Keine Angst, an dieser Stelle soll nicht in den Chor der Skeptiker eingestimmt werden, die schon wieder vor überzogenen Kurssprüngen warnen. Sicherlich läuft die Wirtschaft schlecht, geben die Unternehmensgewinne wenig Anlass zur Freude. Doch die vielen Zweifler ("Das geht alles wieder viel zu schnell") haben ein kurzes Gedächtnis und ein wichtiges Ereignis - scheint es - vergessen: Den Kurssturz von Jahresanfang.
Blickt man auf den DAX steht der Index auch nach ein wenig Rallye noch klar unter dem Wert zu Jahresbeginn, ganz zu schweigen von den drei Jahren zuvor. Deutsche Blue Chips sind also weiterhin Lichtjahre von ihren Höchstständen entfernt und von überzogener Euphorie kann keine Rede sein.
Doch es gibt trotzdem einen Grund, sich Sorgen zu machen: Der Mai naht und damit die schlechte Börsenjahreszeit. Die Monate Mai bis Oktober bringen erfahrungsgemäß keine großen Profite. "Sell in may and go away" ist mehr als eine Floskel. Statistisch betrachtet ist die Performance der Aktienindizes in diesem Zeitraum deutlich unterdurchschnittlich.
Das Brokerhaus H.D. Brous & Co. hat an einem Beispiel errechnet, wie wenig ein Investment von Mai bis Oktober einbringt. Wäre ein Anleger ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit 10.000 Dollar gestartet und hätte diese jedes Jahr ausschließlich von Mai bis Oktober in den Dow Jones investiert, würde sich sein "Vermögen" im Jahre 2002 auf 11.750 Dollar belaufen. Hätte er stattdessen die Monate November bis April gewählt, wäre sein Kapital auf 426.000 Dollar angewachsen.
Erklärungsversuch
Die Verkaufsregel gilt für den DAX nur in begrenztem Maße. Die Periode zwischen Mai und Oktober ist ebenfalls unterdurchschnittlich, was allerdings hauptsächlich an den Katastrophen-Monaten August und September liegt. Im August verlor der DAX seit Auflegung durchschnittlich 2,8 Prozent, im September 3,8 Prozent.
Über die Ursachen für die Underperformance herrscht keine Klarheit. Eine einleuchtende Erklärung für zumindest einen Teil des Effekts liegt im Verhalten der Analysten. Parallel zum Kursverlauf entwickeln sich in vielen Jahren die Gewinnschätzungen. Zu Beginn des Jahres, wenn noch nicht wirklich absehbar ist, wie sich eine Firma schlagen wird, tendieren die Experten zu optimistischen Prognosen. Deutliche Revisionen folgen dann meist nach der Bekanntgabe der Zahlen für das erste Quartal und unter Umständen erneut nach dem zweiten Quartal. Dadurch wird der Zeitraum Mai bis Oktober regelmäßig von negativen Nachrichten belastet.
In diesem Jahr erscheinen die Konsens-Erwartungen an viele Unternehmen in Europa und den USA wieder mal hoch gegriffen. Sollten die Schätzungen in Erfüllung gehen, gäbe es reihenweise Aktien mit KGVs unter 10. Wahrscheinlicher ist, dass es zumindest ein, vielleicht zwei weitere Revisionen geben wird. Es könnte also sein, dass auch in diesem Jahr eine Auszeit an der Börse nicht von Schaden ist.
"Sell in may and go away" sollten Langfristinvestoren aber ignorieren. Geduldigen Anlegern machen einige holprige Monate nichts aus.