Psychologie der Finanzmärkte

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Psychologie der Finanzmärkte

 
12.04.01 00:13
"Börse ist Leben im Zeitraffer" (Interview)  
 
Joachim Goldberg, Börsen-Psychologe und Devisenhändler, über die Irrationalität der Aktienkäufer, Faustregeln und die Disziplin der PC's  
 
Joachim Goldberg (44) beschäftigt sich seit Jahren als Devisenhändler bei der Deutschen Bank in Frankfurt (Main) mit der Psychologie der Finanzmärkte. Der gelernte Bankfachwirt und Autor, seit 1983 für die Technische Analyse der Deutschen Bank verantwortlich, gilt als profunder Kenner der verhaltensorientierten Kapitalmarkttheorie, der so genannten Behavioral Finance. Goldberg prüft die Erkenntnisse dieser in den USA populären Wissenschaft auf ihre Tauglichkeit, vorzugsweise im Computer-Handel.


Herr Goldberg, was bewegt die Börse: Ist es das rationale Kalkül der Investoren oder ist es die Gier?

Die Kurse werden nicht von absolut rational handelnden Menschen bewegt. Das ist ein Irrglaube. Der Homo Oeconomicus, dieser leblose Modellmensch, der für die ökonomischen Theorie geschaffen wurde, existiert in der Realität nicht. Dieses Kunstwesen kennt keinen Neid, es will nicht spielen, und es braucht keinen Spaß. All das gehört aber zum Menschen dazu. Fantasie, Gier oder Hoffnungen beeinflussen unser Handeln an der Börse stärker als die traditionelle Ökonomie zulassen will. Eine aktuelle Studie aus den USA zeigt, dass 82 Prozent aller großen Bewegungen im amerikanischen Aktienindex Standard & Poor's auf monatlicher Basis ökonomisch nicht erklärt werden können.

Dann ist die Börse irrational?

Sie ist zumindest nur begrenzt rational. Bevor Menschen an den Markt gehen, geht es noch halbwegs rational zu. Aber sobald sie selbst engagiert sind, also Aktien gekauft haben, verändert sich die Welt. Die klassische Theorie behauptet, dass Markt-Anomalien automatisch verschwinden, weil die rationalen Akteure die irrationalen verdrängen. Nur: Weiß der perfekte Marktteilnehmer überhaupt, dass er rational ist? Das kann ja sehr teuer werden, wenn sich der Markt ganz anders verhält. Die Menschen wollen rational handeln, aber ihre Psyche macht ihnen einen Strich durch die Rechnung.

Inwiefern?

Menschen lassen sich anders als der Homo Oeconomicus von ihrer Vergangenheit beeinflussen. Sie bewerten zum Beispiel Verluste im Schnitt etwa doppelt so hoch wie Gewinne in gleicher Höhe. Das führt dazu, dass Aktien, die Verluste machen, viel zu lange im Depot gehalten und Gewinner viel zu früh verkauft werden. Eine Ursache hierfür ist zum Beispiel die so genannte kognitive Dissonanz. Sie entsteht, wenn ich etwas erlebe, das meiner Grundeinstellung widerspricht. Wenn eine Aktie in den Verlustbereich gerät, entspricht das nicht der Erwartung vom schnellen Gewinn. Folglich verarbeitet man die Enttäuschung, indem man seine Entscheidung aufwertet und nur noch positive Informationen über das betroffene Unternehmen registriert. Die Einführung des Euro war übrigens auch ein gutes Beispiel für kognitive Dissonanz.

Warum?

Der Euro wurde von so viel politischem Wohlwollen und verordnetem Optimismus begleitet, dass sich bei seiner Einführung keiner leisten konnte, keine Euros zu kaufen. Als der Kurs dann abbröckelte, mussten diejenigen, die den Euro wieder loswerden wollten, dies möglichst geräuschlos tun. Alles andere hätte ja gegen die Norm verstossen. Aber der Euro fiel immer weiter. Anfangs ließ sich das noch schön reden, und alle sprachen vom Aufwertungspotenzial. Das ist psychologisch einfach zu erklären: Wer Euro gekauft hat, wird nicht öffentlich sagen, dass der Euro weiter fällt. Sonst wäre seine Entscheidung ja Unsinn gewesen.

Aus ihrer Beschreibung lässt sich entnehmen, dass der Finanzmarkt nicht so perfekt funktioniert, wie Ökonomen glauben.

So ist es. Die These, dass im Marktpreis alle relevanten Informationen enthalten sind, ist widerlegt, weil die Anleger bevorzugt Informationen verarbeiten, die zu ihrem Wertesystem passen. Alle anderen Informationen werden oft verdrängt. Das führt dazu, dass der Markt zeitweise auf bestimmte Nachrichten nicht angemessen reagiert.

Funktioniert dieser Verdrängungsmechanismus auch bei professionellen Anlegern und Analysten?

Ja. Jeder ist davon betroffen: Die Experten verhalten sich so wie die Laien.

Hat der Rat der Experten dann überhaupt noch einen Wert?

Er hat nur dann wenig Wert, wenn der Experte selber engagiert ist.

Wie können Menschen unter Zeitdruck überhaupt komplexe Informationen verarbeiten?

Anhand von Faustregeln. So wie wir nach einer Faustregel ein Ei in die Pfanne schlagen, handeln wir manchmal auch an der Börse. Das so genannte Anchoring, das Festhalten an bestimmten Anker-Werten, ist so eine Börsen-Heuristik.

In welchen Situationen kommt sie zur Anwendung?

Bei Prognosen zum Beispiel. Da ist nicht entscheidend, ob eine Entwicklung, etwa die Erhöhung der Zinsen, gut für eine Aktie, oder für die Börse insgesamt ist. Wichtig ist meist nur, ob und wie weit die tatsächliche Erhöhung von der vorher bekannten Prognose, also dem am Markt gehandelten Anker-Wert, entfernt ist. Weichen beide Werte voneinander ab, reagiert der Markt entsprechend. So kann es passieren, dass eine an sich positive Entwicklung schlecht gemacht wird.

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Gerüchte?

Gerüchte spielen selbst in effizienten Märkten eine wichtige Rolle. Aber Gerüchte sind heute viel schneller als früher Gemeingut. Informationen werden heute immer schneller und komplexer verbreitet. Das veranlasst Menschen, zu vereinfachen, um dem Überangebot Herr zu werden.

Verhält sich so der typische Anleger?

Ja. Leicht verfügbare Informationen werden bevorzugt, genauso wie aktuelle, ortsnahe oder farbige Informationen. Deshalb werden zum Beispiel auch die Aktien heimischer Unternehmen bevorzugt, weil Anleger glauben, diese besser zu kennen. Die verhaltensorientierte Kapitalmarktanalyse bezeichnet dies als Verfügbarkeitsheuristik. Eine dritte wichtige Faustregel ist die Repräsentativitäts-Heuristik: Immer dann, wenn ich eine Information nicht auf Anhieb verstehe, versuche ich sie zuzuordnen. An der Börse funktioniert das so: Komplette ökonomische Szenarien werden im Vergleich zu Einzelinformationen bevorzugt und für wahrscheinlicher gehalten, weil sie logischer klingen und plausibel verknüpft sind.

Das alles passt nicht zu dem Bild des cleveren, informierten Anlegers, der ohne Mühe an der Börse reich wird. Überschätzen sich die Anleger selbst?

Das Problem der Faustregeln ist, dass sie zu systematischen Verzerrungen führen, je höher der Leistungsdruck des Anlegers oder Analysten ist. Für den Hausgebrauch reicht das aus, aber nicht, wenn es um Mark und Pfennig geht.

Was dann?

Wenn ich verstanden habe, dass etwas falsch läuft, kann ich etwas ändern. Wenn ich also als Anleger weiss, dass Verlustbringer üblicherweise zu lange im Depot gehalten werden, dann muss ich sie eben früher verkaufen. Verlust-Limits helfen bei der Entscheidung. Das, was ich verdienen will, sollte dabei ungefähr drei Mal mehr sein als das, was ich zu riskieren bereit bin. Dann müssen Anleger sich eingestehen, dass Verluste machen nichts Negatives ist. Es gehört an der Börse zum Alltag. Eine weitere Entscheidungshilfe ist die Abweichung von der Norm: Von dem, was gerade in Mode ist, sollte man sich fernhalten.

Das hört sich plausibel und einfach an. Warum machen Menschen an der Börse trotzdem immer wieder die gleichen Fehler?

Weil sie oft undiszipliniert sind. Sie überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten. Wenn ich aus der Psyche heraus argumentiere, dann interessieren mich nur die Kurse, zu denen ich eingestiegen bin. Fällt die Aktie, geht es mir nur darum, an die Startlinie zurückzukommen. Wenn der Markt dann aber richtig einbricht, werden die Verliererwerte weitergereicht, weil sie keiner mehr haben will. Dann kommt es zu Situationen, in denen die Verlierer unter sich bleiben, weil die Gewinner viel schneller aus dem Markt ausgestiegen sind.

Gefährlich für den, der auf hohem Niveau eingestiegen ist, weil die Kursgewinne so verlockend waren. Sollten Laien die Finger von Aktiengeschäften lassen?

Nein. Die Laien von heute sind ja eigentlich gut informiert, und sie haben die Spielregeln der Börse verstanden. Zu viel Wissen kann andererseits befangen und unflexibel machen. Die Börse ist Leben im Zeitraffer. Wer an der Börse teilnimmt, nimmt an diesem schnellen Leben Teil.

Sie verlassen sich als Devisenhändler auf computergestützte Handelsprogramme, die sie selbst entwickelt haben und die nicht in die Psycho-Falle tappen. Vertrauen Sie dem Rechner mehr als Ihrem Sachverstand?

Es ist mitunter sehr schwer auszuhalten, was der Computer macht, weil er manchmal scheinbar gegen den Markt und gegen meinen Instinkt handelt. Aber der Rechner blendet die Emotion aus, er steht nicht unter sozialem Druck, muss frühere Entscheidungen nicht rechtfertigen oder beschönigen. Der Computer handelt diszipliniert.

Die Wiedergeburt des Homo Oeconomicus im PC?

Wenn man so will. Ich vertraue den Regeln, die ich am Markt getestet habe, die der Markt aber nicht wirklich streng befolgt. Die Abweichungen von der Rationalität sind systematisch das nutzt der Computer aus.

Und das zahlt sich langfristig auch aus?

Ja, das kann sich sehen lassen. Weil die Maschine Verluste häufiger und schneller realisiert, sind sie insgesamt kleiner als die eines Händlers, der zu lange an seinen Positionen festhält. Und die Gewinne laufen.

Dürfen Erwartungen so hoch belohnt werden, wie dies zurzeit an der Börse geschieht?

Ja. Fantasie und Optimismus haben die Menschen schon immer bewegt. Die Leute kaufen ja auch Lottoscheine., obwohl sie wissen, dass die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen minimal ist. Wichtig ist der Traum, den sie 48 Stunden lang träumen können: Ohne Mühe reich zu werden

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