Die dümmsten Lobbys der Welt
Über Jahre haben sich Deutschlands Spitzenverbände als penetrante Obernörgler der Nation aufgespielt. Jetzt wundern sie sich, dass sie wirtschaftspolitisch nicht mehr ernst genommen werden.
Der Kanzler produziert ein wirtschaftspolitisches Desaster nach dem anderen. Das Land steuert auf eine Rezession zu, und der Finanzminister ist mit seinem Pantoffelkurs gescheitert. Alles richtig. Mindestens ebenso katastrophal ist für Deutschlands Wirtschaft derzeit allerdings das, was ihre höchsten Vertreter dazu beisteuern, um Schlimmeres zu verhindern: nichts. Die Proteste der Bosse über höhere Abgaben und Steuern gehen am Kanzler vorbei.
Nun ließe sich die Schuld dafür den Gewerkschaften geben, die den Kanzler bedrängen. Oder den Grünen, die an der Ökosteuer festhalten. Nur wäre das bestenfalls die halbe Wahrheit. Ob BDI, Handwerks- oder Handelslobby - die Verbände tragen an ihrer eigenen Wirkungslosigkeit wahrscheinlich den größten Part. Und das ist kein Problem, das erst seit der Wiederwahl Schröders existiert.
Kurzsichtige Untergangsprognosen
Deutschlands Spitzenlobbys haben in den vergangenen zehn Jahren vor lauter wahllosem wirtschaftspolitischem Gepolter und Genörgel ihre eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt - und wundern sich jetzt, dass sie keiner mehr richtig ernst nimmt.
Nur auf den ersten Blick lässt sich die akute Krise zwischen Kanzler und Wirtschaftsvertretern als Ergebnis vorübergehender wahlkampfbedingter Verstimmungen einstufen. Klar: Die Lobbys haben vor der Wahl in plumpem Opportunismus alles auf Edmund Stoiber gesetzt, weil die Union in den Umfragen vorne lag - und wundern sich seitdem, dass Sozialdemokraten ihren Forderungen etwas unterkühlt begegnen. Das Problem liegt aber tiefer. Auch Helmut Kohl war auf die Verbandsfürsten schlecht zu sprechen.
Als zweifelhaft erweist sich jetzt jenes Selbstverständnis, das der frühere BDI-Chef Hans Olaf Henkel in den 90er Jahren bis zur Karikatur trieb - und wonach es zur Pflicht der Lobbys wurde, möglichst laut den Untergang Deutschlands und das massenhafte Abwandern von Firmen zu beschreiben, um Reformbereitschaft zu erzeugen.
Das war so kurzsichtig wie dämlich, weil es bald keiner mehr hören konnte und heute niemand mehr unterscheiden kann, wann Warnrufe aus der Wirtschaft wirklich ernsten Hintergrund haben (wie es derzeit durchaus der Fall ist). Wer Deutschland in den 90er Jahren Monat für Monat "am Abgrund" sah, muss irgendwann erklären, warum das Land - trotz aller Schwierigkeiten - immer noch nicht abgestürzt ist. Und: Wer über jedes Problem lautstark jammert, geht das Risiko ein, dass ihm irgendwann die Superlativen ausgehen.
Naive Vorstellung
Dazu kommt, dass es am Ende gar nicht so viele deutsche Unternehmen gab, die tatsächlich ihre Produktion in die weite Welt verlagerten - im Gegenteil: An Beispielen wie dem BMW-Einstieg bei Rover wurde klar, wie naiv die Vorstellung sein kann, einfach mal im Ausland zu produzieren, was sich in Deutschland über Jahrzehnte bewährt hat. Viele Flüchtige kamen zurück. Auch das hat das Jammern immer weniger glaubhaft werden lassen.
All dies wäre halb so schlimm, wenn Deutschlands Verbände ein nachvollziehbares Konzept davon hätten, was passieren müsste. Daran aber mangelt es. Als Wächter der Marktwirtschaft geben sich die Lobbys vor allem dann, wenn es der eigenen Branche nicht weh tut. Wenn etwa die schützende Handwerksordnung dagegen gelockert werden soll, ist dem Handwerksverband der Markt plötzlich doch nicht so wichtig.
Umgekehrt haben deutsche Verbandsfürsten ein makroökonomisches Verständnis entwickelt, das international eher kurios wirkt. Beispiel Geldpolitik: Während der britische Industrieverband das Interesse seiner Klientel auch darin sieht, die Notenbank zu Zinssenkungen aufzufordern und damit für günstigere Finanzierungsbedingungen zu sorgen, plädieren die Deutschen im Zweifel reflexartig stets für die höheren Zinsen.
Beispiel Finanzpolitik: Der Euro werde weich, wenn das Drei-Prozent-Kriterium beim deutschen Staatsdefizit nicht eingehalten werde, hieß es in den vergangenen Wochen aus den Verbandsetagen - als würde niemand merken, dass der Wechselkurs derzeit steigt und steigt, egal wie hoch das deutsche Defizit ausfällt. So einfach funktioniert die Ökonomie dann eben doch nicht.
Beleidigter Kanzler
Wer über Jahre wie der BDI gegen das ach so schlimme deutsche Konsensdenken gewettert hat, darf sich nicht beschweren, wenn Rot-Grün den Gedanken jetzt umsetzt - und sich eben nicht um das Einverständnis der Wirtschaft zum Koalitionsvertrag kümmert. So ist das eben in einer Konfliktgesellschaft.
Klar: Gerhard Schröder spielt derzeit gegenüber den Verbänden ganz bewusst den Beleidigten. Das wird sich geben. Die Probleme, die Deutschlands Lobbys mit der Politik haben, werden dann aber nicht gelöst sein. Und womöglich werden sich die Verbandsfürsten einfach entscheiden müssen. Entweder sie geben sich offener als bisher als Vertreter ihrer ganz speziellen Interessen zu erkennen, was ja nichts Schlimmes ist. Oder sie halten am Anspruch fest, gesamtgesellschaftliche und ökonomische Interessen wie den Abbau der Arbeitslosigkeit zu vertreten. Dann aber müssen sie sich auch von so manchem Widerspruch lösen und zumindest erwägen, ob es nicht besser wäre, die Menschen zu Veränderungen zu motivieren - statt an ihnen rumzunörgeln.
Nach heutiger Praxis droht das Wirken von Deutschlands Spitzenverbänden den Unternehmen am Ende eher zu schaden als zu nutzen, weil selbst vernünftige Vorschläge irgendwann nicht mehr ernst genommen werden. Und das ist ein Problem, das nicht erst seit dem 22. September besteht.
ftd.de