Sekundenglücksspiele
Der Daytrader nutzt den kurzfristigen Trend einer Aktie: Er kauft für 118 1/4 und verkauft ein paar Minuten, noch besser: Sekunden später für 119. Wenn er genug Geld hat, hört er auf. Wieviel ist genug? Vielleicht ein paar Millionen. Und wann ist das? Vielleicht mit 25.
Von Christoph Neidhart
otznasen: Vor einem schmutzigen Eingang in den Häuserschluchten um die Wall Street hängen Jugendliche in Turnschuhen, Jeans und T-Shirts herum. Die Brillen sitzen schief, die Baseballmützen verkehrt. Einer bohrt in der Nase, andere rauchen. Einige von ihnen sind Millionäre.
Die Finanzwelt gleitet an ihnen vorbei, im schwarzen Lincoln Continental - oder wenigstens im grauen Anzug. Sie schaut nicht her. «Sie hassen uns», sagt einer der Jungs - nennen wir ihn Roy.
Die College-Kids sind Daytrader, sie spielen an der Börse. «Wir sind keine Investoren, das hier ist eher ein Videogame.» Die besten machen mehrere Millionen jährlich, ganz ohne Eigenkapital. Roy unterscheidet zwischen «sechsstelligen» Leuten und «siebenstelligen». Sechsstellig schaffe jeder, der die Personality dazu habe. Wer auf siebenstellig kommt, dem zollt Roy Respekt. Dann könne man sich überlegen, was man sonst noch machen wolle im Leben: «Ich bin schon fast 25.»
Andere fallen auf die Nase - besonders jene, die allein von zu Hause aus traden. Ihnen fehlt der Rückhalt der Gruppe, in der man einen Taucher eher wegsteckt. Am 29. Juli erschoss Mark Barton in Atlanta in den Räumen der Daytrader-Firma All-Tech neun Leute. Er flippte aus, nachdem er binnen weniger Tage Verluste von 100 000 Dollar angehäuft hatte.
uf lange Sicht ist die Börse das beste Instrument, die Substanz einer Firma zu bewerten. Kurzfristig jedoch ist sie ineffizient, irrational und ungenau: Sie schiesst immer übers Ziel hinaus. Daraus ziehen die Daytrader ihren Profit. Ob die Kurse steigen oder fallen, ist ihnen egal; und auch, ob die Titel, die sie grade handeln, unter- oder überbewertet sind. Manche kennen von den Firmen, deren Mitbesitzer sie vorübergehend sind, kaum mehr als das Börsensymbol.
Ein Daytrader nutzt den kurzfristigen Trend einer Aktie: Er kauft IBM für 118 1/4 und verkauft einige Minuten später für 119; noch besser: ein paar Sekunden später. Dazu bieten sich ihm an gewissen Tagen mehrere Gelegenheiten, selbst wenn die Aktie, wie IBM in der letzten Septemberwoche, 10 Dollar verliert. 1000 IBM-Aktien, für 118 1/4 gekauft und für 119 verkauft, das ergibt 750 Dollar - kein schlechter Ertrag für ein paar Minuten. Der Daytrader bleibt jeweils nur ganz kurz im Markt engagiert, die übrige Zeit hält er sein Geld in Cash.
Wer Firmen analysiert und Markttrends beobachtet, wer Position über Nacht hält, ist kein reiner Daytrader. Die agieren «nonjudgemental», ausschliesslich auf Grund der kurzfristigen Bewegungen am Markt. Dazu verfolgt der Trader den Kurs seiner Beute jeweils von Gebot zu Gebot auf der rollenden Tabelle am Bildschirm. Er hat den Chart im Auge, das Marktvolumen und die Teilnehmer. Sein Arbeitsplatz besteht aus vier Bildschirmen mit einer Highspeed-Online-Verbindung. Je volatiler die Börse, um so mehr Chancen bieten sich. Ein guter Trader hat die Geduld eines Jägers, ist aber «trigger-happy», das heisst, er hat keine Hemmung abzudrücken.
Von den etwa 250 Markttagen jährlich sind 50 besonders günstig, sagt Roy. Wenn der Dow Jones zur Eröffnung 80 Punkte falle, könne man sicher sein, dass er im Laufe des Tages irgendwann plötzlich hochschnelle, selbst wenn er schliesslich tief im Negativen schliesse. Dieses «Bouncing back» müsse man abwarten, um zuzuschlagen. Wer an diesen fünfzig Tagen je etwa 10 000 Dollar macht, ist schon ganz ordentlich «sechsstellig».
Roy handelt in der Bude nahe der Wall Street mit dem Geld der Firma, die etwa 30 Prozent seiner Gewinne als Kommission einbehält. Wenn er eine Million beisammen habe, mache er auf eigene Rechnung weiter. Allerdings scheitern viele gute Trader, sobald sie das eigene Geld riskieren. Sie verlieren ihre Sorglosigkeit.
n den schäbigen Räumen hocken an 300 Computerarbeitsplätzen junge Trader, nur gerade vier von ihnen sind Frauen. Alles Absolventen von Elite-Universitäten. Andere Leute nehme die Firma nicht, sagt Roy: «Sie sagen sich: wenn du in Harvard oder Yale warst, dann bist du entweder intelligent oder fleissig - oder beides.» Neben den Computern stellt die Firma den Kids Billard- und Pingpongtische hin. Sie bemüht sich, sie in verspielter, aber aggressiver Laune zu halten: Schreien und Fluchen ist erwünscht, Individualismus wird gefördert.
Jeder Trader entwickelt seine eigene Methode. Einige «shorten» über extrem kurze Zeit, das heisst, sie spekulieren auf einen fallenden Kurs, indem sie Aktien verkaufen, noch bevor sie sie, zum dann tieferen Preis, gekauft haben. Und alle erfolgreichen Trader betonen, happige Verluste gehörten dazu; aus ihnen lerne man, nicht aus den Gewinnen.
Dem traditionellen Anleger ist es egal, ob er für seine IBM-Aktie 118 1/4 zahlt oder 119; und auch, ob das Geschäft heute oder morgen abgewickelt wird. Er wird die IBM-Aktie mindestens ein paar Monate, vielleicht auch ein Jahrzehnt lang halten; in dieser Zeit, so erwartet er, wird sich ihr Wert vervielfachen. Seine Entscheidung basiert auf einer soliden Analyse des Computerriesen und seiner Wachstumschancen. Das nervöse Rauf und Runter der Börse kümmert ihn nicht.
Wer kurzfristig - short term - investiert, für Tage oder Monate, den interessieren die sogenannten Fundamentals einer Aktie weniger, für ihn ist die Stimmung am Markt wichtig, die Psychologie und die Nachrichtenlage. 1998 schoss alles hoch, was mit dem Internet in Verbindung gebracht wurde: ein «.com» im Firmen-Namen genügte. Im vergangenen April war die Online-Buchhandlung Amazon.com mit über 30 Milliarden Dollar bewertet, höher als Boeing damals, der grösste Flugzeughersteller der Welt. Das ist absurd, Amazon hat noch nie einen Gewinn ausgewiesen. Jeder weiss, die Aktie ist überbewertet. Aber wieso soll man nicht mitmachen, solange die Internet-Titel boomen? Wer möchte die happigen Gewinne, die das Internet an der Börse verspricht, einfach den andern überlassen?
Net2Phone, eine überbewertete Internet-Telefongesellschaft, war jüngst ein Favorit der Daytrader und Kurzfristigen. Das Papier schwankte in den drei Monaten seit seiner Erst-Emission wild zwischen 15 und 92 Dollar hin und her.
hort-Termer überprüfen die Kurse ihrer Titel täglich oder öfter: intra day. Diesen Investitionsstil ermöglicht Privaten erst das Internet. Aus den Studierstuben amerikanischer - und der Hongkonger - Universitäten, aus Büros und Wohnungen wird heute gehandelt. Eine Unzahl Websites, darunter auch jene der NZZ, liefern Aktienkurse aus aller Welt frei Haus - mit Verzögerungen von gut einer Viertelstunde. Indes genügen, angesichts der Volatilität etwa der Technologieaktien, diese Notierungen dem aggressiven Short-Termer nicht. Er will die wirklich aktuellen Kurse, Realtime-Quotes. Auch das gibt es auf dem Web, gegen eine bescheidene Abogebühr oder sogar umsonst, per Gratis-Subskription, inklusive Börsen-News: Wer zuerst um ein Ereignis - eine Pressemitteilung, einen Merger, eine politische Entscheidung oder eine Katastrophe wie das Erdbeben in Taiwan - weiss, kann die (Über-)Reaktion des Marktes antizipieren und damit Geld machen.
Bald nach den Quotes tauchten die ersten Internet-Broker im Web auf: Sie erlauben ihren Kunden, Aktien online zu handeln. Damit wurde Daytraden möglich, zumal die Online-Broker mit ihren Kommissionen die Realworld-Konkurrenz massiv unterlaufen. Discounter wie Charles Schwab boten vor zwei Jahren Abschlüsse für 60 Dollar an (Schweizer Privatbanken nehmen das Fünffache). E*Trade verlangt heute für eine in New York kotierte Aktie $14.95 Kommission; wer mehr als 75 Online-Trades pro Quartal abschliesst, erhält grosszügig Rabatt. Professionelle Daytrader wie Roy zahlen sogar nur $1.50: Sie umgehen die Broker und handeln direkt am Markt.
Erst dieser Preiszerfall der Kommissionen erlaubte das Entstehen des Daytrading. Die Pioniere wurden vor drei Jahren noch verlacht. Inzwischen richten auch grosse Investmentbanken Daytrader-Abteilungen ein.
lles geht immer schneller: Einst genügte es dem Privatanleger, die Schlusskurse vom Vortag beim Frühstück der Zeitung zu entnehmen. Dann begannen Radio und Fernsehen aktuell Kurse zu melden. Seit bald zehn Jahren richten TV-Spezialprogramme wie NBC-Squawkbox und CNN-Financial sich an ein breiteres Publikum, mit laufenden Quotes am unteren Bildrand. Am Times Square, in New Yorker Bankfilialen und Brokerfirmen und in manchen Cafés laufen die Quotes übers Band. Mit Pagern kann man die Kurse abrufen, neuerdings auch mit dem Handy. Nokia entwickelt derzeit ein Handset, über dessen Anzeige man Aktien handeln können wird. Es geht nicht nur immer schneller; die Börse dringt auch immer tiefer in den Alltag ein.
Realtime ist für einen Daytrader wie Roy nicht schnell genug. Das Internet verpackt die Daten zum Transport in elektronische Pakete, dies verursacht gewisse Verzögerungen: Zehntelsekunden, Sekunden, auch mal eine Minute. Solange Roy den Markt nur beobachtet, stört ihn das wenig. Die Exekution eines Deals indes muss blitzschnell abgewickelt werden, bevor der Markt dreht. Sonst kann das Geschäft ins Auge gehen. Ein während einiger Minuten hängengebliebener Auftrag ohne Limit kann einen ruinieren. Beispiele dafür kursieren viele. Trader, die von zu Hause aus arbeiten, prüfen mit Minikäufen und Gegenkäufen von verschlafenen Titeln die Exekutionsgeschwindigkeit ihres Systems. Wie real ist meine Realtime?
Die Daytrader haben sich Zugang zu einer speziellen Software auf einem speziellen Profinetz - Nasdaq Level II - verschafft. Das garantiert ihnen eine Exekution binnen zweier Sekunden. Und Level III ist schon im Anmarsch: Real-Realtime. Geht es wirklich immer schneller? Einerseits: ja. Andrerseits zerlegt Roy die Zeit in immer kleinere Einheiten, gleichsam mit einem elektronischen Zeitmikroskop, um möglichst genau zu verstehen, zu welchem Bruchteil einer Sekunde das Ein- und das Aussteigen am profitabelsten ist.
ie Verlockung ist gross. Viele möchten mit ein paar Stunden Videogame pro Tag Millionär werden. Deshalb schiessen Firmen aus dem Boden, die Daytrader-Stationen, Schulung und Software anbieten: Wer nachher mit Nichtstun Millionen macht oder zu machen hofft, der lässt sich den Einstieg gerne ein paar Tausender kosten. Spezielle Computerprogramme suchen die Börse nach günstigen Gelegenheiten ab, sie lesen die Charts und analysieren die Wahrscheinlichkeit von Ausschlägen.
So verspricht das Geschäft mit dem Traum vom Daytrading vielleicht letztlich mehr Profit als das Daytrading selbst: Viele Leute möchten glauben, sie könnten mit der Leistung und dem Tempo ihrer Technik den Mangel an Kompetenz wettmachen. 5000 Dollar genügten für den Einstieg, locken manche Firmen die Dummen. Und stellen Leute vor, die in ihrem ersten Daytrader-Jahr aus 10 000 Dollar Startkapital mehr als drei Millionen gemacht haben sollen.
Trader wie Roy dagegen arbeiten konzentriert, diszipliniert, geduldig und feilen ständig an ihrer Strategie.
Daytrader hat es immer gegeben: die sogenannten Market-Makers, einst die Ringhändler, die nur eine oder einzelne Aktien handeln. Sie erhalten ihre Aufträge von den Brokern und vollziehen die Abschlüsse untereinander, heute meist elektronisch. Sie handeln im Namen der Kunden, also der Broker und Banken, machen aber - fast zwangsläufig: zumindest zum Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage - auch Geschäfte in die eigene Tasche. Wenn Roy eine Aktie beobachtet, studiert er ihr Verhalten auf seinem Bildschirm. Er schätzt ab, ob sie bluffen, ob sie den Kurs um ein paar Achtelpunkte hochtreiben, um besser verkaufen zu können, oder ob sie wirklich kaufen. Und dann mischt er sich ein, schlägt zu: Videopoker, in Realtime mit richtigem Geld. Er tut genau das gleiche wie die Market-Makers auch, nur ganz für die eigene Tasche. «Wir fischen den Haien die Beute aus dem Maul», sagt sein Kollege.
Es gibt Daytrader, die ihrerseits die Manipulationen der Market-Maker kopieren. Sie ziehen ruhigere Börsen vor; jede eignet sich, an der man online traden kann. Sie suchen nicht die starke Schwankung, sondern imitieren das Spiel, mit dem ein Market-Maker eine weite Spanne von Bid und Ask, Geld und Brief, ausnutzt. Wer einerseits alles kauft, was zu einem gewissen Preis gerade angeboten wird, und einige dieser Aktien alsbald zu einigen Achteln höher zum Kauf anbietet, treibt den Kurs - durch ultrakurzzeitige Marktdominanz - um einige Achtel hoch. Ist er oben, verkauft man wieder, was man eben gekauft hat. Und das Spiel geht weiter, diesmal runter.
ie Elektronik macht es nicht nur möglich, von überall her und zu jeder Zeit in Echtzeit zu handeln; sie öffnet den Markt auch: Die Daytrader schnappen ihre Gewinne den Institutionen weg, jenen, die so tun, als gehöre der Markt ihnen. In diesem Sinne ist das Internet subversiv und demokratisch: Die College-Kids holen sich einen Teil dessen, was die Banken und Broker den Privatanlegern abknöpfen. «Wir sind wie Mücken für sie, lästig; wir saugen ihnen etwas Blut ab, aber wir tun ihnen nicht weh», sagt Roy. Subversiv ist die Elektronik ohnehin: Die «New York Times» macht sich Sorgen um das Monopol der Wall Street. Mit ECN und Instinet bieten private Computersysteme sich als Marktplatz für den Aktienhandel nach Börsenschluss an, das After-Hour-Trading. Das zwingt die Nasdaq, die Börse mit den meisten Technologietiteln, künftig ihre Handelszeiten zu verlängern.
Gemäss einer Untersuchung der US-Börsenaufsicht gab es im vergangenen Sommer in den USA etwa 5000 Daytraders wie Roy, die im Schnitt 35 Geschäfte pro Tag tätigten - dazu etwa 300 000, die mit ihrer Maus täglich mehr als drei Deals online klicken. Von ihnen machen nur 11 Prozent konsistent Gewinne.
Die Branche hat einen miserablen Ruf. Das Gesetz erlaubt Daytrading-Firmen, ihren Kunden, die auf eigene Rechnung arbeiten, Kredite - sogenannte Margins - bis zum Zweifachen ihres Einsatzes zu gewähren. Im Internet bieten gewisse Firmen eine zehnfache Margin an. Wenn damit einer seine 10 000 Dollar Einstiegskapital verspielt, und das ist schnell passiert, vor allem am Anfang, dann steht er mit 100 000 in der Kreide.
Intellektuell sei er völlig unterfordert, sagt Roy. Spass macht ihm der Wettbewerb, die andern zu schlagen. Er animiert seine Freunde, vor allem seine Freundinnen, ebenfalls einzusteigen. Wenn einer eine Frau bringe, dann steige sein Ansehen in der Firma. Aber sobald er genügend Geld beisammen habe, wechsle er auf long-term und mache was Ernsthafteres. Wieviel ist genug? Ein paar Millionen.
Roy ist Inder, er kam als Elfjähriger nach Amerika. Nun versorgt er seine Familie; die Mutter kocht für ihn, sie spricht bis heute kein Englisch. Die meisten Daytrader stammen wie er aus bescheidenen Verhältnissen, viele von ihnen sind Einwandererkinder. Der Star in Roys Bude ist ein Russe. Das Traden verspricht diesen jungen Immigranten einen schnellen Aufstieg. Kids reicher Amerikaner findet man unter den Daytradern kaum.
Nach dem Essen in Chinatown - wir teilen die spottbillige Rechnung - möchte Roy ins Kino: «In Midtown gibt es ein Ein-Dollar-Kino, gehen wir dorthin?» Und dann fährt er mit der Subway nach Hause. Ein Auto hat er nicht. Nur für Computer greift er tief in die Tasche.
Viele Daytrader scheffeln Geld wie die Grossen, aber sie geben es aus wie Studenten: kniepig und sparsam. Sie passen so gar nicht ins Finanzestablishment, das sie mit ihren schnellen Mausklicks aufmischen, diese Rotznasen, Millionäre.
Christoph Neidhart ist freier Journalist und zurzeit Visiting Scholar am Davis Center for Russian Studies der Harvard University, wo er an einem Projekt mit dem Titel «Semiotics of Transition» arbeitet.
Gruß
Der Daytrader nutzt den kurzfristigen Trend einer Aktie: Er kauft für 118 1/4 und verkauft ein paar Minuten, noch besser: Sekunden später für 119. Wenn er genug Geld hat, hört er auf. Wieviel ist genug? Vielleicht ein paar Millionen. Und wann ist das? Vielleicht mit 25.
Von Christoph Neidhart
otznasen: Vor einem schmutzigen Eingang in den Häuserschluchten um die Wall Street hängen Jugendliche in Turnschuhen, Jeans und T-Shirts herum. Die Brillen sitzen schief, die Baseballmützen verkehrt. Einer bohrt in der Nase, andere rauchen. Einige von ihnen sind Millionäre.
Die Finanzwelt gleitet an ihnen vorbei, im schwarzen Lincoln Continental - oder wenigstens im grauen Anzug. Sie schaut nicht her. «Sie hassen uns», sagt einer der Jungs - nennen wir ihn Roy.
Die College-Kids sind Daytrader, sie spielen an der Börse. «Wir sind keine Investoren, das hier ist eher ein Videogame.» Die besten machen mehrere Millionen jährlich, ganz ohne Eigenkapital. Roy unterscheidet zwischen «sechsstelligen» Leuten und «siebenstelligen». Sechsstellig schaffe jeder, der die Personality dazu habe. Wer auf siebenstellig kommt, dem zollt Roy Respekt. Dann könne man sich überlegen, was man sonst noch machen wolle im Leben: «Ich bin schon fast 25.»
Andere fallen auf die Nase - besonders jene, die allein von zu Hause aus traden. Ihnen fehlt der Rückhalt der Gruppe, in der man einen Taucher eher wegsteckt. Am 29. Juli erschoss Mark Barton in Atlanta in den Räumen der Daytrader-Firma All-Tech neun Leute. Er flippte aus, nachdem er binnen weniger Tage Verluste von 100 000 Dollar angehäuft hatte.
uf lange Sicht ist die Börse das beste Instrument, die Substanz einer Firma zu bewerten. Kurzfristig jedoch ist sie ineffizient, irrational und ungenau: Sie schiesst immer übers Ziel hinaus. Daraus ziehen die Daytrader ihren Profit. Ob die Kurse steigen oder fallen, ist ihnen egal; und auch, ob die Titel, die sie grade handeln, unter- oder überbewertet sind. Manche kennen von den Firmen, deren Mitbesitzer sie vorübergehend sind, kaum mehr als das Börsensymbol.
Ein Daytrader nutzt den kurzfristigen Trend einer Aktie: Er kauft IBM für 118 1/4 und verkauft einige Minuten später für 119; noch besser: ein paar Sekunden später. Dazu bieten sich ihm an gewissen Tagen mehrere Gelegenheiten, selbst wenn die Aktie, wie IBM in der letzten Septemberwoche, 10 Dollar verliert. 1000 IBM-Aktien, für 118 1/4 gekauft und für 119 verkauft, das ergibt 750 Dollar - kein schlechter Ertrag für ein paar Minuten. Der Daytrader bleibt jeweils nur ganz kurz im Markt engagiert, die übrige Zeit hält er sein Geld in Cash.
Wer Firmen analysiert und Markttrends beobachtet, wer Position über Nacht hält, ist kein reiner Daytrader. Die agieren «nonjudgemental», ausschliesslich auf Grund der kurzfristigen Bewegungen am Markt. Dazu verfolgt der Trader den Kurs seiner Beute jeweils von Gebot zu Gebot auf der rollenden Tabelle am Bildschirm. Er hat den Chart im Auge, das Marktvolumen und die Teilnehmer. Sein Arbeitsplatz besteht aus vier Bildschirmen mit einer Highspeed-Online-Verbindung. Je volatiler die Börse, um so mehr Chancen bieten sich. Ein guter Trader hat die Geduld eines Jägers, ist aber «trigger-happy», das heisst, er hat keine Hemmung abzudrücken.
Von den etwa 250 Markttagen jährlich sind 50 besonders günstig, sagt Roy. Wenn der Dow Jones zur Eröffnung 80 Punkte falle, könne man sicher sein, dass er im Laufe des Tages irgendwann plötzlich hochschnelle, selbst wenn er schliesslich tief im Negativen schliesse. Dieses «Bouncing back» müsse man abwarten, um zuzuschlagen. Wer an diesen fünfzig Tagen je etwa 10 000 Dollar macht, ist schon ganz ordentlich «sechsstellig».
Roy handelt in der Bude nahe der Wall Street mit dem Geld der Firma, die etwa 30 Prozent seiner Gewinne als Kommission einbehält. Wenn er eine Million beisammen habe, mache er auf eigene Rechnung weiter. Allerdings scheitern viele gute Trader, sobald sie das eigene Geld riskieren. Sie verlieren ihre Sorglosigkeit.
n den schäbigen Räumen hocken an 300 Computerarbeitsplätzen junge Trader, nur gerade vier von ihnen sind Frauen. Alles Absolventen von Elite-Universitäten. Andere Leute nehme die Firma nicht, sagt Roy: «Sie sagen sich: wenn du in Harvard oder Yale warst, dann bist du entweder intelligent oder fleissig - oder beides.» Neben den Computern stellt die Firma den Kids Billard- und Pingpongtische hin. Sie bemüht sich, sie in verspielter, aber aggressiver Laune zu halten: Schreien und Fluchen ist erwünscht, Individualismus wird gefördert.
Jeder Trader entwickelt seine eigene Methode. Einige «shorten» über extrem kurze Zeit, das heisst, sie spekulieren auf einen fallenden Kurs, indem sie Aktien verkaufen, noch bevor sie sie, zum dann tieferen Preis, gekauft haben. Und alle erfolgreichen Trader betonen, happige Verluste gehörten dazu; aus ihnen lerne man, nicht aus den Gewinnen.
Dem traditionellen Anleger ist es egal, ob er für seine IBM-Aktie 118 1/4 zahlt oder 119; und auch, ob das Geschäft heute oder morgen abgewickelt wird. Er wird die IBM-Aktie mindestens ein paar Monate, vielleicht auch ein Jahrzehnt lang halten; in dieser Zeit, so erwartet er, wird sich ihr Wert vervielfachen. Seine Entscheidung basiert auf einer soliden Analyse des Computerriesen und seiner Wachstumschancen. Das nervöse Rauf und Runter der Börse kümmert ihn nicht.
Wer kurzfristig - short term - investiert, für Tage oder Monate, den interessieren die sogenannten Fundamentals einer Aktie weniger, für ihn ist die Stimmung am Markt wichtig, die Psychologie und die Nachrichtenlage. 1998 schoss alles hoch, was mit dem Internet in Verbindung gebracht wurde: ein «.com» im Firmen-Namen genügte. Im vergangenen April war die Online-Buchhandlung Amazon.com mit über 30 Milliarden Dollar bewertet, höher als Boeing damals, der grösste Flugzeughersteller der Welt. Das ist absurd, Amazon hat noch nie einen Gewinn ausgewiesen. Jeder weiss, die Aktie ist überbewertet. Aber wieso soll man nicht mitmachen, solange die Internet-Titel boomen? Wer möchte die happigen Gewinne, die das Internet an der Börse verspricht, einfach den andern überlassen?
Net2Phone, eine überbewertete Internet-Telefongesellschaft, war jüngst ein Favorit der Daytrader und Kurzfristigen. Das Papier schwankte in den drei Monaten seit seiner Erst-Emission wild zwischen 15 und 92 Dollar hin und her.
hort-Termer überprüfen die Kurse ihrer Titel täglich oder öfter: intra day. Diesen Investitionsstil ermöglicht Privaten erst das Internet. Aus den Studierstuben amerikanischer - und der Hongkonger - Universitäten, aus Büros und Wohnungen wird heute gehandelt. Eine Unzahl Websites, darunter auch jene der NZZ, liefern Aktienkurse aus aller Welt frei Haus - mit Verzögerungen von gut einer Viertelstunde. Indes genügen, angesichts der Volatilität etwa der Technologieaktien, diese Notierungen dem aggressiven Short-Termer nicht. Er will die wirklich aktuellen Kurse, Realtime-Quotes. Auch das gibt es auf dem Web, gegen eine bescheidene Abogebühr oder sogar umsonst, per Gratis-Subskription, inklusive Börsen-News: Wer zuerst um ein Ereignis - eine Pressemitteilung, einen Merger, eine politische Entscheidung oder eine Katastrophe wie das Erdbeben in Taiwan - weiss, kann die (Über-)Reaktion des Marktes antizipieren und damit Geld machen.
Bald nach den Quotes tauchten die ersten Internet-Broker im Web auf: Sie erlauben ihren Kunden, Aktien online zu handeln. Damit wurde Daytraden möglich, zumal die Online-Broker mit ihren Kommissionen die Realworld-Konkurrenz massiv unterlaufen. Discounter wie Charles Schwab boten vor zwei Jahren Abschlüsse für 60 Dollar an (Schweizer Privatbanken nehmen das Fünffache). E*Trade verlangt heute für eine in New York kotierte Aktie $14.95 Kommission; wer mehr als 75 Online-Trades pro Quartal abschliesst, erhält grosszügig Rabatt. Professionelle Daytrader wie Roy zahlen sogar nur $1.50: Sie umgehen die Broker und handeln direkt am Markt.
Erst dieser Preiszerfall der Kommissionen erlaubte das Entstehen des Daytrading. Die Pioniere wurden vor drei Jahren noch verlacht. Inzwischen richten auch grosse Investmentbanken Daytrader-Abteilungen ein.
lles geht immer schneller: Einst genügte es dem Privatanleger, die Schlusskurse vom Vortag beim Frühstück der Zeitung zu entnehmen. Dann begannen Radio und Fernsehen aktuell Kurse zu melden. Seit bald zehn Jahren richten TV-Spezialprogramme wie NBC-Squawkbox und CNN-Financial sich an ein breiteres Publikum, mit laufenden Quotes am unteren Bildrand. Am Times Square, in New Yorker Bankfilialen und Brokerfirmen und in manchen Cafés laufen die Quotes übers Band. Mit Pagern kann man die Kurse abrufen, neuerdings auch mit dem Handy. Nokia entwickelt derzeit ein Handset, über dessen Anzeige man Aktien handeln können wird. Es geht nicht nur immer schneller; die Börse dringt auch immer tiefer in den Alltag ein.
Realtime ist für einen Daytrader wie Roy nicht schnell genug. Das Internet verpackt die Daten zum Transport in elektronische Pakete, dies verursacht gewisse Verzögerungen: Zehntelsekunden, Sekunden, auch mal eine Minute. Solange Roy den Markt nur beobachtet, stört ihn das wenig. Die Exekution eines Deals indes muss blitzschnell abgewickelt werden, bevor der Markt dreht. Sonst kann das Geschäft ins Auge gehen. Ein während einiger Minuten hängengebliebener Auftrag ohne Limit kann einen ruinieren. Beispiele dafür kursieren viele. Trader, die von zu Hause aus arbeiten, prüfen mit Minikäufen und Gegenkäufen von verschlafenen Titeln die Exekutionsgeschwindigkeit ihres Systems. Wie real ist meine Realtime?
Die Daytrader haben sich Zugang zu einer speziellen Software auf einem speziellen Profinetz - Nasdaq Level II - verschafft. Das garantiert ihnen eine Exekution binnen zweier Sekunden. Und Level III ist schon im Anmarsch: Real-Realtime. Geht es wirklich immer schneller? Einerseits: ja. Andrerseits zerlegt Roy die Zeit in immer kleinere Einheiten, gleichsam mit einem elektronischen Zeitmikroskop, um möglichst genau zu verstehen, zu welchem Bruchteil einer Sekunde das Ein- und das Aussteigen am profitabelsten ist.
ie Verlockung ist gross. Viele möchten mit ein paar Stunden Videogame pro Tag Millionär werden. Deshalb schiessen Firmen aus dem Boden, die Daytrader-Stationen, Schulung und Software anbieten: Wer nachher mit Nichtstun Millionen macht oder zu machen hofft, der lässt sich den Einstieg gerne ein paar Tausender kosten. Spezielle Computerprogramme suchen die Börse nach günstigen Gelegenheiten ab, sie lesen die Charts und analysieren die Wahrscheinlichkeit von Ausschlägen.
So verspricht das Geschäft mit dem Traum vom Daytrading vielleicht letztlich mehr Profit als das Daytrading selbst: Viele Leute möchten glauben, sie könnten mit der Leistung und dem Tempo ihrer Technik den Mangel an Kompetenz wettmachen. 5000 Dollar genügten für den Einstieg, locken manche Firmen die Dummen. Und stellen Leute vor, die in ihrem ersten Daytrader-Jahr aus 10 000 Dollar Startkapital mehr als drei Millionen gemacht haben sollen.
Trader wie Roy dagegen arbeiten konzentriert, diszipliniert, geduldig und feilen ständig an ihrer Strategie.
Daytrader hat es immer gegeben: die sogenannten Market-Makers, einst die Ringhändler, die nur eine oder einzelne Aktien handeln. Sie erhalten ihre Aufträge von den Brokern und vollziehen die Abschlüsse untereinander, heute meist elektronisch. Sie handeln im Namen der Kunden, also der Broker und Banken, machen aber - fast zwangsläufig: zumindest zum Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage - auch Geschäfte in die eigene Tasche. Wenn Roy eine Aktie beobachtet, studiert er ihr Verhalten auf seinem Bildschirm. Er schätzt ab, ob sie bluffen, ob sie den Kurs um ein paar Achtelpunkte hochtreiben, um besser verkaufen zu können, oder ob sie wirklich kaufen. Und dann mischt er sich ein, schlägt zu: Videopoker, in Realtime mit richtigem Geld. Er tut genau das gleiche wie die Market-Makers auch, nur ganz für die eigene Tasche. «Wir fischen den Haien die Beute aus dem Maul», sagt sein Kollege.
Es gibt Daytrader, die ihrerseits die Manipulationen der Market-Maker kopieren. Sie ziehen ruhigere Börsen vor; jede eignet sich, an der man online traden kann. Sie suchen nicht die starke Schwankung, sondern imitieren das Spiel, mit dem ein Market-Maker eine weite Spanne von Bid und Ask, Geld und Brief, ausnutzt. Wer einerseits alles kauft, was zu einem gewissen Preis gerade angeboten wird, und einige dieser Aktien alsbald zu einigen Achteln höher zum Kauf anbietet, treibt den Kurs - durch ultrakurzzeitige Marktdominanz - um einige Achtel hoch. Ist er oben, verkauft man wieder, was man eben gekauft hat. Und das Spiel geht weiter, diesmal runter.
ie Elektronik macht es nicht nur möglich, von überall her und zu jeder Zeit in Echtzeit zu handeln; sie öffnet den Markt auch: Die Daytrader schnappen ihre Gewinne den Institutionen weg, jenen, die so tun, als gehöre der Markt ihnen. In diesem Sinne ist das Internet subversiv und demokratisch: Die College-Kids holen sich einen Teil dessen, was die Banken und Broker den Privatanlegern abknöpfen. «Wir sind wie Mücken für sie, lästig; wir saugen ihnen etwas Blut ab, aber wir tun ihnen nicht weh», sagt Roy. Subversiv ist die Elektronik ohnehin: Die «New York Times» macht sich Sorgen um das Monopol der Wall Street. Mit ECN und Instinet bieten private Computersysteme sich als Marktplatz für den Aktienhandel nach Börsenschluss an, das After-Hour-Trading. Das zwingt die Nasdaq, die Börse mit den meisten Technologietiteln, künftig ihre Handelszeiten zu verlängern.
Gemäss einer Untersuchung der US-Börsenaufsicht gab es im vergangenen Sommer in den USA etwa 5000 Daytraders wie Roy, die im Schnitt 35 Geschäfte pro Tag tätigten - dazu etwa 300 000, die mit ihrer Maus täglich mehr als drei Deals online klicken. Von ihnen machen nur 11 Prozent konsistent Gewinne.
Die Branche hat einen miserablen Ruf. Das Gesetz erlaubt Daytrading-Firmen, ihren Kunden, die auf eigene Rechnung arbeiten, Kredite - sogenannte Margins - bis zum Zweifachen ihres Einsatzes zu gewähren. Im Internet bieten gewisse Firmen eine zehnfache Margin an. Wenn damit einer seine 10 000 Dollar Einstiegskapital verspielt, und das ist schnell passiert, vor allem am Anfang, dann steht er mit 100 000 in der Kreide.
Intellektuell sei er völlig unterfordert, sagt Roy. Spass macht ihm der Wettbewerb, die andern zu schlagen. Er animiert seine Freunde, vor allem seine Freundinnen, ebenfalls einzusteigen. Wenn einer eine Frau bringe, dann steige sein Ansehen in der Firma. Aber sobald er genügend Geld beisammen habe, wechsle er auf long-term und mache was Ernsthafteres. Wieviel ist genug? Ein paar Millionen.
Roy ist Inder, er kam als Elfjähriger nach Amerika. Nun versorgt er seine Familie; die Mutter kocht für ihn, sie spricht bis heute kein Englisch. Die meisten Daytrader stammen wie er aus bescheidenen Verhältnissen, viele von ihnen sind Einwandererkinder. Der Star in Roys Bude ist ein Russe. Das Traden verspricht diesen jungen Immigranten einen schnellen Aufstieg. Kids reicher Amerikaner findet man unter den Daytradern kaum.
Nach dem Essen in Chinatown - wir teilen die spottbillige Rechnung - möchte Roy ins Kino: «In Midtown gibt es ein Ein-Dollar-Kino, gehen wir dorthin?» Und dann fährt er mit der Subway nach Hause. Ein Auto hat er nicht. Nur für Computer greift er tief in die Tasche.
Viele Daytrader scheffeln Geld wie die Grossen, aber sie geben es aus wie Studenten: kniepig und sparsam. Sie passen so gar nicht ins Finanzestablishment, das sie mit ihren schnellen Mausklicks aufmischen, diese Rotznasen, Millionäre.
Christoph Neidhart ist freier Journalist und zurzeit Visiting Scholar am Davis Center for Russian Studies der Harvard University, wo er an einem Projekt mit dem Titel «Semiotics of Transition» arbeitet.
Gruß