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Neueste Meldung von dpa-AFX Mittwoch, 12.12.2001, 08:29
HINTERGRUND: Pflegeversicherung - Wohltat für Alte oder 'Sozialstaat pervers'?
BERLIN (dpa-AFX) - Norbert Blüm pries sie als Wohltat für die Alten, als "Schlussstein des Sozialstaates". Doch mehr als sechs Jahre nach ihrem Start hat die Pflegeversicherung viele Erwartungen enttäuscht. Klagen über Missstände in Heimen, Pflege nach der Stoppuhr und Willkür bei den Pflegestufen halten an. Mehr noch: Ähnlich wie bei Rente und Gesundheit drohen auch die Pflegelasten hochzuschnellen. Prominente Kritiker wie der streitbare Sozialrichter Jürgen Borchert halten das ganze Projekt sogar für "Sozialstaat pervers".
Gegen den Widerstand der Wirtschaft hatte der damalige Sozialminister Blüm Mitte der 90er Jahre den neuen Sozialzweig durchgeboxt. Heute beziehen mehr als 1,8 Millionen Menschen Leistungen der so genannten sozialen Pflegeversicherung. Größter Pflegedienst der Nation ist nach wie vor die Familie. Rund 1,28 Millionen Menschen, die Pflegezuschuss aus der Solidarkasse erhalten, werden zu Hause gepflegt; die übrigen 550.000 in Heimen.
EINEN RUNDUMSCHUTZ BIETE PFLEGEVERSICHERUNG NICHT
Unbestritten ist, dass sich die Lage der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen verbessert hat. Vielen bleibt nun der Gang zum Sozialamt erspart. Einen Rundumschutz bietet die Pflegeversicherung aber nicht - und soll sie auch nicht. Immerhin sollen jetzt nach langem Zögern zumindest die Leistungen für Altersverwirrte, die meist rund um die Uhr betreut werden müssen, aufgestockt werden.
Anders als die Krankenkassen sind die Pflegekassen finanziell noch gut gebettet. So saßen sie Ende 2000 auf einem Finanzpolster von 9,43 Milliarden Mark. Doch das dürfte sich ändern. Experten warnen, die Pflegeversicherung werde bald selbst zum Pflegefall. Nach Studien wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2040 auf drei Millionen anwachsen. Dies sei mit dem heutigen Beitragssatz von 1,7 Prozent nicht zu schultern.
Mit Einführung der Pflegeversicherung explodierte auch der Pflegemarkt. Fast 13.000 ambulante Pflegedienste und rund 8.600 Heime rangeln heute um den fast 32 Milliarden Mark großen Topf. Zugleich versuchen die Kassen, die Kosten in Schach zu halten. Die Pflegeanbieter klagen über rigide Zeitvorgaben, Hilfsbedürftige über eine "Satt-und-Sauber-Pflege" nach der Stechuhr.
EINSTUFUNGEN DER PFLEGEKASSEN UMSTRITTEN
Auch die Einstufungspraxis der Pflegekassen steht immer wieder in der Kritik. So richtet sich der Zuschuss nach dem Grad der Hilfsbedürftigkeit, die in drei Stufen aufgeteilt ist. Dies prüft der Medizinische Dienst der Kassen. Ärzte und Sozialverbände haben den Prüfern wiederholt vorgeworfen, zu restriktiv zu entscheiden. Viele Bedürftige würden zu niedrig eingestuft, andere fielen ganz heraus.
Zu den schärfsten Kritikern gehört der hessische Sozialrichter Borchert, der das so genannte Familienurteil in Karlsruhe erstritt. Für ihn ist die Pflegeversicherung das "mit Abstand asozialste Projekt, das Deutschland je erlebt hat", kurz: "Sozialstaat pervers". Sie schade den Armen und helfe den Reichen. So habe früher bei der Sozialhilfe die Bedürftigkeitskontrolle dafür gesorgt, dass Wohlhabende ihre Pflege selbst bezahlen. Dieses Korrektiv fehle nun. "So führt die Pflegeversicherung im Ergebnis zu einer eklatanten Umverteilung von unten nach oben", schimpft er im Magazin "Focus".
Seine Bilanz fällt vernichtend aus: Die Gesamtkosten öffentlicher Pflege hätten sich seit Start der Pflegeversicherung vervierfacht, zugleich blähe sich eine neue Sozialverwaltung mit zigtausend Stellen auf, die Hilfsbedürftigen würden mit einem Riesenaufwand sortiert. Nach seiner Ansicht muss ein sozialer Pflegeschutz anders finanziert und organisiert werden. Für die Blümsche Pflegeversicherung hat er nur eine Schlussfolgerung: "Weg mit ihr!" --Von Christine Möllhoff, dpa-- DP/fn
Neueste Meldung von dpa-AFX Mittwoch, 12.12.2001, 08:29
HINTERGRUND: Pflegeversicherung - Wohltat für Alte oder 'Sozialstaat pervers'?
BERLIN (dpa-AFX) - Norbert Blüm pries sie als Wohltat für die Alten, als "Schlussstein des Sozialstaates". Doch mehr als sechs Jahre nach ihrem Start hat die Pflegeversicherung viele Erwartungen enttäuscht. Klagen über Missstände in Heimen, Pflege nach der Stoppuhr und Willkür bei den Pflegestufen halten an. Mehr noch: Ähnlich wie bei Rente und Gesundheit drohen auch die Pflegelasten hochzuschnellen. Prominente Kritiker wie der streitbare Sozialrichter Jürgen Borchert halten das ganze Projekt sogar für "Sozialstaat pervers".
Gegen den Widerstand der Wirtschaft hatte der damalige Sozialminister Blüm Mitte der 90er Jahre den neuen Sozialzweig durchgeboxt. Heute beziehen mehr als 1,8 Millionen Menschen Leistungen der so genannten sozialen Pflegeversicherung. Größter Pflegedienst der Nation ist nach wie vor die Familie. Rund 1,28 Millionen Menschen, die Pflegezuschuss aus der Solidarkasse erhalten, werden zu Hause gepflegt; die übrigen 550.000 in Heimen.
EINEN RUNDUMSCHUTZ BIETE PFLEGEVERSICHERUNG NICHT
Unbestritten ist, dass sich die Lage der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen verbessert hat. Vielen bleibt nun der Gang zum Sozialamt erspart. Einen Rundumschutz bietet die Pflegeversicherung aber nicht - und soll sie auch nicht. Immerhin sollen jetzt nach langem Zögern zumindest die Leistungen für Altersverwirrte, die meist rund um die Uhr betreut werden müssen, aufgestockt werden.
Anders als die Krankenkassen sind die Pflegekassen finanziell noch gut gebettet. So saßen sie Ende 2000 auf einem Finanzpolster von 9,43 Milliarden Mark. Doch das dürfte sich ändern. Experten warnen, die Pflegeversicherung werde bald selbst zum Pflegefall. Nach Studien wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2040 auf drei Millionen anwachsen. Dies sei mit dem heutigen Beitragssatz von 1,7 Prozent nicht zu schultern.
Mit Einführung der Pflegeversicherung explodierte auch der Pflegemarkt. Fast 13.000 ambulante Pflegedienste und rund 8.600 Heime rangeln heute um den fast 32 Milliarden Mark großen Topf. Zugleich versuchen die Kassen, die Kosten in Schach zu halten. Die Pflegeanbieter klagen über rigide Zeitvorgaben, Hilfsbedürftige über eine "Satt-und-Sauber-Pflege" nach der Stechuhr.
EINSTUFUNGEN DER PFLEGEKASSEN UMSTRITTEN
Auch die Einstufungspraxis der Pflegekassen steht immer wieder in der Kritik. So richtet sich der Zuschuss nach dem Grad der Hilfsbedürftigkeit, die in drei Stufen aufgeteilt ist. Dies prüft der Medizinische Dienst der Kassen. Ärzte und Sozialverbände haben den Prüfern wiederholt vorgeworfen, zu restriktiv zu entscheiden. Viele Bedürftige würden zu niedrig eingestuft, andere fielen ganz heraus.
Zu den schärfsten Kritikern gehört der hessische Sozialrichter Borchert, der das so genannte Familienurteil in Karlsruhe erstritt. Für ihn ist die Pflegeversicherung das "mit Abstand asozialste Projekt, das Deutschland je erlebt hat", kurz: "Sozialstaat pervers". Sie schade den Armen und helfe den Reichen. So habe früher bei der Sozialhilfe die Bedürftigkeitskontrolle dafür gesorgt, dass Wohlhabende ihre Pflege selbst bezahlen. Dieses Korrektiv fehle nun. "So führt die Pflegeversicherung im Ergebnis zu einer eklatanten Umverteilung von unten nach oben", schimpft er im Magazin "Focus".
Seine Bilanz fällt vernichtend aus: Die Gesamtkosten öffentlicher Pflege hätten sich seit Start der Pflegeversicherung vervierfacht, zugleich blähe sich eine neue Sozialverwaltung mit zigtausend Stellen auf, die Hilfsbedürftigen würden mit einem Riesenaufwand sortiert. Nach seiner Ansicht muss ein sozialer Pflegeschutz anders finanziert und organisiert werden. Für die Blümsche Pflegeversicherung hat er nur eine Schlussfolgerung: "Weg mit ihr!" --Von Christine Möllhoff, dpa-- DP/fn