Religion und Konflikt
- A. Williams -
Atheisten und Menschen, die der Missbrauch des Glaubens enttäuscht hat, behaupten, die Religion bringe nichts als Angst, Elend und Blutvergießen über die Menschheit. Eine solche Sichtweite widerspricht aber dem, was die religiösen Quellen propagieren. Heilige Bücher wie Koran, Bibel oder Thora erziehen den Menschen zu gutem Verhalten, indem sie ihn dazu anleiten, seinen freien Willen einzusetzen. Sie vermitteln ihm darüber hinaus eine Weltsicht, die ihn dabei unterstützt, in dieser und der kommenden Welt zum wahren Glück zu finden.
Da man die Religion nicht gleichzeitig für menschliches Elend verantwortlich machen und als Heilsbringer feiern kann, möchte ich mich in diesem Artikel der Frage widmen, welche dieser beiden Sichtweisen denn nun richtig ist. Zu den Beispielen, die immer dann zitiert werden, wenn belegt werden soll, welches Unheil von der Religion ausgeht, gehören die Verbreitung des Islam (vom 7. bis zum 16. Jhdt.), die Kreuzzüge und Europas ‚Religionskriege'. Auf den ersten Blick erscheint es vielleicht plausibel, diese Beispiele vorzubringen. Wer sich jedoch näher mit Konflikten wie diesen beschäftigt, wird feststellen, dass historische Informationen ein anderes Bild liefern. Ich möchte mich hier daher vor allem mit der historischen Perspektive des Problems befassen, gleichzeitig aber auch die theologische Perspektive nicht außer Acht lassen.
Zunächst zu den Heiligen Schriften: Der Koran duldet den Krieg nur zur Selbstverteidigung und zur Vorbeugung von Ungerechtigkeit und Aggression. Einen Menschen umzubringen verurteilt der Koran als genauso schlimm, wie die ganze Menschheit zu töten (5:32). Die so genannten ‚Religionskriege' des Frühislam waren allesamt reine Verteidigungskriege oder dienten dem Zweck, offensichtliche Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Die Gesamtzahl aller Menschen, die in den Schlachten, an denen der Prophet teilnahm, getötet wurden, liegt bei einigen Hundert. Der Ausdruck Heiliger Krieg als Übersetzung für das arabische Wort Dschihad ist irreführend. Denn Dschihad bezeichnet eigentlich den Kampf für die Sache Gottes. Der Krieg ist zwar eine Form dieses Kampfes, allerdings ist er - wie be-reits erwähnt - nur unter bestimmten klar definierten Umständen gestattet. Das Neue Testament empfiehlt den Opfern, den Angreifern mit Liebe zu begegnen und auf angemessene Art und Weise die Gerechtigkeit wiederherzustellen (Matthäus, 5; Lukas, 17:1-5). Im Alten Testament (Exodus, 20:13, Deuteronomion, 5:17) heißt es: "Du sollst nicht töten." Jede Art von Aggression, die nicht der Selbstverteidigung bzw. der Vorbeugung von Ungerechtig-keit gilt, ist also nicht durch die Religion legitimiert.
Die Behauptung, die Religion sei in der Geschichte der Menschheit die Hauptverantwortliche für Blutvergießen und Tod, ist aus historischer und statistischer Perspektive betrachtet falsch. Die meisten Opfer von Konflikten waren im Zwanzigsten Jahrhundert zu beklagen und stammten aus Kriegen, denen keine religiösen Konflikte zu Grunde lagen.1 Der Zweite Weltkrieg führt die Liste dieser Kriege mit 15 Millionen toten Soldaten und 25,5 Millionen toten Zivilisten an. Dem Ersten Weltkrieg fielen 9 Millionen Soldaten und 9,7 Millionen Zivilisten zum Opfer. Weitere Beispiele für Menschen verachtende Konflikte des 20. Jhdts. sind der russische Bürgerkrieg und der Krieg zwischen Russland und Polen (1917-1921: 2 Mio. Soldaten, 7 Mio. Zivilisten), der Koreakrieg (1950-1953: 2 Mio. Solda-ten und 8 Mio. Zivilisten), der Indochina und der Vietnamkrieg (1945-1973: 1,3 Mio. Soldaten und 1,4 Mio. Zivilisten), der Krieg zwischen Japan und China (1937-1941: 1 Mio. Soldaten und 1 Mio. Zivilisten) sowie der Afghanistan Konflikt (1979-1989: 1/2 Mio. Soldaten und 1 Mio. Zivilisten).2 Diese Kriege und Konflikte, die für die meisten Opfer in der Geschichte der Menschheit verantwortlich sind, lassen sich keinen religiösen Interessen zuordnen.
Während man über die Motive bestimmter Kriege und anderer aggressiver Akte durchaus diskutieren kann, steht es völlig außer Frage, dass Atheisten, Faschisten und andere nicht-religiöse Regimes wie das deutsche vor 1945 und das sowjeti-sche Verbrechen an ihren Nachbarn und ihren Bürgern begangen haben, die beispiellos in der Geschichte sind. Walter Laqueur bemerkt dazu Folgendes: "Eines der Hauptmerkmale der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts war der interne Terror, die hohe Anzahl an ‚Feinden' und potenziellen Feinden, die interniert und hingerichtet wurden. Ein bemerkenswertes Beispiel für dieses Phänomen ist die Ära Lenins und Stalins in der Sowjetunion. Die Grausam-keiten, die unter Stalin begangen wurden, sind vollständig dokumentiert.3
Schenkt man den sehr konservativen Zahlen geheimer KGB-Archive Glauben, waren in der Zeit von 1934 bis 1950 insgesamt 510.307 bis 1.727.970 Sowjetbürger in Arbeitslagern interniert. Weitere 457.000 bis 1.145.000 Menschen mussten im glei-chen Zeitraum Zwangsarbeit in Straf-kolonien leisten. Generalmajor Anatoli Krayushkin, der Leiter der Archive des Ministeriums für Staatssicherheit, beziffert die Zahl der Verhaftungen in der Sowjet-union zwischen 1917 und 1990 auf 3.853.000 und die der vollstreckten Todesurteile auf 827.995. Offiziellen Quellen des Kommunistischen Geheimdienstes zufolge wurden zwischen 1937 und 1938 681.692 Menschen getötet. Außerdem starben zwischen 1934 und 1953 1.053.829 Menschen im Gulag (Hauptverwaltung des Straflagersystems). Hinzu kommen noch unter anderem die ca. 15.000 bis 20.000 polnischen Offiziere, die 1940 in Katyn (westlich von Smolensk) und in anderen Lagern umgebracht wurden und die Kasachen, die in den 1930er Jahren spurlos verschwanden (1.5-2 Millionen).
Diese Zahlen beruhen auf konservativen Schätzungen. Es gibt aber auch Wissenschafter, die die Gesamtzahl der Toten unter sowjetischer Herrschaft auf zwischen 10 und 20 Millionen schätzen. Alec Nove spricht von 11 Millionen Toten, die zwischen 1927 und 1937 Gewaltakten zum Opfer fielen. Stephen Wheatcroft, ein anderer Forscher mit Fachgebiet Sowjetunion spricht von 4-5 Millionen Toten.4
Während Stalin für seinen für seinen innersowjetischen Terror berüchtigt war, wurde Lenin als ein Visionär betrachtet, der von seinen Nachfolgern betrogen worden war. Ist diese Bewertung korrekt? Vor kurzem freigegebene sowjetische Dokumente sprechen eine andere Sprache. Im folgenden Brief beispielsweise wendet sich Lenin an einige seiner Gefährten mit der Bitte, bestimmte Leute an den Galgen zu bringen: "Genossen! Der Aufstand der fünf Kulak-Bezirke5 sollte erbarmungslos niedergeschlagen werden. Nicht weniger als einhundert wohl bekannte Kulaks sollen auf eine Art und Weise gehängt werden, dass die Menschen sie sehen können."6
1922 versuchte die sowjetische Führung alle Wertgegenstände der Russisch-Orthodoxen Kirche und ihrer Klöster zu konfiszieren, um sich dringend benötigtes Kapital zu beschaffen und die Macht der Kirche über die Bauern zu brechen. Lenin hoffte, dass die schreckliche Hungersnot, die in den Jahren 1921 und 1922 über Russland und die Ukraine hereinbrach, die Bauern gegen die Kirche aufbringen würde. In der Industriestadt Shuia schossen Soldaten um sich und töteten Zivilisten, die versuchten, ihre Kirche vor Plünderungen zu bewahren. Doch dieser Vorfall veranlasste das Politbüro lediglich, noch härter gegen die Kirchen vorzugehen. Als Lenin hiervon erfuhr, rief er die Mitglieder des Politbüros dazu auf, brutal mit ihrer Kampagne fortzufahren, denn die Zeit sei reif für eine solche Vorgehensweise:
"Gerade und nur jetzt, wo die Menschen in den vom Hunger betroffenen Regionen Menschenfleisch essen und Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Leichnamen die Straßen säumen, können wir die Konfiszierung von Kircheneigentum erbarmungslos und grausam vorantreiben (und sind darum auch dazu verpflichtet). Wir sichern uns mit dieser Maßnahme eine Summe von mehreren Hundert Millionen Goldrubel.
Ein weiser Philosoph, der sich mit der Kunst, einen Staat zu regieren, beschäftigte, gelangte zurecht zu der Auffassung, dass es manchmal nötig sei, brutal vorzugehen, wenn man bestimmte politische Ziele erreichen will. Diese Brutalitäten sind so wirksam und schnell wie möglich auszuführen, denn die Massen werden Grausamkeiten auf die Dauer nicht hinnehmen... Uns zu bekämpfen wird schwieriger, wenn wir den reaktionären Klerus jetzt und unter Ausnutzung der Hungersnot zügig und mit größter Härte in die Knie zwingen. Meine unmissverständliche Schlussfolgerung ist also, dass der Klerus entscheidend und erbarmungslos bekämpft werden muss. Sein Widerstand muss mit einer solchen Brutalität gebrochen werden, dass er unser Vorgehen noch jahrzehntelang in Erinnerung behalten wird."
In einem anderen Brief weist Lenin seine Gefährten an, die Feinde des Staates einzuschüchtern:
"An den Genossen Krestinsky:
Ich schlage vor, unverzüglich eine Kommission zu bilden (was zunächst geheim geschehen kann), die Maßnahmen für Notfälle (im Sinne Larins: Larin hat Recht) ausarbeiten soll. Mögliche Mitglieder wären du und Larin, Vladimirsky (oder Dzerzhinsky), Rykov oder vielleicht Miliutin.
Terrorakte müssen im Verborgenen und so schnell wie möglich vorbereitet werden. Am Dienstag werden wir entscheiden, ob dies durch das SNK (den Rat der Volks-kommissare) oder durch andere geschehen soll."9
Diese Briefe demonstrieren, dass Stalins interne ‚Säuberungskampagnen' der 1930er und 40er Jahre an Lenins Politik und Praxis anknüpften und nicht - wie viele behaupteten - einen Betrug an dessen hohen Idealen darstellten.
Liebe und Respekt für andere Menschen sind Grundprinzipien aller großen Religionen. In der Praxis wurden diese Prinzipien allerdings nicht immer beachtet. Aggressionen im Namen der Religion wurden lange Zeit strapaziert, um zu zeigen, dass die Religion Tyrannei und Elend mit sich bringe. Bestimmte Individuen, Organisationen, Staaten und Regime haben die Religion immer wieder dazu missbraucht, um das Leid, was sie selbst verursacht hatten, zu rechtfertigen. Das heißt jedoch nicht, dass die Religion wirklich für das Elend der Menschen verantwortlich gemacht werden darf. Nationalismus, ideologischer Extremismus oder einfach die Gier nach Macht und materiellem Reichtum haben unvergleichlich viel mehr Schaden angerichtet als die Religion. Dies beweisen Statistiken von Kriegen und innenpolitischem Terror.
Der Blick auf die Sowjetunion des 20. Jahrhunderts beweist, dass einige der schlimmsten Verbrechen im Namen der kommunistischen Ideologie verübt wurden. Hier richteten sie sich in erster Linie gegen das eigene Volk.
Das 20. Jahrhundert wurde zwar Zeuge beispielloser Fortschritte in Wissenschaft und Technik. Auf der anderen Seit sah es aber auch unvorstellbares Leid und Elend. Viele Verbrechen gegen die Menschenwürde wurden - dies belegen erst kürzlich freigegebene Statistiken und Unterlagen aus geheimen Archiven - von totalitären Staaten begangen. Es wäre daher naiv zu behaupten, die Religion sei für das schlimmste Blutvergießen der Geschichte und für die meisten Toten verantwortlich. Die Schuld an diesen Verbrechen liegt vielmehr bei rassistischen, atheistischen oder machtgierigen Regimen, nicht aber bei der Religion. Denn die Religion wurde den Menschen offenbart, um ihnen zu zeigen, wie sie ihren freien Willen richtig einsetzen, und sie zu wahrem Glück in dieser und der kommenden Welt zu führen.
Quelle:fontaene.de