Montag, 01. Oktober 2001 Berlin, 09:57 Uhr
"Bushs Steuersenkungen werden nicht helfen"
US-Ökonom Stiglitz: Konsumenten sparen das Geld nur. Starke Entlastung der Unternehmen sinnvoller
New York - Die Weltwirtschaft wird nach den Terroranschlägen vom 11. September in eine Rezession gleiten. Dies erwarten nicht nur die Chefvolkswirte der großen Wall-Street-Häuser; auch der Internationale Währungsfonds (IWF) sagt, die globale Wirtschaft stehe am Rande einer Rezession. Besonders deutlich würden die Auswirkungen der Krise in den USA, aber auch in Europa zu Tage treten. Für Deutschland korrigierte der IWF seine Wachstumsprognose für 2001 von 1,9 auf 0,8 Prozent nach unten. Der ebenso renommierte wie umstrittene US-Ökonom Joseph Stiglitz glaubt, dass sich Amerika bereits mitten in einer Rezession befindet. Mit Stiglitz sprach Martin Halusa.
DIE WELT: Professor Stiglitz, wie definieren Sie eine Rezession?
Joseph Stiglitz: So wie meine Kollegen auch: zwei Quartale in Folge mit negativem Wachstum.
DIE WELT: Befinden sich die USA in einer Rezession?
Stiglitz: Die Frage sollte nicht lauten: Gibt es eine Rezession oder nicht? Sondern: Inwieweit läuft der Konjunkturmotor unterhalb seiner Möglichkeiten. Wenn das Potenzial der Wirtschaft bei einer Wachstumsrate von zwei bis 2,5 Prozent liegt und man auf minus 0,5 Prozent rutscht, rangiert man höchstens drei Prozent unter seinen Möglichkeiten. Derzeit liegt das Potenzial der amerikanischen Wirtschaft aber zwischen 3,5 und 4,5 Prozent. Wenn das Wachstum dann auf null fällt, beträgt die Differenz schon mindestens 3,5 Prozent. Und das ist eine Menge.
DIE WELT: Wie hat sich die Lage der US-Wirtschaft durch die Anschläge am 11. September verändert?
Stiglitz: Die wirtschaftliche Talfahrt in den USA wird sich durch die Attentate beschleunigen. Vor dem 11. September sah es aus, als stünden die Aussichten auf eine Rezession 50 zu 50. Doch nun stecken wir mitten in einer Rezession - das Wachstum ist jetzt negativ.
DIE WELT: Wie wird sich das konkret auf die Industrie und die Bevölkerung auswirken?
Stiglitz: Die Angriffe haben die Situation in einer ganzen Reihe von Punkten verschlechtert: Die Verunsicherung hat deutlich zugenommen; einige Branchen - die Luftfahrt, der Tourismus - sind sehr stark betroffen; die Neigung der Anleger, Geld zu investieren, nimmt ab; das Vertrauen der Verbraucher ist erschüttert; die Börse ist gefallen - all dies führt zu weniger Gesamtverbrauch. Und genau der anhaltende Konsum der Verbraucher war es, der die Wirtschaft in den vergangenen sechs Monaten am Leben gehalten hat. Nun versiegt auch diese Quelle des Wachstums.
DIE WELT: Was kann die Regierung tun, um die Konjunktur wieder auf Trab zu bringen?
Stiglitz: Es gibt ein paar ganz offensichtliche Möglichkeiten wie etwa eine Lockerung der Geldpolitik. Die Zinspolitik ist allerdings weitaus effektiver, wenn es darum geht, einen Boom zu dämpfen. Sie ist lange nicht so erfolgreich, eine wirtschaftliche Talfahrt aufzuhalten oder den Trend sogar umzukehren. Die relativ aggressiven Zinsschritte der Federal Reserve haben nicht gewirkt - die acht Zinssenkungen Alan Greenspans seit Januar haben geholfen, aber das Problem nicht gelöst.
DIE WELT: Was schlagen Sie vor?
Stiglitz: Wir müssen uns dem zweiten Instrument zur Bekämpfung einer Talfahrt zuwenden: der Fiskalpolitik. Wir haben im vergangenen Jahrzehnt allerdings gelernt, dass man mit der Steuerpolitik äußerst vorsichtig umgehen muss. Wenn Steuererleichterungen schlecht überlegt sind, können sie zwar gut aussehen, aber fatale Folgen haben. Die Steuersenkungen in Japan haben beispielsweise nicht funktioniert. Auch die Steuerkürzungen von Präsident George W. Bush werden nicht dazu führen, aus den Schwierigkeiten herauszukommen. Im Gegenteil: Vielleicht schaden sie der Entwicklung sogar. Denn die Verbraucher werden das Geld nun nicht mehr ausgeben, das sie durch Gutschriften oder - später - niedrigere Steuern mehr in ihrem Geldbeutel haben.
DIE WELT: Die Geldpolitik reicht nicht, die Fiskalpolitik nicht. Was denn dann?
Stiglitz: Die Steuersenkung wie Bush sie vorschlägt, war nicht dafür geeignet, die Konjunktur zu stimulieren. Es gibt andere Formen der Fiskalpolitik, die für die Belebung der Wirtschaft weitaus besser funktionieren könnten.
DIE WELT: Welche?
Stiglitz: Die Steuern auf Investitionen könnten zum Beispiel gesenkt werden - das hat in den USA schon während der sechziger Jahre zu einer Belebung geführt; auch Präsident Bill Clinton hatte 1993 eine ähnliche Steuererleichterung ins Spiel gebracht. Auch könnten die Ausgaben für die öffentliche Infrastruktur erhöht werden - ich denke an die Flughäfen oder das Ausbildungssystem. Dies würde die Wirtschaft stimulieren und langfristig unser Wachstum verbessern. Unsere Flughäfen sind altmodisch, die Flugsicherung technisch überholt. Es gibt eine verzweifelte Nachfrage nach staatlichen Investitionen, sowohl kurzfristig als auch langfristig. Doch das alles verkümmert unter der Regierung Bush.
DIE WELT: Sind nun - angesichts einer Rezession und eines Konfliktes - all die Zahlen über jahrelange Haushaltsüberschüsse Makulatur?
Stiglitz: Alle Voraussagen, die man heute trifft, basieren auf fundamentalen Unsicherheiten. Die Angst ist sehr hoch, dass es einen weiteren Angriff geben wird. Wenn es keine neuen Attentate gibt und wenn ein Krieg nicht eskaliert, dann gleiten die USA in eine Rezession, die so ähnlich oder schlimmer sein wird wie die Abkühlung nach dem Zweiten Weltkrieg. In einem oder zwei Jahren werden wir uns dann aber wieder erholt haben. Was geschieht, wenn sich der Konflikt ausweitet oder über Jahre hinzieht, kann kaum vorhergesagt werden. Die Überschüsse im Haushalt werden auf jeden Fall weitaus geringer sein als früher angenommen. Die Schätzungen waren schon vorher höchst unzuverlässig und buchhalterisch zweifelhaft.
DIE WELT: Die Zahlen stammen aber nicht von Bush, sondern der Vorgängerregierung . . .
Stiglitz: Die Prognosen, auf denen die Steuersenkungen basieren, stammen von Bush. Zahlen über Haushaltsüberschüsse sind immer hoch spekulativ. Deshalb überrascht es niemanden, wenn die Zahlen nach oben oder unten gehen. Das ist immer so, wenn Entscheidungen auf Etatüberschüssen basieren, die erst im Verlauf der kommenden zehn Jahre eintreten sollen. Die entscheidende Frage ist, ob Geld ausgegeben werden sollte, bevor es verdient worden ist. Das ist, was George W. Bush gemacht hat. Es geht nicht darum, ob die Zahlen verlässlich sind. Sondern es geht darum, dass Bush so tut, als könne man auf die Zahlen bauen. Und dies nenne ich einen Akt von extremer Verantwortungslosigkeit.
DIE WELT: Warum sind die Zinssenkungen Alan Greenspans bislang ohne nennenswerte Wirkung verpufft?
Stiglitz: Die Zinssenkungen beeinflussen nur das kurzfristige Zinsniveau, die kurzfristige Liquidität. Die langfristigen Zinsen sind hingegen nach wie vor hoch, und daran orientiert sich ein Investor. Sie sind hoch, weil das konjunkturelle Risiko zu hoch ist - und das liegt am ökonomischen Missmanagement der Regierung Bush.
Joseph E. Stiglitz
Joseph E. Stiglitz (59) lehrt seit dem Wintersemester 2001 an der Columbia School of Economics in New York das Fach Volkswirtschaft. Bis zum Februar 2000 war der Wissenschaftler Chefvolkswirt der Weltbank in Washington. In dieser Funktion war er mehrmals mit deren Schwesterorganisation, dem Internationalen Währungsfonds (IWF), aneinandergeraten. So warf Stiglitz dem IWF vor, dass freier Welthandel zwar im Prinzip eine gute Sache sei, diese aber vom Fonds schlecht umgesetzt und auf dem Rücken der Dritten Welt ausgetragen werde. Stiglitz begann seine akademische Karriere beim Massachusetts Institute of Technology (MIT), anschließend erhielt er Lehraufträge an den renommierten Universitäten in Yale, Princton und zuletzt in Stanford. Von 1995 bis 1997 war Stiglitz Chairman des Council of Economic Advisers von Präsident Bill Clinton.usa.
www.welt.de/daten/2001/10/01/1001wi285721.htx
"Bushs Steuersenkungen werden nicht helfen"
US-Ökonom Stiglitz: Konsumenten sparen das Geld nur. Starke Entlastung der Unternehmen sinnvoller
New York - Die Weltwirtschaft wird nach den Terroranschlägen vom 11. September in eine Rezession gleiten. Dies erwarten nicht nur die Chefvolkswirte der großen Wall-Street-Häuser; auch der Internationale Währungsfonds (IWF) sagt, die globale Wirtschaft stehe am Rande einer Rezession. Besonders deutlich würden die Auswirkungen der Krise in den USA, aber auch in Europa zu Tage treten. Für Deutschland korrigierte der IWF seine Wachstumsprognose für 2001 von 1,9 auf 0,8 Prozent nach unten. Der ebenso renommierte wie umstrittene US-Ökonom Joseph Stiglitz glaubt, dass sich Amerika bereits mitten in einer Rezession befindet. Mit Stiglitz sprach Martin Halusa.
DIE WELT: Professor Stiglitz, wie definieren Sie eine Rezession?
Joseph Stiglitz: So wie meine Kollegen auch: zwei Quartale in Folge mit negativem Wachstum.
DIE WELT: Befinden sich die USA in einer Rezession?
Stiglitz: Die Frage sollte nicht lauten: Gibt es eine Rezession oder nicht? Sondern: Inwieweit läuft der Konjunkturmotor unterhalb seiner Möglichkeiten. Wenn das Potenzial der Wirtschaft bei einer Wachstumsrate von zwei bis 2,5 Prozent liegt und man auf minus 0,5 Prozent rutscht, rangiert man höchstens drei Prozent unter seinen Möglichkeiten. Derzeit liegt das Potenzial der amerikanischen Wirtschaft aber zwischen 3,5 und 4,5 Prozent. Wenn das Wachstum dann auf null fällt, beträgt die Differenz schon mindestens 3,5 Prozent. Und das ist eine Menge.
DIE WELT: Wie hat sich die Lage der US-Wirtschaft durch die Anschläge am 11. September verändert?
Stiglitz: Die wirtschaftliche Talfahrt in den USA wird sich durch die Attentate beschleunigen. Vor dem 11. September sah es aus, als stünden die Aussichten auf eine Rezession 50 zu 50. Doch nun stecken wir mitten in einer Rezession - das Wachstum ist jetzt negativ.
DIE WELT: Wie wird sich das konkret auf die Industrie und die Bevölkerung auswirken?
Stiglitz: Die Angriffe haben die Situation in einer ganzen Reihe von Punkten verschlechtert: Die Verunsicherung hat deutlich zugenommen; einige Branchen - die Luftfahrt, der Tourismus - sind sehr stark betroffen; die Neigung der Anleger, Geld zu investieren, nimmt ab; das Vertrauen der Verbraucher ist erschüttert; die Börse ist gefallen - all dies führt zu weniger Gesamtverbrauch. Und genau der anhaltende Konsum der Verbraucher war es, der die Wirtschaft in den vergangenen sechs Monaten am Leben gehalten hat. Nun versiegt auch diese Quelle des Wachstums.
DIE WELT: Was kann die Regierung tun, um die Konjunktur wieder auf Trab zu bringen?
Stiglitz: Es gibt ein paar ganz offensichtliche Möglichkeiten wie etwa eine Lockerung der Geldpolitik. Die Zinspolitik ist allerdings weitaus effektiver, wenn es darum geht, einen Boom zu dämpfen. Sie ist lange nicht so erfolgreich, eine wirtschaftliche Talfahrt aufzuhalten oder den Trend sogar umzukehren. Die relativ aggressiven Zinsschritte der Federal Reserve haben nicht gewirkt - die acht Zinssenkungen Alan Greenspans seit Januar haben geholfen, aber das Problem nicht gelöst.
DIE WELT: Was schlagen Sie vor?
Stiglitz: Wir müssen uns dem zweiten Instrument zur Bekämpfung einer Talfahrt zuwenden: der Fiskalpolitik. Wir haben im vergangenen Jahrzehnt allerdings gelernt, dass man mit der Steuerpolitik äußerst vorsichtig umgehen muss. Wenn Steuererleichterungen schlecht überlegt sind, können sie zwar gut aussehen, aber fatale Folgen haben. Die Steuersenkungen in Japan haben beispielsweise nicht funktioniert. Auch die Steuerkürzungen von Präsident George W. Bush werden nicht dazu führen, aus den Schwierigkeiten herauszukommen. Im Gegenteil: Vielleicht schaden sie der Entwicklung sogar. Denn die Verbraucher werden das Geld nun nicht mehr ausgeben, das sie durch Gutschriften oder - später - niedrigere Steuern mehr in ihrem Geldbeutel haben.
DIE WELT: Die Geldpolitik reicht nicht, die Fiskalpolitik nicht. Was denn dann?
Stiglitz: Die Steuersenkung wie Bush sie vorschlägt, war nicht dafür geeignet, die Konjunktur zu stimulieren. Es gibt andere Formen der Fiskalpolitik, die für die Belebung der Wirtschaft weitaus besser funktionieren könnten.
DIE WELT: Welche?
Stiglitz: Die Steuern auf Investitionen könnten zum Beispiel gesenkt werden - das hat in den USA schon während der sechziger Jahre zu einer Belebung geführt; auch Präsident Bill Clinton hatte 1993 eine ähnliche Steuererleichterung ins Spiel gebracht. Auch könnten die Ausgaben für die öffentliche Infrastruktur erhöht werden - ich denke an die Flughäfen oder das Ausbildungssystem. Dies würde die Wirtschaft stimulieren und langfristig unser Wachstum verbessern. Unsere Flughäfen sind altmodisch, die Flugsicherung technisch überholt. Es gibt eine verzweifelte Nachfrage nach staatlichen Investitionen, sowohl kurzfristig als auch langfristig. Doch das alles verkümmert unter der Regierung Bush.
DIE WELT: Sind nun - angesichts einer Rezession und eines Konfliktes - all die Zahlen über jahrelange Haushaltsüberschüsse Makulatur?
Stiglitz: Alle Voraussagen, die man heute trifft, basieren auf fundamentalen Unsicherheiten. Die Angst ist sehr hoch, dass es einen weiteren Angriff geben wird. Wenn es keine neuen Attentate gibt und wenn ein Krieg nicht eskaliert, dann gleiten die USA in eine Rezession, die so ähnlich oder schlimmer sein wird wie die Abkühlung nach dem Zweiten Weltkrieg. In einem oder zwei Jahren werden wir uns dann aber wieder erholt haben. Was geschieht, wenn sich der Konflikt ausweitet oder über Jahre hinzieht, kann kaum vorhergesagt werden. Die Überschüsse im Haushalt werden auf jeden Fall weitaus geringer sein als früher angenommen. Die Schätzungen waren schon vorher höchst unzuverlässig und buchhalterisch zweifelhaft.
DIE WELT: Die Zahlen stammen aber nicht von Bush, sondern der Vorgängerregierung . . .
Stiglitz: Die Prognosen, auf denen die Steuersenkungen basieren, stammen von Bush. Zahlen über Haushaltsüberschüsse sind immer hoch spekulativ. Deshalb überrascht es niemanden, wenn die Zahlen nach oben oder unten gehen. Das ist immer so, wenn Entscheidungen auf Etatüberschüssen basieren, die erst im Verlauf der kommenden zehn Jahre eintreten sollen. Die entscheidende Frage ist, ob Geld ausgegeben werden sollte, bevor es verdient worden ist. Das ist, was George W. Bush gemacht hat. Es geht nicht darum, ob die Zahlen verlässlich sind. Sondern es geht darum, dass Bush so tut, als könne man auf die Zahlen bauen. Und dies nenne ich einen Akt von extremer Verantwortungslosigkeit.
DIE WELT: Warum sind die Zinssenkungen Alan Greenspans bislang ohne nennenswerte Wirkung verpufft?
Stiglitz: Die Zinssenkungen beeinflussen nur das kurzfristige Zinsniveau, die kurzfristige Liquidität. Die langfristigen Zinsen sind hingegen nach wie vor hoch, und daran orientiert sich ein Investor. Sie sind hoch, weil das konjunkturelle Risiko zu hoch ist - und das liegt am ökonomischen Missmanagement der Regierung Bush.
Joseph E. Stiglitz
Joseph E. Stiglitz (59) lehrt seit dem Wintersemester 2001 an der Columbia School of Economics in New York das Fach Volkswirtschaft. Bis zum Februar 2000 war der Wissenschaftler Chefvolkswirt der Weltbank in Washington. In dieser Funktion war er mehrmals mit deren Schwesterorganisation, dem Internationalen Währungsfonds (IWF), aneinandergeraten. So warf Stiglitz dem IWF vor, dass freier Welthandel zwar im Prinzip eine gute Sache sei, diese aber vom Fonds schlecht umgesetzt und auf dem Rücken der Dritten Welt ausgetragen werde. Stiglitz begann seine akademische Karriere beim Massachusetts Institute of Technology (MIT), anschließend erhielt er Lehraufträge an den renommierten Universitäten in Yale, Princton und zuletzt in Stanford. Von 1995 bis 1997 war Stiglitz Chairman des Council of Economic Advisers von Präsident Bill Clinton.usa.
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