DIE ZEIT
Politik 46/2001
Helmut Kohl und der Aktenschwund
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Von alters her werden wichtige Dokumente zerrissen, verbrannt, zerstört. Doch die Löschaktion im Kanzleramt Kohl erreichte eine selbst für leidgeplagte Archivare unvorstellbare Qualität
von Hartmut Weber
Akten sind für manche Politiker allenfalls ein notwendiges Übel. Ihrer Geringschätzung verleihen sie sogar dadurch Ausdruck, dass sie es ablehnen, sich mit Akten überhaupt zu beschäftigen. Denn diese sind ihrer Meinung nach Papier gewordene Absicherungsstrategien und Ausdruck bürokratischer Arbeitsweisen. Der Archivar ist solche Einstellungen gewohnt, auch wenn er sich manchmal fragt, wie denn zum Beispiel die in vielen Reden geforderte deutsche Erinnerungskultur ohne die geschmähten Akten und Archive entstehen und gedeihen sollte.
Denn schließlich sind es meist Akten, die es uns, unabhängig von Zeit, Ort und Erinnerungsfähigkeit von Zeitzeugen, erlauben, dass wir uns mit der Vergangenheit auseinander setzen. Diese Akten liefern die Authentizität von Geschäfts- und Entscheidungsprozessen in Politik und Verwaltung. Trotzdem werden sie oft stiefmütterlich behandelt: Erst in feuchten Kellern oder auf verstaubten Dachböden wird entdeckt, was nach den archivgesetzlichen Vorschriften "Unterlagen von bleibendem Wert", also "Archivgut", sind. Manchmal wurden Dokumente auch einfach vernichtet, um Platz zu gewinnen. Im frühen 19. Jahrhundert wurde sogar ein Stadtarchivar in Süddeutschland von seinem Bürgermeister dazu angehalten, Archivgut als Altpapier zu verkaufen, um so sein Gehalt aufzubessern.
Allerdings kennen Archivare aller Epochen auch viele Beispiele bewusster und gezielter Vernichtung von Akten: von Dokumenten, deren Bedeutung und Nutzen man kannte. So hat man zum Beispiel in Kriegen versucht, den Gegner durch die Vernichtung seiner Urkunden und Akten, also seiner Besitztitel, zu schwächen. In Jugoslawien wurden Archive zerstört, um die Identität von Volksgruppen zu verwischen. Und bisweilen werden Dokumente auch aus einem sehr eigennützigen Grund vernichtet: Denn man schätzt sie nicht nur als Arbeits- und Informationsmittel, sondern fürchtet sie ebenso als Beweis für eigenes Fehlverhalten. So zog man es eher vor, die Akten zu zerstören, als sie dem Feind in die Hände fallen zu lassen. Auch gegen Ende des Zweiten Weltkriegs brannte so manche Registratur, die keineswegs von feindlichen Bomben getroffen wurde. Die Stasi setzte 1989 den Reißwolf ein, um ihr Erbe vor den neuen politischen Kräften zu verbergen.
Ein Fall der Aktenvernichtung allerdings erreicht eine für Archivare bislang unvorstellbare Qualität: der Schwund von Schriftstücken und elektronischen Daten im Kanzleramt von Helmut Kohl im Herbst 1998. Die Unionsparteien hatten die Wahl zum Bundestag verloren, und der Sozialdemokrat Gerhard Schröder sollte ins Bonner Kanzleramt einziehen. Eigentlich ist ein solcher Regierungswechsel in einer Demokratie der selbstverständliche Normalfall. Damals wurde er aber offenbar als eine "feindliche Übernahme" angesehen.
Nach den öffentlich bekannt gewordenen Teilen des Berichts der Kommission des Sonderermittlers Burkhard Hirsch sind in den letzten Tagen der Ära Helmut Kohl im Kanzleramt bewusst und koordiniert Textdateien von den Festplatten gelöscht und Vorgänge aus Akten ausgeheftet worden. Diese gelten nun teilweise als verschollen, teilweise wurden sie in anderen Akten, in die sie nicht gehören, wiedergefunden. Zudem: Einige wichtige Vorgänge oder Aktenbände, die aufgrund verschiedener Indizien eigentlich vorhanden sein müssten, bleiben unauffindbar. Verschwunden, so der Hirsch-Bericht, sind ebenso die Registraturhilfsmittel, die diese Vorgänge und ihre Archivierung nachweisen.
Jeder Archivar hat im Laufe seines Berufslebens leidvolle Erfahrungen mit der Verwaltung von Dokumenten gesammelt und weiß, dass Schriftstücke in den Registraturen oft nachlässig abgelegt werden. Falsch zugeordnete Vorgänge sind für ihn deshalb übliche Sünden. Auch stößt er bei den Angehörigen der Bundesverwaltung auf wenig Unrechtsbewusstsein, wenn sie beispielsweise Textdateien von den Platten ihrer Personal Computer löschen - auch wenn dies nicht im Einklang mit den Vorschriften des seit 1988 gültigen Bundesarchivgesetzes geschieht.
Allerdings durfte das Bundesarchiv bis zu besagtem Herbst 1998 gerade beim Einsatz von Textverarbeitung in der Leitungsebene oberster Bundesbehörden getrost unterstellen, dass ebendiese Dateien zu Schriftstücken verwandelt wurden. Und dass diese Schriftstücke in eher zu vielen als zu wenigen Exemplaren in den Akten wieder auftauchen. Wenn aber Akten bewusst vernichtet werden, wofür im Fall des Kanzleramts Kohl auch die Beseitigung der entsprechenden Nachweise in der Registratur spricht, ist das schlimm - und kurzsichtig.
Schlimm nicht nur, weil gerade mit dem Verlust von Akten einer solch exponierten Schaltstelle politischer Macht wohl der Forschung unersetzliche authentische Quellen entzogen werden. Schlimm ist diese Datenvernichtung vor allem, weil damit die erforderliche Transparenz und die rückblickende Kontrolle von Geschäfts- und Entscheidungsprozessen verhindert wird. Und kurzsichtig ist eine solche Tat, weil sich sofort die Frage stellt, warum die Daten und Dokumente verschwanden und wer daraus einen Vorteil gezogen haben könnte. Diese Fragen stellen sich insbesondere dort, wo die Quellen eben wegen ihrer Auslöschung den unterschiedlichsten Darstellungen von Vorgängen in der Vergangenheit und Behauptungen zu Sachverhalten nicht mehr widersprechen können. Die Folge: Allen möglichen Hypothesen und Spekulationen werden Tür und Tor geöffnet. Im Ergebnis schädigt die bewusste Beseitigung der Dokumentation von Regierungs- und Verwaltungshandeln also nicht in erster Linie Archive und Forschung, sondern den Rechtsstaat und seine Glaubwürdigkeit.
"Die parlamentarische Demokratie basiert auf dem Vertrauen des Volkes. Vertrauen ohne Transparenz, die erlaubt zu verfolgen, was politisch geschieht, ist nicht möglich." Dieser Grundsatz stammt aus einem im Jahre 1975 verkündeten Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Er markiert einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg vom Obrigkeitsstaat mit seinen Amtsgeheimnissen zu einem modernen demokratischen Rechtsstaat mit frei zugänglichen Informationen aus dem öffentlichen Bereich. Die Informationsfreiheitsgesetze einiger Bundesländer haben diesen Grundsatz auch in dieser Weise festgeschrieben, und die Ende der achtziger Jahre einsetzende Archivgesetzgebung hat diese Entwicklung zum Teil bereits vorweggenommen. So wurde es zur gesetzlichen Pflicht, archivwürdige Unterlagen zu sichern und zu schützen. Und der Zugang zu Archivgut wurde einklagbares Recht. Staatliches Handeln war damit nicht mehr nur für Parlament, Rechnungshöfe und Gerichte einsehbar, sondern auch für die Bürger. Außerdem: Wer von nun an in Regierung oder Verwaltung verantwortlich entschied, musste wissen, dass eines Tages jedermann in Akten schauen darf, die politische Entscheidungsprozesse dokumentieren und deutlich machen.
Der Zugang zu allen Informationen aus dem öffentlichen Bereich im Rahmen der archivgesetzlichen Vorschriften setzt aber eines voraus: dass die Akten von den öffentlichen Stellen ordnungsgemäß geführt werden und den Weg ins zuständige Archiv finden. Für die Führung der Akten im Kanzleramt der Ära Kohl hieß das: Es galten die Vorschriften des Allgemeinen Teils der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien in ihrer Fassung von 1996. Danach musste der Stand einer Sache jederzeit aus den Akten vollständig ersichtlich sein. Soweit Besprechungen, Ferngespräche oder andere aus den Akten nicht ersichtliche Faktoren Einfluss auf die Bearbeitung hatten, musste dies in entsprechenden Aktenvermerken festgehalten werden. Die Registraturrichtlinie als Anhang zur Gemeinsamen Geschäftsordnung trifft detaillierte Regelungen zur Organisation des Schriftguts mit dem Ziel ständiger Nachweisbarkeit und sicherer wie vollständiger Verwahrung der Dokumente, bevor sie in die Obhut des beim Bundesarchiv eingerichteten Zwischenarchivs gegeben werden.
Das Bundesverfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht haben diesen Grundsatz der erforderlichen ordnungsgemäßen Aktenführung immer wieder hervorgehoben. Im März 1988 sagten die Bundesverwaltungsrichter in aller Deutlichkeit: "Die Dokumentationsfunktion von Behördenakten soll nicht lediglich den Interessen der Beteiligten oder der entscheidenden Behörde dienen, sondern auch die Grundlage für die kontinuierliche Wahrnehmung der Rechts- und Fachaufsicht und für die parlamentarische Kontrolle des Verwaltungshandelns bilden." Überdies: Aus dem Bundesarchivgesetz von 1988 folgt, dass die Verfassungsorgane, Behörden, Gerichte und sonstigen Stellen des Bundes Unterlagen jedweder Art, die sie zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben nicht mehr benötigen, dem Bundesarchiv anzubieten und - falls dieses den bleibenden Wert feststellt - als Archivgut des Bundes zu übergeben haben. Umgekehrt heißt das: Die genannten Stellen dürfen Unterlagen nur vernichten, nachdem sie diese dem Bundesarchiv angeboten haben und das Bundesarchiv den bleibenden Wert dieser Unterlagen verneint hat. Unterlagen im Sinne dieser Regelung sind selbstverständlich auch elektronisch gespeicherte Daten.
Die Löschung von Daten und die Unterdrückung oder Vernichtung von Akten waren also auch im Herbst 1998 nicht in das Belieben von Politikern oder Beamten gestellt. Die Aktion im Kanzleramt verstieß gegen geltende Rechts- und Verwaltungsvorschriften. Dabei hilft es auch wenig, wie geschehen, bedauernd festzustellen, es sei nicht recht klar, was mit "öffentlichen Aufgaben", die die Verfassungsorgane, Behörden, Gerichte und sonstigen Stellen des Bundes erfüllen, gemeint sei. Denn nur die schriftliche Dokumentation dieser "öffentlichen Aufgaben" habe man dem Bundesarchiv anbieten müssen. Das Argument greift nicht: Untersucht man, welche Aufgaben diese Stellen denn außer den "öffentlichen" erfüllen, erkennt man schnell, dass dieses Adjektiv erläuternd und nicht einschränkend gemeint ist.
Die im Prinzip verlässliche Abgabepraxis von Registraturen der Ministerien und des Bundeskanzleramts an das Bundesarchiv hat sich auch unter Helmut Kohl nicht wesentlich geändert. Verschärft hat sich jedoch ein Problem, welches das Bundesarchiv schon bei früheren Bundesregierungen beklagt hatte: Vorgänge und Akten auch amtlichen Charakters verblieben im politischen Leitungsbereich und fanden selten den Weg in die Registraturen. Und einmal im Leitungsbereich, fanden diese Unterlagen auch nicht den Weg ins Bundesarchiv.
Gerade im Leitungsbereich oberster Bundesbehörden findet oft eine Vermischung öffentlicher Aufgaben mit anderen Pflichten statt: zum Beispiel mit dem Parteiamt, mit der Betreuung von Wahlkreisen, der Tätigkeit in Aufsichtsräten und anderen Gremien außerhalb des öffentlichen Dienstes. Vor allem Minister und Staatssekretäre haben mehrere Funktionen, die sie von ihrem Büro aus organisieren. Die Folge davon ist nicht, wie man meinen könnte, dass nun die "offiziellen" Akten, also die amtlichen Vorgänge, die in zentralen oder Abteilungsregistraturen der Ministerien aufbewahrt werden, mit anderem Material durchmischt werden. Die Folge ist: Die amtlichen Vorgänge kommen weder in die Registratur noch später ins Bundesarchiv. Sie bleiben nämlich bereits in den multifunktional organisierten Vorzimmerablagen hängen, das heißt dort, wo alles Material aus allen Tätigkeiten zusammenläuft. Dort stapeln sich also amtliche Vorgänge als Original oder als Kopie oder als Kopie mit Vermerken, die diese Kopie wiederum selbst zum Unikat werden lassen, gemeinsam mit Parteiakten, Wahlkreisakten, Akten aus Gremientätigkeiten oder persönlichen Aufzeichnungen zu öffentlichen Aufgaben.
Diese Ansammlung von Papieren gelangt weder in ihrer Gesamtheit noch fein säuberlich nach öffentlichen und nichtöffentlichen Unterlagen getrennt in die Registratur und später an das Bundesarchiv. Die Folge: Was auf politischer Leitungsebene passiert, bleibt allzu häufig undokumentiert. Überdies neigen offenbar Politiker aller Couleur dazu, "ihre" Akten als Privatbesitz zu betrachten. Ohne irgend ein Unrechtsbewusstsein nehmen sie "ihre" Dokumente nach dem Ende ihrer Amtszeit mit. Oft landen Schriftstücke von Politikern auch als so genannter Nachlass in den Regalen der Parteistiftungen, was für die Arbeit des Bundesarchivs nicht unproblematisch ist.
Damit öffentliche Vorgänge jedoch wieder gezielt in den zuständigen Archiven landen, hat die jetzige Bundesregierung eine neue Richtlinie erlassen. Den Akten der Leitungsebene wird darin erstmals ein ganzer Absatz gewidmet. So ist jetzt klar geregelt, welche Art von Dokumenten in persönlichen Ablagen aufbewahrt werden dürfen und welche nicht. Zum Beispiel darf die Leitungsebene "alle bei der Erfüllung von Aufgaben des Bundes erstellten oder empfangenen Dokumente, unabhängig von der Art des Informationsträgers und der Form der Aufzeichnung", nicht zu ihren persönlichen Ablagen nehmen. Nach den Erfahrungen im Kanzleramt der Ära Kohl betont die Richtlinie außerdem, was schon im Herbst 1998 eine Selbstverständlichkeit hätte sein müssen: "Dokumente dürfen aus der Akte nicht entfernt, bei Nutzung elektronischer Vorgangsbearbeitung nicht gelöscht werden."