Nr. 2, 19. Januar 2001
Zbigniew Brzezinskis Buch «Die einzige Weltmacht»
US-Hegemonie
Als seinerzeitiger Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter und heutiger Profes-
sor für internationale Politik an der John-Hopkins-Universität in Baltimore kommt Brze-
zinski eine entscheidende Rolle in der strategischen Planung der US-Aussenpolitik zu.
Seine Lagebeurteilung, seine für die USA formulierten Zielsetzungen sind in einem
Buch niedergelegt, das bislang zuwenig beachtet wurde. Deshalb veröffentlicht die
«Schweizerzeit» heute einige Schlüsselaussagen aus diesem wichtigen Buch.
Brzezinski geht davon aus, dass, wer die Weltherrschaft erreichen will, zwei Schlüsselpositio-
nen unter seine Kontrolle bringen muss: Eurasien und Fernost. Unter Eurasien versteht er Eu-
ropa inklusive der europäischen Gebiete Russlands, inklusive Balkan und Kaukasus. Als fern-
östliche Schlüsselregion bezeichnet er die an das Bengalische und Südchinesische Meer an-
grenzenden Staaten von Indien über Pakistan, Burma, Thailand, Kambodscha, Laos, Vietnam,
Malaysia, Indonesien, Philippinen, China, Taiwan, Korea und Japan. Wer in diesen Regionen
seinen Einfluss durchsetzen kann, beherrscht die Welt. Die «Schweizerzeit» konzentriert sich
auf die Aussagen Brzezinskis zu Eurasien.
Schachbrett Eurasien
Amerikas geopolitischer Hauptgewinn ist Eurasien. Ein halbes Jahrtausend lang haben euro-
päische und asiatische Mächte und Völker in dem Ringen um die regionale Vorherrschaft und
dem Streben nach Weltmacht die Weltgeschichte bestimmt. Nun gibt dort eine nichteurasische
Macht den Ton an - und der Fortbestand der globalen Vormachtstellung Amerikas hängt unmit-
telbar davon ab, wie lange und wie effektiv es sich in Eurasien behaupten kann.
Auch diese politische Konstellation ist natürlich von begrenzter Dauer. Wie lange sie bestehen
und was auf sie folgen wird, ist nicht nur für Amerikas Wohlergehen, sondern auch für den in-
ternationalen Frieden von entscheidender Bedeutung. Das plötzliche Hervortreten der ersten
und einzigen Weltmacht hat eine Lage geschaffen, in der ein abruptes Ende ihrer Vorherrschaft -
sei es, weil sich die USA aus der Weltpolitik zurückziehen, sei es, weil plötzlich ein erfolgrei-
cher Gegner auftaucht - erhebliche internationale Instabilität auslösen würde. Die Folge wäre
weltweite Anarchie (S. 53).
Schlüsselposition
Eurasien ist der grösste Kontinent der Erde und geopolitisch axial. Eine Macht, die Eurasien
beherrscht, würde über zwei der drei höchstentwickelten und wirtschaftlich produktivsten Re-
gionen der Erde gebieten. Ein Blick auf die Landkarte genügt, um zu erkennen, dass die Kon-
trolle über Eurasien fast automatisch die über Afrika nach sich zöge und damit die westliche
Hemisphäre und Ozeanien gegenüber dem zentralen Kontinent der Erde geopolitisch in eine
Randlage brächte. Nahezu 75 Prozent der Weltbevölkerung leben in Eurasien, und in seinem
Boden wie auch seinen Unternehmen steckt der grösste Teil des materiellen Reichtums der
Welt. Eurasien stellt 60 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts und ungefähr drei Viertel
der weltweit bekannten Energievorkommen.
Eurasien beherbergt auch die meisten der politisch massgeblichen und dynamischen Staaten.
Die nach den USA sechs grössten Wirtschaftsnationen mit den höchsten Rüstungsausgaben
liegen in Europa und Asien. Mit einer Ausnahme sind sämtliche Atommächte und alle Staaten,
die über heimliche Nuklearwaffenpotentiale verfügen, in Eurasien zu Hause. Die beiden bevölke-
rungsreichsten Anwärter auf regionale Vormachtstellung und weltweiten Einfluss sind in Eura-
sien ansässig. Amerikas potentielle Herausforderer auf politischem und/oder wirtschaftlichem
Gebiet sind ausnahmslos eurasische Staaten. Als Ganzes genommen stellt das Machtpoten-
tial dieses Kontinents das der USA weit in den Schatten. Zum Glück für Amerika ist Eurasien
zu gross, um eine politische Einheit zu bilden.
Eurasien ist mithin das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft auch in Zu-
kunft ausgetragen wird (S. 54 und S. 57). Zwischen den westlichen und östlichen Randgebieten
dehnt sich ein gewaltiger, dünnbesiedelter, derzeit politisch instabiler und in organisatorischer
Auflösung begriffener mittlerer Raum (Russland, Osteuropa, Balkan), der früher von einem mäch-
tigen Konkurrenten der USA okkupiert wurde - einem Gegner, der sich einst dem Ziel verschrie-
ben hatte, Amerika aus Eurasien herauszudrängen. Südlich von diesem grossen zentraleurasi-
schen Plateau liegt eine politisch anarchische, aber an Energievorräten reiche Region (Kauka-
sus), die sowohl für die europäischen als auch die ostasiatischen Staaten sehr wichtig werden
könnte und die im äussersten Süden einen bevölkerungsreichen Staat (Indien) aufweist, der re-
gionale Hegemonie anstrebt. Dieses riesige, merkwürdig geformte eurasische Schachbrett - das
sich von Lissabon bis Wladiwostok erstreckt - ist der Schauplatz des «global play» (S. 57/58).
Nato als Hauptinstrument
Die Nordatlantische Allianz (Nato) bindet die produktivsten und einflussreichsten Staaten Euro-
pas an Amerika und verleiht den Vereinigten Staaten selbst in innereuropäischen Angelegen-
heiten eine wichtige Stimme. Die bilateralen politischen und militärischen Beziehungen binden
die bedeutendste Wirtschaftsmacht Asiens an die USA, wobei Japan (zumindest vorerst) im
Grunde genommen ein amerikanisches Protektorat bleibt. Darüber hinaus ist Amerika an den
im Entstehen begriffenen transpazifischen multilateralen Organisationen, wie dem Forum für
asiatisch-pazifische Wirtschaftskooperation (APEC), beteiligt und nimmt auf diesem Weg gros-
sen Einfluss auf die Belange dieser Region. Da die westliche Hemisphäre generell gegenüber
auswärtigen Einflüssen abgeschirmt ist, können die USA in den bestehenden multilateralen
Organisationen auf dem amerikanischen Kontinent die Hauptrolle spielen. Besondere Sicher-
heitsvorkehrungen im Persischen Golf, vor allem nach der kurzen Strafexpedition gegen den
Irak im Jahre 1991, haben diese wirtschaftlich vitale Region in ein amerikanisches Militärgebiet
verwandelt. Sogar der früher sowjetische Raum ist mit verschiedenen von Amerika finanziell ge-
förderten Abkommen zur engeren Zusammenarbeit mit der Nato, wie zum Beispiel der Partner-
schaft für den Frieden, verknüpft.
Weitere Instrumente
Als Teil des amerikanischen Systems muss ausserdem das weltweite Netz von Sonderorgani-
sationen, allen voran die internationalen Finanzinstitutionen, betrachtet werden. Offiziell vertre-
ten der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank globale Interessen und tragen
weltweit Verantwortung. In Wirklichkeit werden sie jedoch von den USA dominiert, die sie mit
der Konferenz von Bretton Woods im Jahre 1944 aus der Taufe hoben.
Vernetzung
Anders als frühere Imperien ist dieses gewaltige und komplexe globale System nicht hierarch-
isch organisiert. Amerika steht im Mittelpunkt eines ineinandergreifenden Universums, in dem
Macht durch dauerndes Verhandeln, im Dialog, durch Diffusion und in dem Streben nach offi-
ziellem Konsens ausgeübt wird, selbst wenn diese Macht letztlich von einer einzigen Quelle,
nämlich Washington, D.C., ausgeht. Das ist auch der Ort, wo sich der Machtpoker abspielt,
und zwar nach amerikanischen Regeln (S. 49-51).
Das Ziel: Einzige Weltmacht
Die geopolitische Frage lautet heute nicht mehr, von welchem Teil Eurasiens aus der ganze
Kontinent beherrscht werden kann, und auch nicht, ob Landmacht wichtiger als Seemacht ist.
In der Geopolitik geht es nicht mehr um regionale, sondern um globale Dimensionen, wobei ei-
ne Dominanz auf dem gesamten eurasischen Kontinent noch heute die Voraussetzung für glo-
bale Vormachtstellung ist.
Die Vereinigten Staaten, also eine aussereurasische Macht, geniessen nun internationalen Vor-
rang; ihre Truppen sind an drei Randgebieten des eurasischen Kontinents präsent, von wo aus
sie einen massiven Einfluss auf die im eurasischen Hinterland ansässigen Staaten ausüben.
Aber das weltweit wichtigste Spielfeld - Eurasien - ist der Ort, auf dem Amerika irgendwann ein
potentieller Nebenbuhler um die Weltmacht erwachsen könnte. Eine amerikanische Geostrate-
gie, die die geopolitischen Interessen der USA in Eurasien langfristig sichern soll, wird sich so-
mit als erstes auf die Hauptakteure konzentrieren und eine entsprechende Einschätzung des
Terrains vornehmen müssen.
Konkrete Massnahmen
Zwei grundlegende Schritte sind deshalb erforderlich:
- Erstens, die geostrategisch dynamischen Staaten Eurasiens auszumachen, die die interna-
tionale Kräfteverteilung möglicherweise entscheidend zu verändern imstande sind, sowie die
zentralen aussenpolitischen Ziele ihrer jeweiligen politischen Eliten zu entschlüsseln und die
sich daraus wahrscheinlich ergebenden politischen Konsequenzen zu antizipieren; des weite-
ren sind die geopolitisch kritischen eurasischen Staaten ins Auge zu fassen, die aufgrund ihrer
geographischen Lage und / oder ihrer blossen Existenz entweder auf die aktiveren geostrategi-
schen Akteure oder auf die regionalen Gegebenheiten wie Katalysatoren wirken.
- Zweitens, eine spezifische US-Politik zu formulieren, die in der Lage ist, die unter Punkt eins
skizzierten Verhältnisse auszubalancieren, mitzubestimmen und/oder unter Kontrolle zu bekom-
men, um unverzichtbare US-Interessen zu wahren und zu stärken und eine umfassende Geo-
strategie zu entwerfen, die auf globaler Ebene den Zusammenhang zwischen den einzelnen
Feldern der amerikanischen Politik herstellt.
Macht-Sicherung
Kurz, eurasische Geostrategie bedeutet für die Vereinigten Staaten den taktisch klugen und
entschlossenen Umgang mit geostrategisch dynamischen Staaten und den behutsamen Um-
gang mit geopolitisch katalytischen Staaten entsprechend dem Doppelinteresse Amerikas an
einer kurzfristigen Bewahrung seiner einzigartigen globalen Machtposition und an deren lang-
fristiger Umwandlung in eine zunehmend institutionalisierte weltweite Zusammenarbeit. Bedient
man sich einer Terminologie, die an das brutale Zeitalter der alten Weltreiche gemahnt, so lau-
ten die drei grossen Imperative imperialer Geostrategie: Absprachen zwischen den Vasallen
zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren, die tributpflichtigen
Staaten fügsam zu halten und zu schützen und dafür zu sorgen, dass die «Barbaren»völker
sich nicht zusammenschliessen (S. 64-66)