Wenn die USA hohe Wachstumszahlen liefern, jubeln die Börsianer. Aber Vorsicht: Im Vergleich zu Deutschland übertreibt die amerikanische Statistik die guten Seiten ihrer Ökonomie
Dennis J. Fixler sollte wissen, wie es wirklich um die Wirtschaft steht. Schließlich ist er der Chefstatistiker des Bureau of Economic Analysis (BEA), der volkswirtschaftlichen Abteilung des US-Handelsministeriums. In dieser Position ist er verantwortlich für die offiziellen US-Konjunkturdaten. Nach seinen neuesten Zahlen richten sich die Finanzmärkte der ganzen Welt. So wie am 30. Oktober 2003: Um 7,2 Prozent sei die US-Wirtschaft im dritten Quartal gewachsen, erklärte das Handelsministerium. Drei Wochen später legte Fixler überarbeitete Wachstumszahlen vor. Man habe sich geirrt, das Wachstum betrage sogar 8,2 Prozent. Die Börsianer jubelten, die Aktienkurse stiegen auf allen Kontinenten, und die Bush-Regierung, seit langem wegen ihrer Wirtschaftspolitik kritisiert, freute sich. Diesseits des Atlantiks wurden die US-Zahlen mit Staunen aufgenommen.
Solche Wachstumswerte erreichen sonst nur so genannte Schwellenländer. Chinas Bruttoinlandsprodukt steigt derzeit um jährlich acht Prozent; damit galt das Land bisher als Wachstumsweltmeister. Vor diesem Hintergrund wirkten die Wachstumszahlen aus den USA suspekt. Wäre es möglich, dass sich Fixler und seine Kollegen verrechnet haben? Nein; falsch sind ihre Berechnungen nicht. Aber mit den deutschen Wachstumswerten nicht vergleichbar, denn US-Statistiker arbeiten anders als ihre deutschen Kollegen.
Die amerikanische Volkswirtschaft scheint ungleich dynamischer als die deutsche. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist laut Statistik im dritten Quartal des vergangenen Jahres um gerade mal 0,2 Prozent gewachsen. Kümmerlich wirkt dieser Wert im Vergleich mit den amerikanischen 8,2 Prozent. Aber ganz so kümmerlich dann doch nicht, denn die Statistik lässt den Unterschied größer erscheinen, als er ist.
Deutsche schauen zurück, Amerikaner nach vorn
Beim Zusammenzählen arbeiten die Statistiker in Washington so wie die in Berlin: Im dortigen Bundeswirtschaftministerium ist Albert Caspers für die Konjunkturanalysen und -prognosen zuständig. Caspers und seine Kollegen rechnen jedes Quartal aus, wie viel Geld die privaten Haushalte, die Firmen und der Staat ausgeben. Dazu addieren sie den Wert aller Waren und Dienstleistungen, die im Inland produziert und anschließend im Ausland verkauft wurden. Den Wert der im Ausland produzierten und im Inland verkauften Güter ziehen sie ab. Mit dieser Rechnung erhalten sie das BIP – die Höhe der im Inland erzeugten Werte. Fixler und seine Kollegen in Washington verfahren genauso, aber mit den so gewonnenen Zahlen arbeiten sie anders als die Statistiker in Berlin.
Mr. Fixler schaut nach vorn, Herr Caspers zurück. Und beide sehen unterschiedliche Dinge, wenn sie den gleichen Sachverhalt betrachten. Das amerikanische BIP wuchs nämlich vom zweiten zum dritten Quartal nur um zwei Prozent. Nun ist Zurückblicken zwar gut und schön, wirklich interessiert aber die Zukunft. Darum annualisieren Fixler und seine Kollegen das Quartalswachstum von zwei Prozent, das heißt, sie berechnen das Wachstum für ein ganzes Jahr, basierend auf dem Quartalswachstum. Dabei kamen im Oktober die bekannten 8,2 Prozent heraus. Diese Zahl gibt an, wie die US-Wirtschaft innerhalb eines Jahres wachsen würde, falls das Wachstumstempo des betrachteten Quartals ein ganzes Jahr lang anhielte. Allein diese Hochrechnung schafft es in die Zeitungen und ins Fernsehen, nur sie wird von der amerikanischen Öffentlichkeit wahrgenommen.
Caspers hält die amerikanische Betrachtungsweise für durchaus sinnvoll, wenn eine Volkswirtschaft gleichmäßig wächst. Denn schließlich interessiere das Jahreswachstum mehr als das Quartalswachstum. Aber in Quartalen mit besonders hohen Ausschlägen nach oben oder unten entstehen durch die Fortschreibung der Quartalsraten stark verzerrte Wachstumsraten. Im dritten Quartal beispielsweise haben die amerikanischen Haushalte dem Konsum besonders hemmungslos gefrönt, verantwortlich dafür war eine Steuererleichterung der Regierung. Allein dieser Anstieg des privaten Konsums war für 5,6 Prozent Wachstum verantwortlich. Daher hält Norbert Braems, Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung bei der Kölner Privatbank Sal. Oppenheim, auch wenig von der annualisierten Rechnung in solchen Quartalen: „Die Annahme, dass diese Veränderung in den folgenden Quartalen fortgeschrieben wird, ist unsinnig.“
Auch bei der Betrachtung des Arbeitsmarktes steht Amerika im Vergleich zur Bundesrepublik glänzend da. Die US-Arbeitslosenquote im November 2003 betrug 5,9 Prozent, während die Sozialsysteme in Deutschland mit einer fast doppelt so hohen Rate von 10,5 Prozent kämpften. Unterschiede in Statistik und gesellschaftlicher Struktur führen allerdings zu US-Zahlen, die mit den deutschen genauso wenig vergleichbar sind wie die Zahlen zum Wirtschaftswachstum. Denn zur Feststellung der Arbeitslosenzahlen werden in beiden Ländern ebenfalls ganz unterschiedliche Methoden verwandt.
Die Arbeitslosenzahl, die der Chef der Bundesagentur für Arbeit jeden Monat bekannt gibt, ist die Zahl der bei den deutschen Arbeitsämtern arbeitslos Gemeldeten. Vergleichbare Meldezahlen können in den Vereinigten Staaten gar nicht erhoben werden, denn dort erhalten Arbeitslose nur sechs Monate lang Arbeitslosengeld. Nach dieser Zeit verlieren sie ihren Anspruch auf staatliche Unterstützung und werden aus der Statistik der amerikanischen Arbeitsverwaltung gestrichen. Viele US-Bürger ohne Arbeit melden sich zudem gar nicht erst arbeitslos; zum Teil aus Scham, aber auch, weil die Unterstützung vom Staat sehr niedrig ist.
Deshalb erfragt das amerikanische Bureau of Labor Statistics (BLS) die Arbeitslosenzahlen mit Hilfe einer Telefonumfrage. Dabei werden drei Fragen gestellt: Ob der Befragte ohne Arbeit ist, ob er in der Befragungswoche aktiv nach Arbeit gesucht hat und ob er innerhalb der darauf folgenden 14 Tage eine neue Stelle antreten könne. Nur wenn der Befragte alle drei Fragen mit ja beantwortet, also arbeitslos, suchend und verfügbar ist, wird er in der Statistik als arbeitslos geführt.
Es liegt auf der Hand, dass eine solche Befragung andere Arbeitslosenzahlen liefert als die Meldedaten von Behörden. In Deutschland existiert eine ähnliche Befragung, deren Ergebnisse eher als die Meldedaten der Arbeitsämter mit den amerikanischen Zahlen vergleichbar sind. Der Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes fragt ebenfalls den Erwerbsstatus der Teilnehmer ab und liefert Daten, die international vergleichbar sind. Denn sowohl die BLS-Umfrage als auch der Mikrozensus basieren auf den gleichen internationalen Vereinbarungen.
Weil der Mikrozensus Personen ohne Arbeit anders erfasst als die Bundesanstalt für Arbeit, werden Arbeitssuchende im Mikrozensus erwerbslos genannt und die bei den Arbeitsämtern Gemeldeten arbeitslos. Die Zahl der Erwerbslosen ist erheblich kleiner als die der Arbeitslosen: Im November 2003 meldete die Bundesanstalt für Arbeit eine Arbeitslosenquote von 10,5 Prozent. Das Statistische Bundesamt errechnete für den gleichen Zeitraum eine Erwerbslosenquote von 9,3 Prozent.
Wer nicht sucht, fliegt aus der Arbeitslosenstatistik
Der erhebliche Unterschied kommt zustande, weil viele Personen, die an der Umfrage teilnehmen, aufgrund ihrer Antworten nicht als erwerbslos registriert werden. Heraus fallen alle, die in der Woche, in der sie angerufen wurden, nicht aktiv gesucht haben. Aktive Suche bedeutet in diesem Fall, dass der Befragte Stellenanzeigen gelesen, Bewerbungen geschrieben oder Freunde und Verwandte zur Stellensuche eingespannt hat. In der Telefonumfrage sind nach Einschätzung von Ilona Mirtszhin, Arbeitsmarktexpertin bei der Bundesanstalt für Arbeit, die Antworten oft ehrlicher: „Bei der anonymen Befragung fällt es dem Einzelnen leichter als im persönlichen Gespräch mit dem Betreuer im Arbeitsamt zuzugeben, dass er gar nicht sucht.“
Als erwerbslos gilt ebenfalls nicht, wer im Telefongespräch angibt, dass er in der betreffenden Woche gearbeitet hat. Wer beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet ist, darf in der Woche bis zu 15 Stunden arbeiten, um sich etwas zum Arbeitslosengeld hinzuzuverdienen. In der Umfrage hingegen gelten nur solche Personen als erwerbslos, die überhaupt nicht arbeiten. Wer auch nur eine Stunde in der Woche arbeitet, gilt nicht mehr als erwerbslos. Dabei ist nicht relevant, ob der Befragte sich mit der Arbeit seinen Lebensunterhalt finanzieren kann. „Den Unterhaltsaspekt müssen wir hier außen vor lassen“, erklärt Rudolf Janke, Leiter der Gruppe Erwerbstätigkeit im Statistischen Bundesamt. „Auch der Student, der drei Stunden im Kaufhof jobbt, ist für uns erwerbstätig.“ Die Erwerbslosenzahlen dienen nach den Regeln der Statistiker eben nicht dazu, die soziale Realität abzubilden, sondern nur den Arbeitsmarkt. „Es geht um das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt“ erklärt Alois van Bastelard, Arbeitsmarktexperte bei Eurostat.
Aber selbst die deutsche Erwerbslosenzahl ist mit der amerikanischen nicht ganz vergleichbar, denn die internationalen Vorgaben für die Telefonumfragen bieten viel Spielraum für Interpretation. So werden in der US-Telefonbefragung Menschen nicht als erwerbslos gezählt, die hierzulande in der Statistik auftauchen würden. Die aktive Arbeitssuche beispielsweise wird in den USA restriktiver verstanden als hier: Stellenanzeigen lesen reicht dort nicht aus, um als aktiv Arbeit suchend zu gelten. Umfrageteilnehmer, die zwar Arbeit suchen, sich aber in der Woche der Befragung nicht aktiv um eine neue Stelle bemüht haben, fallen aus der Statistik heraus. Jene Befragten, die nicht mehr nach einer Stelle suchen, weil sie glauben, es gäbe sowieso keine Arbeit für sie, werden als so genannte discouraged workers klassifiziert und in einer gesonderten Statistik ausgewiesen. Die amerikanische Erwerbslosenrate würde um ein halbes Prozent steigen, wenn diese Resignierten zu den Arbeitslosen gerechnet würden. Befragte, die aus anderen Gründen nicht aktiv nach einer Stelle gesucht haben, gelten als so genannte passive job seekers und werden in keiner Arbeitsmarktstatistik geführt.
Ein weiterer Unterschied: Während in Deutschland sowohl in der Meldestatistik als auch im Mikrozensus Erwerbstätige ab 15 Jahren gezählt werden, klammern die Amerikaner die 15-Jährigen aus der Befragung aus. Constance Sorrentino, Volkswirtin im BLS, weist jedoch darauf hin, dass gerade unter den 15-Jährigen die Arbeitslosenrate überdurchschnittlich hoch ist.
Und: In Amerika sitzen viele Menschen im Gefängnis, die hierzulande vermutlich auf den Fluren der Arbeitsämter stünden. Die US-Soziologen Bruce Western und Katherine Beckett haben untersucht, wie stark das amerikanische Justizsystem die Arbeitslosenstatistik entlastet. Ihre Ergebnisse sind verblüffend. Bekanntlich sind die Amerikaner die Weltmeister im Einsperren. Während in Deutschland 1995 rund 64000 Menschen in Gefängnissen einsaßen, wurden in den Vereinigten Staaten rund 1,3 Millionen Menschen in Verwahrsam gehalten. Anders ausgedrückt: von 100.000 Deutschen saßen 1995 circa 80 im Gefängnis; von 100.000 Amerikanern rund 519. Wenn alle Gefängnisinsassen, die vor Antritt ihrer Gefängnisstrafe arbeitslos gemeldet waren, in der Arbeitslosenstatistik auftauchten, dann wäre die deutsche Arbeitslosenrate um 0,3 Prozentpunkte gestiegen. Die amerikanische hingegen hätte sich um 1,9 Prozentpunkte erhöht. Das galt 1995. Inzwischen sitzen rund 2,2 Millionen Amerikaner hinter Gittern.
Auch in der Bundesrepublik verschwinden Arbeitslose aus der Statistik, ohne eine Stelle zu finden. Peter Tergeist, Arbeitsmarktspezialist bei der OECD, weiß, wohin: „Erwerbsunfähigkeit, ABM, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, Renten, Gefängnis – es gibt wahnsinnig viele Möglichkeiten, Klientelgruppen zwischen den unterschiedlichen Statistiken hin- und herzuschieben.“
Statistiker in Washington und Berlin mögen ihre Zahlen unterschiedlich gewinnen und interpretieren, aber eines gilt in beiden Ländern: Wer die Statistiken liest, muss wissen, was dahinter steckt.
www.zeit.de/2004/07/G-Statistik
Dennis J. Fixler sollte wissen, wie es wirklich um die Wirtschaft steht. Schließlich ist er der Chefstatistiker des Bureau of Economic Analysis (BEA), der volkswirtschaftlichen Abteilung des US-Handelsministeriums. In dieser Position ist er verantwortlich für die offiziellen US-Konjunkturdaten. Nach seinen neuesten Zahlen richten sich die Finanzmärkte der ganzen Welt. So wie am 30. Oktober 2003: Um 7,2 Prozent sei die US-Wirtschaft im dritten Quartal gewachsen, erklärte das Handelsministerium. Drei Wochen später legte Fixler überarbeitete Wachstumszahlen vor. Man habe sich geirrt, das Wachstum betrage sogar 8,2 Prozent. Die Börsianer jubelten, die Aktienkurse stiegen auf allen Kontinenten, und die Bush-Regierung, seit langem wegen ihrer Wirtschaftspolitik kritisiert, freute sich. Diesseits des Atlantiks wurden die US-Zahlen mit Staunen aufgenommen.
Solche Wachstumswerte erreichen sonst nur so genannte Schwellenländer. Chinas Bruttoinlandsprodukt steigt derzeit um jährlich acht Prozent; damit galt das Land bisher als Wachstumsweltmeister. Vor diesem Hintergrund wirkten die Wachstumszahlen aus den USA suspekt. Wäre es möglich, dass sich Fixler und seine Kollegen verrechnet haben? Nein; falsch sind ihre Berechnungen nicht. Aber mit den deutschen Wachstumswerten nicht vergleichbar, denn US-Statistiker arbeiten anders als ihre deutschen Kollegen.
Die amerikanische Volkswirtschaft scheint ungleich dynamischer als die deutsche. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist laut Statistik im dritten Quartal des vergangenen Jahres um gerade mal 0,2 Prozent gewachsen. Kümmerlich wirkt dieser Wert im Vergleich mit den amerikanischen 8,2 Prozent. Aber ganz so kümmerlich dann doch nicht, denn die Statistik lässt den Unterschied größer erscheinen, als er ist.
Deutsche schauen zurück, Amerikaner nach vorn
Beim Zusammenzählen arbeiten die Statistiker in Washington so wie die in Berlin: Im dortigen Bundeswirtschaftministerium ist Albert Caspers für die Konjunkturanalysen und -prognosen zuständig. Caspers und seine Kollegen rechnen jedes Quartal aus, wie viel Geld die privaten Haushalte, die Firmen und der Staat ausgeben. Dazu addieren sie den Wert aller Waren und Dienstleistungen, die im Inland produziert und anschließend im Ausland verkauft wurden. Den Wert der im Ausland produzierten und im Inland verkauften Güter ziehen sie ab. Mit dieser Rechnung erhalten sie das BIP – die Höhe der im Inland erzeugten Werte. Fixler und seine Kollegen in Washington verfahren genauso, aber mit den so gewonnenen Zahlen arbeiten sie anders als die Statistiker in Berlin.
Mr. Fixler schaut nach vorn, Herr Caspers zurück. Und beide sehen unterschiedliche Dinge, wenn sie den gleichen Sachverhalt betrachten. Das amerikanische BIP wuchs nämlich vom zweiten zum dritten Quartal nur um zwei Prozent. Nun ist Zurückblicken zwar gut und schön, wirklich interessiert aber die Zukunft. Darum annualisieren Fixler und seine Kollegen das Quartalswachstum von zwei Prozent, das heißt, sie berechnen das Wachstum für ein ganzes Jahr, basierend auf dem Quartalswachstum. Dabei kamen im Oktober die bekannten 8,2 Prozent heraus. Diese Zahl gibt an, wie die US-Wirtschaft innerhalb eines Jahres wachsen würde, falls das Wachstumstempo des betrachteten Quartals ein ganzes Jahr lang anhielte. Allein diese Hochrechnung schafft es in die Zeitungen und ins Fernsehen, nur sie wird von der amerikanischen Öffentlichkeit wahrgenommen.
Caspers hält die amerikanische Betrachtungsweise für durchaus sinnvoll, wenn eine Volkswirtschaft gleichmäßig wächst. Denn schließlich interessiere das Jahreswachstum mehr als das Quartalswachstum. Aber in Quartalen mit besonders hohen Ausschlägen nach oben oder unten entstehen durch die Fortschreibung der Quartalsraten stark verzerrte Wachstumsraten. Im dritten Quartal beispielsweise haben die amerikanischen Haushalte dem Konsum besonders hemmungslos gefrönt, verantwortlich dafür war eine Steuererleichterung der Regierung. Allein dieser Anstieg des privaten Konsums war für 5,6 Prozent Wachstum verantwortlich. Daher hält Norbert Braems, Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung bei der Kölner Privatbank Sal. Oppenheim, auch wenig von der annualisierten Rechnung in solchen Quartalen: „Die Annahme, dass diese Veränderung in den folgenden Quartalen fortgeschrieben wird, ist unsinnig.“
Auch bei der Betrachtung des Arbeitsmarktes steht Amerika im Vergleich zur Bundesrepublik glänzend da. Die US-Arbeitslosenquote im November 2003 betrug 5,9 Prozent, während die Sozialsysteme in Deutschland mit einer fast doppelt so hohen Rate von 10,5 Prozent kämpften. Unterschiede in Statistik und gesellschaftlicher Struktur führen allerdings zu US-Zahlen, die mit den deutschen genauso wenig vergleichbar sind wie die Zahlen zum Wirtschaftswachstum. Denn zur Feststellung der Arbeitslosenzahlen werden in beiden Ländern ebenfalls ganz unterschiedliche Methoden verwandt.
Die Arbeitslosenzahl, die der Chef der Bundesagentur für Arbeit jeden Monat bekannt gibt, ist die Zahl der bei den deutschen Arbeitsämtern arbeitslos Gemeldeten. Vergleichbare Meldezahlen können in den Vereinigten Staaten gar nicht erhoben werden, denn dort erhalten Arbeitslose nur sechs Monate lang Arbeitslosengeld. Nach dieser Zeit verlieren sie ihren Anspruch auf staatliche Unterstützung und werden aus der Statistik der amerikanischen Arbeitsverwaltung gestrichen. Viele US-Bürger ohne Arbeit melden sich zudem gar nicht erst arbeitslos; zum Teil aus Scham, aber auch, weil die Unterstützung vom Staat sehr niedrig ist.
Deshalb erfragt das amerikanische Bureau of Labor Statistics (BLS) die Arbeitslosenzahlen mit Hilfe einer Telefonumfrage. Dabei werden drei Fragen gestellt: Ob der Befragte ohne Arbeit ist, ob er in der Befragungswoche aktiv nach Arbeit gesucht hat und ob er innerhalb der darauf folgenden 14 Tage eine neue Stelle antreten könne. Nur wenn der Befragte alle drei Fragen mit ja beantwortet, also arbeitslos, suchend und verfügbar ist, wird er in der Statistik als arbeitslos geführt.
Es liegt auf der Hand, dass eine solche Befragung andere Arbeitslosenzahlen liefert als die Meldedaten von Behörden. In Deutschland existiert eine ähnliche Befragung, deren Ergebnisse eher als die Meldedaten der Arbeitsämter mit den amerikanischen Zahlen vergleichbar sind. Der Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes fragt ebenfalls den Erwerbsstatus der Teilnehmer ab und liefert Daten, die international vergleichbar sind. Denn sowohl die BLS-Umfrage als auch der Mikrozensus basieren auf den gleichen internationalen Vereinbarungen.
Weil der Mikrozensus Personen ohne Arbeit anders erfasst als die Bundesanstalt für Arbeit, werden Arbeitssuchende im Mikrozensus erwerbslos genannt und die bei den Arbeitsämtern Gemeldeten arbeitslos. Die Zahl der Erwerbslosen ist erheblich kleiner als die der Arbeitslosen: Im November 2003 meldete die Bundesanstalt für Arbeit eine Arbeitslosenquote von 10,5 Prozent. Das Statistische Bundesamt errechnete für den gleichen Zeitraum eine Erwerbslosenquote von 9,3 Prozent.
Wer nicht sucht, fliegt aus der Arbeitslosenstatistik
Der erhebliche Unterschied kommt zustande, weil viele Personen, die an der Umfrage teilnehmen, aufgrund ihrer Antworten nicht als erwerbslos registriert werden. Heraus fallen alle, die in der Woche, in der sie angerufen wurden, nicht aktiv gesucht haben. Aktive Suche bedeutet in diesem Fall, dass der Befragte Stellenanzeigen gelesen, Bewerbungen geschrieben oder Freunde und Verwandte zur Stellensuche eingespannt hat. In der Telefonumfrage sind nach Einschätzung von Ilona Mirtszhin, Arbeitsmarktexpertin bei der Bundesanstalt für Arbeit, die Antworten oft ehrlicher: „Bei der anonymen Befragung fällt es dem Einzelnen leichter als im persönlichen Gespräch mit dem Betreuer im Arbeitsamt zuzugeben, dass er gar nicht sucht.“
Als erwerbslos gilt ebenfalls nicht, wer im Telefongespräch angibt, dass er in der betreffenden Woche gearbeitet hat. Wer beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet ist, darf in der Woche bis zu 15 Stunden arbeiten, um sich etwas zum Arbeitslosengeld hinzuzuverdienen. In der Umfrage hingegen gelten nur solche Personen als erwerbslos, die überhaupt nicht arbeiten. Wer auch nur eine Stunde in der Woche arbeitet, gilt nicht mehr als erwerbslos. Dabei ist nicht relevant, ob der Befragte sich mit der Arbeit seinen Lebensunterhalt finanzieren kann. „Den Unterhaltsaspekt müssen wir hier außen vor lassen“, erklärt Rudolf Janke, Leiter der Gruppe Erwerbstätigkeit im Statistischen Bundesamt. „Auch der Student, der drei Stunden im Kaufhof jobbt, ist für uns erwerbstätig.“ Die Erwerbslosenzahlen dienen nach den Regeln der Statistiker eben nicht dazu, die soziale Realität abzubilden, sondern nur den Arbeitsmarkt. „Es geht um das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt“ erklärt Alois van Bastelard, Arbeitsmarktexperte bei Eurostat.
Aber selbst die deutsche Erwerbslosenzahl ist mit der amerikanischen nicht ganz vergleichbar, denn die internationalen Vorgaben für die Telefonumfragen bieten viel Spielraum für Interpretation. So werden in der US-Telefonbefragung Menschen nicht als erwerbslos gezählt, die hierzulande in der Statistik auftauchen würden. Die aktive Arbeitssuche beispielsweise wird in den USA restriktiver verstanden als hier: Stellenanzeigen lesen reicht dort nicht aus, um als aktiv Arbeit suchend zu gelten. Umfrageteilnehmer, die zwar Arbeit suchen, sich aber in der Woche der Befragung nicht aktiv um eine neue Stelle bemüht haben, fallen aus der Statistik heraus. Jene Befragten, die nicht mehr nach einer Stelle suchen, weil sie glauben, es gäbe sowieso keine Arbeit für sie, werden als so genannte discouraged workers klassifiziert und in einer gesonderten Statistik ausgewiesen. Die amerikanische Erwerbslosenrate würde um ein halbes Prozent steigen, wenn diese Resignierten zu den Arbeitslosen gerechnet würden. Befragte, die aus anderen Gründen nicht aktiv nach einer Stelle gesucht haben, gelten als so genannte passive job seekers und werden in keiner Arbeitsmarktstatistik geführt.
Ein weiterer Unterschied: Während in Deutschland sowohl in der Meldestatistik als auch im Mikrozensus Erwerbstätige ab 15 Jahren gezählt werden, klammern die Amerikaner die 15-Jährigen aus der Befragung aus. Constance Sorrentino, Volkswirtin im BLS, weist jedoch darauf hin, dass gerade unter den 15-Jährigen die Arbeitslosenrate überdurchschnittlich hoch ist.
Und: In Amerika sitzen viele Menschen im Gefängnis, die hierzulande vermutlich auf den Fluren der Arbeitsämter stünden. Die US-Soziologen Bruce Western und Katherine Beckett haben untersucht, wie stark das amerikanische Justizsystem die Arbeitslosenstatistik entlastet. Ihre Ergebnisse sind verblüffend. Bekanntlich sind die Amerikaner die Weltmeister im Einsperren. Während in Deutschland 1995 rund 64000 Menschen in Gefängnissen einsaßen, wurden in den Vereinigten Staaten rund 1,3 Millionen Menschen in Verwahrsam gehalten. Anders ausgedrückt: von 100.000 Deutschen saßen 1995 circa 80 im Gefängnis; von 100.000 Amerikanern rund 519. Wenn alle Gefängnisinsassen, die vor Antritt ihrer Gefängnisstrafe arbeitslos gemeldet waren, in der Arbeitslosenstatistik auftauchten, dann wäre die deutsche Arbeitslosenrate um 0,3 Prozentpunkte gestiegen. Die amerikanische hingegen hätte sich um 1,9 Prozentpunkte erhöht. Das galt 1995. Inzwischen sitzen rund 2,2 Millionen Amerikaner hinter Gittern.
Auch in der Bundesrepublik verschwinden Arbeitslose aus der Statistik, ohne eine Stelle zu finden. Peter Tergeist, Arbeitsmarktspezialist bei der OECD, weiß, wohin: „Erwerbsunfähigkeit, ABM, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, Renten, Gefängnis – es gibt wahnsinnig viele Möglichkeiten, Klientelgruppen zwischen den unterschiedlichen Statistiken hin- und herzuschieben.“
Statistiker in Washington und Berlin mögen ihre Zahlen unterschiedlich gewinnen und interpretieren, aber eines gilt in beiden Ländern: Wer die Statistiken liest, muss wissen, was dahinter steckt.
www.zeit.de/2004/07/G-Statistik