07.02.2001 - 15.05 Druckversion
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Börse gewährt Einblick in Xetra-Orderbuch
Die Frankfurter Börse will Privatanlegern bessere Informationen über das Marktgeschehen geben. Trotzdem können die Profis noch tricksen.
Wochenlang sammelte Christoph Möller* Fakten über seinen Geheimtipp Advanced Vision Technology. Er studierte die Bilanz und nahm die Produkte des Unternehmens unter die Lupe. Als die Aktie monatelang fällt, juckt es Möller in den Fingern: „Ich fand den Haken nicht, eine wahre Perle.“ Im November 2000 fiel der Kurs fast auf vier Euro – schließlich kaufte Möller das Papier.
Glaubte er. Doch als der Kurs kurz danach auf mehr als sieben Euro kletterte, blieb Möllers Depot leer. Die gewünschten Aktien hat er nie bekommen. Ein Fehler der Bank, der Börse, der Wertpapierhändler? Keineswegs. Beim Kurs von 4,80 Euro platzierte Möller seinen Kaufauftrag im Xetra-Handel. Weil dort bei Aktien mit wenig Handelsumsatz, so genannten illiquiden oder marktengen Werten, die Preissprünge oft erheblich sind, begrenzte er sein Kaufgesuch per Limit auf fünf Euro. Ein eigentlich richtiger Schutzmechanismus, der Möller diesmal das Geschäft vermieste. Nicht nur er hielt die AVT-Aktie bei weniger als fünf Euro für billig: Viele stiegen ein, der Kurs zog schnell an. Verkaufswillige fanden bessere Preise als Möllers fünf Euro – die Aktie sprang von 4,80 gleich auf 5,40 Euro.
Einem Profihändler wäre das nicht passiert. Ein Blick ins Orderbuch von Xetra, dem elektronischen Handelssystem der Deutschen Börse, hätte gezeigt: Für fünf Euro bekomme ich die Aktie nicht mehr, ich muss 5,40 bezahlen. Diese nützlichen Informationen über das aktuelle Handelsgeschehen will die Deutsche Börse künftig auch Privatanlegern anbieten. Noch vor April soll eine Internetseite starten, auf der jeder ohne Zeitverzögerung die fünf besten Kauf- und Verkaufsgesuche („Geld- und Briefkurse“) zu allen Aktien sehen kann, die auf Xetra gehandelt werden. Das neue Angebot namens Xetra Live ermöglicht fundiertere Kaufentscheidungen. Garant für Börsenerfolg ist es nicht.
Blick auf den Trend. Das Orderbuch von Xetra listet sämtliche Kauf- und Verkaufsgesuche mit den gewünschten Stückzahlen auf. Professionelle Händler sehen so auch die „Tiefe des Marktes“ auf ihren Handelsschirmen, erkennen, wie sich Angebot und Nachfrage bei einer bestimmten Aktie zusammensetzen. Damit haben sie einen klaren Vorteil gegenüber Privatanlegern. Diese können meist nur den jüngsten Umsatzkurs einer Aktie einsehen. Das Xetra-Orderbuch hingegen erlaubt auch einen kleinen Blick in die Zukunft: Welche Preise werden aktuell für eine Aktie verlangt? Wie viele Stücke werden zu welchen Preisen zum Verkauf geboten? Welche Stückzahlen der Aktie sind für Kaufwillige überhaupt erhältlich? Wohin geht die Tendenz? Stehen auf der „Briefseite“ – also im Verkauf – gerade viele Posten in hohen Stückzahlen, könnten sich bei diesem Papier also Abgabedruck und somit fallende Kurse abzeichnen?
Die Antworten helfen Anlegern zum Beispiel bei der Entscheidung, welches Limit sie bei ihren Orders setzen, damit ein Kauf nicht an 0,10 Euro Geiz scheitert . „Schon die Information, wo die nächsten Stücke bei welchem Limit stehen, wäre für Private genauso nützlich wie für Profis“, meint Stefan Müller, Wertpapierhändler bei der Dresdner Bank. „Wir wollen Privatanlegern im Prinzip die gleichen Infos wie den Institutionellen zur Verfügung stellen“, sagt Frank Hartmann von der Börse. Die Geld- und Briefkurse, live im Internet, seien für „mündige Anleger“ gedacht, „die nicht unlimitert handeln und deshalb etwas mit den Infos aus dem Orderbuch anfangen können“.
Die fünf besten Kauf- und die fünf billigsten Verkaufsgesuche mit den zugehörigen Mengen wird es künftig zu jeder Aktie zu sehen geben – aber auch nicht mehr. Das professionelle Orderbuch ist meist erheblich „tiefer“, enthält also weit mehr als fünf Kauf- und Verkaufsgebote. Interessante Rückschlüsse könnten sich auch aus den Orders auf Position sieben oder elf ergeben. Doch das ganze Orderbuch werden Privatanleger auch in Zukunft nicht zu sehen bekommen. Auch mit mehr Geld sei dies der Börse nicht zu entlocken, so Katja Strauch vom finnischen Onlinebanker EQ-Online. „Eine solche Datenmenge könnten die meisten Broker gar nicht verwalten“, glaubt dagegen Börsensprecher Hartmann, „das ist in erster Linie ein technisches Problem.“
Böse Überraschungen. Und technische Probleme sind so ziemlich das Letzte, was die Deutsche Börse derzeit braucht. Denn sie will Privatanleger für Xetra begeistern – vor allem mit Transparenz und niedrigen Gebühren. Sie hat damit Erfolg: 92 Prozent aller Aktien aus dem Dax werden mitterweile auf Xetra gehandelt. Auch die interessanten Nebenwerte aus Nemax 50 und MDax haben – nach anfänglichen Schwierigkeiten – ihren Weg zu Xetra gefunden: Binnen Jahresfrist stieg der Anteil der elektronischen Handelsplattform an den Nemax-50-Umsätzen von 34,3 Prozent auf mehr als 63 Prozent. Auch die Klassiker im MDax – Traditionswerte wie Klöckner, Hugo Boss oder Heidelberger Druck – wechseln heute zu 65 Prozent über Xetra den Besitzer. Vor einem Jahr waren es erst knapp 42 Prozent. Das bedeutet für Privatanleger flüssigen, schnellen Handel, reibungslose Abwicklung – und faire Preise.
Sollte man meinen. Denn die Gebühr von etwa drei Markt, wie sie die Börse von den Banken für die Orders der Privatkunden verlangt, kommt nicht immer eins zu eins beim Anleger an. Die Onlinebroker und Filialbanken entscheiden willkürlich, wie viel sie ihren Kunden abverlangen. Böse Überraschungen auf der Abrechnung kann schon mal erleben, wer eine größere Order ausdrücklich in Xetra ausführen lässt, um die im Parketthandel anfallende Maklercourtage einzusparen. Denn Xetra teilt den Auftrag in mehrere Teilausführungen, wenn nur für kleinere Kontingente ein passendes Gegengebot vorliegt . Fast alle Banken und Broker berechnen dann für jede Teilausführung die Provisionen, obwohl sie selbst von der Börse nur einmal zur Kasse gebeten werden.
Auch in Sachen Transparenz sollten Privatanleger sich durch die neu gewonnenen Einblicke nicht zu sehr in Sicherheit wiegen, meint Börsenmakler Stefan Müller. Profis, die es darauf anlegten, „das Orderbuch etwas anders aussehen zu lassen, als die Orderlage tatsächlich ist“, hätten nach wie vor Mittel und Wege, Privatanleger an der Nase herumzuführen.
Anleger, die in Xetra etwa erkennen wollten, ob sich bei einem Wert große Verkaufsorders ansammeln, um daraus auf die Gefahr fallender Kurse zu schließen, sitzen unter Umständen lange vor dem Xetra-Schirm, ohne dass dort das Treiben der Institutionellen sichtbar würde. Durch einen einfachen Griff vermeiden diese, größere Kaufwünsche oder den Verkauf riesiger Bestände im Orderbuch erkennen zu lassen. „Die Eisbergorder ist ein sicheres Instrument, in einer illiquiden Aktie unauffällig große Stückzahlen zu handeln“, erklärt Wertpapierhändler Müller, „und ist deshalb bei Institutionellen beliebt.“ Sie arbeitet den Verkauf großer Aktienpakete in handlichen, für den Markt leicht verdaulichen Tranchen ab, ohne dass der Händler permanent aktiv sein muss .
Wie beim Hütchenspieler. Häufig komplettieren die Profis ihre Eisbergorders durch einen Trick: Wenn sie eine größere Verkaufsorder als Eisberg ins System gestellt haben, platzieren sie dagegen Kauforders zu einem etwas niedrigeren Preis und in hohen Stückzahlen. Wertpapierhändler Müller: „Anziehende Kurse lassen sich leicht vortäuschen, wenn man ein paar übergroße Kauforders auf die Geldseite stellt. Da denken die Leute: ‚Hoppla, heute sind große Käufer unterwegs, da decken wir uns auch mal mit ein paar Stücken ein‘, und schon bin ich meinen Eisberg los.“ Dessen Sockel sehen weder Private noch Profis.
Ein anderer Kursmakler redet Klartext: „Da werden die Privaten verarscht wie beim Hütchenspieler.“ So habe ein bekannter Fondsmanager bei einem Börsengang einen besonders üppigen Batzen der zwei Millionen Aktien zugeteilt bekommen, weiß der Makler. Das Papier sorgte für ein kleines Kursfeuerwerk: Am ersten Handelstag kletterte die Aktie von 20 auf 50 Euro. Der Fondsmanager, der sich im Vorfeld mit Empfehlungen weit aus dem Fenster gelehnt hatte, wusste zu verhindern, dass der Kurs zumindest kurzfristig wieder fiel: „Der hat einfach einen Kaufauftrag über 500000 Stück zu 49 Euro ins System gestellt“, erzählt der Händler, „wohl wissend, dass die eh keiner hat. Wie soll da der Kurs noch weiter fallen?“
Weil die Händler eindeutig am längeren Hebel sitzen, geriet Xetra gleich nach seinem Start 1997 in die Kritik: Um die Maklercourtage zu sparen, stiegen viele Privatanleger auf Xetra um – ohne die Gefahren zu bedenken. Dort standen ihre Orders oft tagelang im System, ohne dass sie ausgeführt wurden, weil entsprechende Gegengebote fehlten. Änderte sich plötzlich der Kurs der Aktie, konnten Profihändler die veralteten Preiswünsche billig „abfischen“. Extreme Preisabweichungen vom Parketthandel – meist zu Lasten des Privatanlegers – waren die Folge.
Die Deutsche Börse hat reagiert und verhindert grobe Kursausrutscher. Hartmann: „Wir haben jetzt für jede Aktie einen Korridor, innerhalb dessen die Preise liegen müssen.“ Den Preisrahmen errechnet die Börse für jede Aktie und hält ihn geheim. „Wie breit der Korridor ist, hängt von der historischen Schwankungsanfälligkeit einer Aktie ab“, erklärt Hartmann. Deshalb bieten stark schwankende, kleine Aktien einen größeren Spielraum für Preiswünsche als etwa VW, die jeden Tag millionenfach den Besitzer wechseln.
Ein Kaufauftrag außerhalb des Korridors wird nicht gleich ins Orderbuch eingetragen. Ein Plausibilitätscheck veranlasst den Händler, das Gebot zu prüfen. „Falls jemand nach einem Kurssturz von 40 auf 20 Euro eine Verkaufsorder zu 30 aufgäbe, um damit eine veraltete Kauforder zu 30 zu bedienen, käme eigentlich auch ein Preis außerhalb des aktuellen Korridors zu Stande“, erklärt Hartmann. Jetzt wird der Handel unterbrochen und eine Auktion eingeleitet. Andere Händler können mitbieten, sodass der unfaire Preis fast immer verhindert wird. Trotz aller Verbesserungen stoße man aber als Kontrollorgan immer an Grenzen, meint Hartmann. „Sie können auch mit einer zweiten Ampel nicht verhindern, dass jemand bei rot drüberfährt.“
* Name geändert
STEFAN HAJE
Grüße aus dem
Ruhrpott