taylor, Analyst bei Arcadia Investments, der Nachrichtenagentur Dow Jones. Zwar hätte Cuneo die Kosten unter Kontrolle gebracht. "Aber jetzt müssen sie zeigen, dass sie mit Kinofilmen einen regelmäßigen Umsatz erzielen können."
Die Marvel-Aktie ist in Erwartung des "Spieder-Man"-Films seit Jahresbeginn um 90 Prozent nach oben geschossen - auf bis zu 7,70 Dollar. Seit dem Eröffnungswochenende hat sie allerdings zweistellig verloren. Die Anleger dürften erkannt haben, dass die Millionen-Bonanza noch etwas auf sich warten lässt. Cuneo warnt jedoch davor, in der zyklischen Unterhaltungsindustrie in Quartalen zu denken: "Das Einzige, was zählt, ist die Verbesserung von Jahr zu Jahr."
2002 will er die Gewinnschwelle erreichen. Doch Cuneo weiß, dass sein Job als Krisenmanager noch lange nicht beendet ist. "Ich fühle es, wenn ich nicht mehr gebraucht werde, und so weit sind wir noch nicht."