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NYSE wird NYX
Börsengang nach 213 Jahren
Von Marc Pitzke, New York
An der Wall Street endet eine Ära. Morgen wandelt sich die Stock Exchange offiziell vom exklusiven Privatclub zum gewinnorientierten Aktienunternehmen. Der Börsengang der Börse soll bis zu zwei Milliarden Dollar einfahren - und jeder will mitverdienen.
New York - Die Wall Street ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Wer heute durch die schattigen Hochhausschluchten zwischen Broadway und East River wandert, kommt sich eher vor wie in einem Modelldorf für VIP-Luxuswohnungen als im Herz der globalisierten Finanzwirtschaft.
REUTERSBörse an der Wall Street: Ende einer Ära |
Nur ein Gebäude scheint sich dem Trend bis heute zu widersetzen: die New York Stock Exchange (NYSE). Wie ein Relikt aus einer Zeit, da das Börsengeschäft noch von Menschen betrieben wurde, und nicht von Computern, dient ihr Säulenpalazzo weiter als Tor zur Wall Street. Drinnen auf dem Parkett brüllen und gestikulieren die Börsianer noch immer wie in alten Tagen.
Doch damit ist es bald vorbei. Diese Woche wird auch die NYSE in der Form, in der sie 213 Jahre lang existiert hat, offiziell zu Grabe getragen. Morgen wird die Fusion mit der Elektronikbörse Archipelago amtlich, und die NYSE wandelt sich vom exklusiven Privatclub zur gewinnorientierten Aktiengesellschaft. Am Mittwoch dann gibt die NYSE unter dem neuen Tickerkürzel NYX ihre ersten eigenen Aktien in den Börsenhandel - die Börse geht an die Börse.
Hochgerüsteter Gorilla
Der kürzlich von der US-Börsenaufsicht SEC abgenickte Sieben-Milliarden-Dollar-Deal mit Archipelago katapultiert die NYSE mit einem Schlag in die Zukunft. NYSE-Chef John Thain hat zwar versprochen, dass er das Parkett samt Personal "absolut" beibehalten will. Ab morgen ist die NYSE dennoch ein technologisch hochgerüsteter Gorilla in der heiß umkämpften Börsenbranche. Bisher agierte sie, dank ihrer Aufsichtsfunktion, eher als eine Art unparteiischer Schiedsrichter. Jetzt ist sie selbst ein finanzstarker Akteur im Drama um Aktien, Geld und Millionengebühren.
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Zwischen einer und zwei Milliarden Dollar Cash erwartet sich die NYSE von ihrer eigenen Neuemission. "Dies markiert den Beginn einer neuen Ära für die Börse und Amerikas Finanzmärkte", erklärte Thain. Dabei ist dies ja keine IPO im klassischen Sinne: Die ersten Werte werden ausschließlich intern verteilt, an bisherige NYSE-Eigner und Angestellte sowie an Archipelago-Aktionäre.
Rangeln um den Prestigeauftrag
Trotzdem ist es ein historisches Ereignis. Schließlich passiert es nicht alle Tage, dass ein über 200-jähriges Unternehmen und weltweites Symbol des Kapitalismus amerikanischer Lesart an die Börse geht.
Kein Wunder, dass sich die ganze Wall-Street-Szene darum gerissen hat, als Konsortialführer an dem Mammutdeal beteiligt zu werden - und mit abzukassieren. Ein Dutzend Großbanken bewarb sich um den Job als Mittelsmann. Zum einen ist der Börsengang ein einmaliges Prestigegeschäft. Zum anderen dürften sich die fälligen Gebühren auf bis zu 60 Millionen Dollar summieren.
Die CEOs von Merrill Lynch, Morgan Stanley und J.P. Morgan Chase - Stan O'Neal, John Mack und James Dimon - warben bei Thain sogar persönlich um ein Stück vom NYX-Kuchen. Goldman Sachs dagegen verzichtete, um nicht den Eindruck eines Interessenkonflikts aufkommen zu lassen. Die Banker hatten zuvor den Archipelago-Deal eingefädelt. Thain gab den Dreien schließlich auch den Zuschlag und heuerte als vierten Partner Lehman Brothers an.
Thain schaut nach Europa
Mit der Häutung zur vollelektronischen Mega-Börse hat Thain seine Ziele aber längst noch nicht erreicht. Er sucht nach weiteren Übernahmekandidaten - nicht zuletzt auch in Europa. In einem Interview mit der "Financial Times" betonte der Manager heute erneut das Interesse an einer Allianz mit einer europäischen Börse. Spekulationen zufolge hat Thain es unter anderem auf die London Stock Exchange, Euronext und die Eurex abgesehen. Dies sei jedoch nicht die einzige strategische Option, sagte Thain. Die NYSE könne nach dem Abschluss der Archipelago-Übernahme auch in neue Märkte wie zum Beispiel dem Handel von Derivaten investieren.
Daheim in New York sieht die Konkurrenz dem Treiben des Börsentitanen gelassen entgegen. Die Technologie-Börse Nasdaq hat gerade selbst aufgerüstet und den Top-Rivalen Instinet geschluckt. "Wir haben das bessere Marktmodell", gibt sich Nasdaq-Chef Robert Greifeld zuversichtlich. "Die NYSE imitiert, was wir seit 30 Jahren machen."
Draußen an der Wall Street geht die Wandlung von Finanzmeile zu Lifestyle-Mekka derweil unaufhaltsam weiter. Nobelkneipen wie das "Mangia" locken zum Verweilen, während unter der Glaskuppel des früheren VIP-Restaurants "Cipriani" ein neuer Privatclub für die Reichen entsteht. Die 106 Luxus-Lofts darüber gibt es zu Preisen zwischen 700.000 Dollar bis drei Millionen Dollar.
Experten erwarten, dass der NYSE spätestens dann ein ähnliches Schicksal droht, wenn sie den Wandel zur virtuellen Börse endgültig vollzieht. "Eines Tages", sagt Wall-Street-Historiker Charles Geisst, "werden sie das Gebäude zu Eigentumswohnungen umbauen - oder in ein Museum."