Sonderabgaben auf Schneeketten

Beitrag: 1
Zugriffe: 186 / Heute: 1
Happy End:

Sonderabgaben auf Schneeketten

 
15.08.03 07:54
Steuersenkungswahn und Wirtschaftskrise: Das passt nicht zusammen. Jetzt stehen viele US-Bundesstaaten vor dem Ruin

Am US-Highway 380, etwa auf halber Strecke zwischen Roswell und Albuquerque, trifft man nach kilometerweiter Fahrt durch die Wüste auf genau zwei Häuschen. Das eine ist ein Souvenirladen der exzentrischen Sorte. „Echt strahlendes Atombombenmaterial“, wirbt ein Schild am Straßenrand, und zum Verkauf steht „Trinitite“ – Reste des amerikanischen Trinity-Atombombentests aus dem Jahre 1945. Im zweiten Haus, einem ehemaligen Postamt schräg gegenüber, wohnt Clayton R. Douglas. Es ist mit Draht und Warnschildern umzäunt, gerüchteweise von Minen umgeben, und eines wird gleich klar: Der Mann hat Feinde.

Douglas ist der Selbstverleger einer Postille namens Free American und der Solostar seiner eigenen Radiosendung. Er gilt als Hasser von Minderheiten und als Verfechter von Verschwörungstheorien. Dazu ist er einer der radikalsten Steuersparer des Landes. „Die ganze Einrichtung der Einkommensteuer ist verfassungswidrig“, poltert der bärtige Einsiedler. „Ein Amerikaner sollte alles Geld behalten dürfen, das er verdient.“

Mag sein, dass die Wüste von New Mexico besonders ausgefallene Charaktere ausbrütet – doch allein ist Clayton Douglas mit seinen Ansichten zur Steuerpolitik nicht. „Wir berufen uns auf die Grundväter unserer Verfassung“, sagt zum Beispiel Bob Schulz, ein ehemaliger Geschäftsmann aus Queensbury, New York, der ebenfalls die komplette Abschaffung aller Einkommensteuern durchsetzen will. Schulz ist zur Ikone amerikanischer Steuergegner aufgestiegen, seitdem er im Jahr 2000 seine letzte Steuererklärung „für alle Zeiten“ abgegeben hat und diesen Akt mit einem tagelangen Hungerstreik garnierte. Das Steuersystem der Vereinigten Staaten hält er für „einen Betrug“.

Der Ärger begann in Kalifornien

Noch wehrhafter gibt sich Rick Stanley, 62, ein Kleinindustrieller aus Denver und selbst ernannter „Kämpfer für Gott und Amerika“. Die Steuerprüfer „sollen ruhig kommen“, tönt Stanley, der schon seit drei Jahren keine Steuererklärungen mehr abgibt. „Sie sollen nur wissen, dass wir uns verteidigen. Ich habe eine bewaffnete Miliz von 635 Leuten aufgestellt – wenn sie bei einem von uns die Steuern eintreiben wollen, legen sie sich mit allen an.“

Nach Informationen der Steuerbehörden gibt es in den USA Tausende Steuerverweigerer, die ähnlich wie die Herren Douglas, Schulz und Stanley argumentieren – und natürlich werden sie als Extremisten, bisweilen auch als Kriminelle eingestuft. Doch ihre Idee, dass Steuern die „Freiheit“ einschränken und dass dem Staat die Flügel so weit wie möglich gestutzt werden sollten, fällt in Amerika auf so fruchtbaren Boden wie fast nirgendwo sonst. „Das Misstrauen gegen Staat und Regierung geht hierzulande auf die Anfänge unserer Nation zurück“, erklärt Joel B. Slemrod, Professor an der University of Michigan in Anna Arbor und viel zitierter Autor zur amerikanischen Steuergeschichte. „Da können Sie bis zur Boston Tea Party zurückgehen.“

Im heute vollends bankrotten Bundesstaat Kalifornien trieb der Steuersenkungswahn dann in der Neuzeit seine absonderlichsten Blüten. Schon 1978 wurde hier in einem Volksentscheid die so genannte Proposition 13 verabschiedet, die es der Politik fortan fast unmöglich machte, Steuern zu erhöhen. Mit ihr begann eine Revolte der Steuerzahler, die schließlich weite Teile Amerikas erfasste und wohl auch ihren Teil dazu beitrug, dass der erklärte Steuersenker (und Ex-Gouverneur von Kalifornien) Ronald Reagan 1980 ins Weiße Haus katapultiert wurde.

Heute sitzt dort George W. Bush. Aber erstaunlicherweise gilt es in konservativen Kreisen nach wie vor als ungeklärt, wo genau man den Präsidenten in der Steuersenkungs-Debatte ansiedeln soll. Klar ist: Bush hat seine Amtszeit mit billionenschweren Steuersenkungspaketen begonnen, den größten seit Reagan. Und in seiner republikanischen Partei gibt es etliche gewichtige Vertreter, die sich nichts sehnlicher wünschen als einen deutlich verkleinerten Staat. „Ich will die Regierung nicht abschaffen“, sagte 2001 in einem Radiointerview Grover Norquist, ein einflussreicher Republikaner und Vertrauter des Bush-Wahlkampfberaters Karl Rove. „Ich will sie nur so klein machen, dass ich sie ins Badezimmer zerren und in der Wanne ertränken kann.“ Etwas konkreter erklärte Norquist kürzlich, dass die Staatsquote binnen 25 Jahren von derzeit 31 Prozent – ein im weltweiten Vergleich schon jetzt besonders niedriger Wert – auf 17 Prozent fast halbiert werden sollte. „Das wäre eine radikale Veränderung“, kommentiert der Steuerexperte Slemrod, „sie wäre nur zu erreichen, wenn man zumindest die Alters- und Gesundheitsvorsorge völlig privatisiert.“

Doch Bush und seine wichtigsten Berater im Weißen Haus haben solche Rhetorik bislang behutsam vermieden. „George W. Bush verdankt seine Präsidentschaft in großen Teilen der meisterlich erzeugten Illusion, dass er eine andere Art Republikaner ist“, meint Ed Kilgore, Politikchef beim Democratic Leadership Council, einer Art Think-Tank der oppositionellen Demokraten. Der Präsident verkauft sich als compassionate conservative, als Republikaner mit Herz. Vor harten Entscheidungen zur Verkleinerung des Staates drückt er sich: Ob es um die Reform des Bildungssektors geht, um Subventionen für Bauern, die Aufrüstung des Militärs oder die gerade angekündigte Reform des Gesundheitssystems – Kritiker von links und rechts sehen in allen Initiativen eher einfallslose Ausgabenprogramme zur Befriedung von Lobby- und Wählergruppen. Von einer von radikalen Republikanern geforderten Schrumpfung des Staates kann jedenfalls bisher nicht die Rede sein.

Im Gegenteil: Nach Berechnungen des Washingtoner Cato-Instituts gibt die US-Bundesregierung heute 13,5 Prozent mehr aus als noch vor drei Jahren, und Bush finanziert das durch einen wachsenden Schuldenberg. Nach den gängigen Prognosen wird der Präsident über die kommenden zehn Jahren vier Billionen Dollar Defizite anhäufen. Der rote George, titelte denn auch spöttisch der Londoner Economist.

Es gibt freilich noch eine andere, machiavellis-tischere Interpretation der Bushschen Steuerpolitik: Etliche Kritiker vermuten, dass der Präsident die ideologische Schlacht der Reagan-Ära weiterführt. Starving the beast heißt danach die Devise – das Aushungern und Verkleinern des Ungetüms namens Staat. Bushs Defizite – so diese Theorie – würden künftige Regierungen umso mehr zur Sparsamkeit zwingen und damit zur Reduzierung aller staatlichen Aktivitäten. Ed Kilgore vermutet, dass dies die heimliche Agenda der Bush-Regierung ist, die Bush „nur ein bisschen zögerlich artikuliert“.

Das führt zum Thema der Woche: Arnold. Tatsächlich könnte der Filmstar und Muskelprotz Schwarzenegger bald zu den ersten Gewinnern der Hungerstrategie zählen. Dass der „Terminator“ als Republikaner für den kalifornischen Gouverneursposten kandidiert, hat mit der Unbeliebtheit des derzeitigen Amtsinhabers Gray Davis zu tun – und die wiederum vor allem mit dem kalifornischen Haushaltsloch von 38 Milliarden Dollar. Das größte Problem dabei: Die meisten Staaten müssen von Gesetzes wegen – anders als der Bund – ausgeglichene Haushalte vorlegen und können sie nicht durch neue Schulden retten. Also bleibt entweder Sparen – was in Kalifornien kaum ausreicht – oder Steuererhöhungen. Doch Letztere gelten als politischer Selbstmord und sind fast unmöglich durchzusetzen. Die Proposition 13 wirkt nach.

Der Sonnenstaat am Pazifik hält zwar den Rekord des größten Haushaltslochs, doch im Prinzip sieht es in großen Teilen des Landes ähnlich aus. Bei der jüngsten Haushaltsrunde im Sommer brachten Bundesstaaten wie New Hampshire oder Oregon nur Übergangsbudgets zustande, anderswo einigten sich Parlamentarier kurz vor Mitternacht und mit der Hilfe von viel Schönrechnerei. „Die Haushaltslage in den Staaten sieht schlimm aus“, sagt Nicholas Johnson, Steuerexperte am Center on Budget and Policy Priorities in Washington, „und 2004 werden die Löcher noch mal sehr viel größer werden.“

Bundesstaaten wie Kalifornien haben schon jetzt ihre letzten Reserven aufgebraucht. Mit der Wirtschaftskrise brachen ihre Einnahmen aus Einkommen-, Verkauf- und Kapitalertragsteuern zusammen, die Sozial- und Gesundheitsausgaben schnellten derweil rapide nach oben. Zwar hatten Ökonomen und staatliche Budgetbeamte schon von Anfang an vor einem allzu lockeren Umgang mit den Finanzen gewarnt, aber „irgendwann hatten die Politiker es satt, dass die Realität stets besser aussah als ihre vorsichtigen Vorhersagen“, berichtet der Haushaltsexperte Johnson. Also gaben manche Gouverneure das Geld mit beiden Händen aus, andere senkten die Steuern weiter. „Vielerorts“, so Johnson, „wäre es politisch gar nicht machbar gewesen, die Steuern nicht zu senken.“

Nach den Berechnungen seines Instituts stehen die Bundesstaaten im kommenden Haushaltsjahr nun vor einem kollektiven Haushaltsloch von 70 bis 85 Milliarden Dollar. Bush hilft ihnen kaum. Nur widerwillig gewährte seine Regierung zuletzt 20 Milliarden Beihilfe, das soll es gewesen sein. Gleichzeitig schob Washington per Gesetz neue kostspielige Aufgaben an die Staaten und Gemeinden weiter, darunter den Ausbau der Sonderschulen und allerlei Pflichten zur „Verteidigung der Heimatfront“. Und nach wie vor ist die Option, Steuern zu erhöhen, die unbeliebteste: Bushs steuerfeindliche Rhetorik in Washington rückt solche Politiker ins schlechte Licht, die mehr Geld für ihre staatlichen Dienstleistungen einsammeln wollen. Das Motto: Wenn Bush die Steuern senken kann, warum können es nicht auch die Landesfürsten?

Sonderabgaben auf Schneeketten

Also tun viele Gouverneure, was ganz nach dem Geschmack der Steuersenker ist: Der Staat geht auf Diät. Zum ersten Mal seit 20 Jahren, berichtet die National Association of State Budget Officers, sind die staatlichen Budgets 2002 im landesweiten Durchschnitt geschrumpft. Linke und Liberale schlagen bereits Alarm. Der meinungsstarke Princeton-Ökonom Paul Krugman warnte davor, dass Amerika seinen Anspruch darauf, ein Wohlfahrtsstaat zu sein, unter solchen Bedingungen wohl bald begraben könne.

Tatsächlich sind manche Sparprogramme drakonisch. Millionen ärmerer Amerikaner haben ihren Anspruch auf Arznei-Beihilfen verloren, in Oregon wird das Schuljahr kürzer. In Oklahoma fahren Lehrer jetzt selbst die Schulbusse, in Ohio verlieren schätzungsweise 17000 Familien das Kindergeld. Einige Bundesstaaten haben die Zuschüsse an Städte und Gemeinden gekürzt, sodass die harten Entscheidungen von den Bürgermeistern getroffen werden müssen: Feuerwehrhäuser schließen, die Müllabfuhr kommt seltener, und an vielen Orten wird die Grundsteuer angehoben.

Doch andererseits gibt es erste Zeichen, dass das hungernde Ungetüm Staat schon wieder das Naschen lernt. Gerade die Wirtschaftskrise könnte vielerorts selbst Steuererhöhungen politisch erneut akzeptabel machen. Allen voran geht dabei der New Yorker Gouverneur und Republikaner George E. Pataki, der – auch mit Hinweis auf die Folgen der Terroranschläge vom 11. September 2001 – die Einkommensteuer, die Verkaufsteuern und etliche Sonderabgaben zugleich anhob. Aus Idaho kam zugleich eine regelrechte Kampfansage gegen den Steuersenkungs-Ungeist in Washington. „Ich werde diesen Staat nicht auseinander nehmen!“, erklärte Gouverneur Dirk Kempthorne, der sich künftig mit aller Macht gegen weitere Etatkürzungen stemmen will. Acht von zehn Staaten haben unterdessen – Stichwort „Fairness“ – Steuerschlupflöcher geschlossen und mehr oder minder unbemerkt allerlei Gebühren erhöht. In Alaska sind höhere Abgaben für Schneeketten fällig, in Florida kostet die Inspektion von Wohnwagen extra, in Ohio fallen seit Monatsbeginn Verkaufsteuern auf Maniküre, Massagen und Tätowierungen an.

Es sieht also nicht danach aus, als könnten der Steuerrebell Rick Stanley und seine „Miliz“ so schnell ihre Waffen beiseite legen. Und Clayton Douglas und Bob Schulz werden weiter wüten.

(c) DIE ZEIT 14.08.2003 Nr.34  
Es gibt keine neuen Beiträge.


Börsen-Forum - Gesamtforum - Antwort einfügen - zum ersten Beitrag springen
--button_text--