"Muikku", Riesenspinnen und die Internet-Sauna
Von Carsten Matthäus
Kaum ein Land ist so abhängig von einer einzige Firma wie Finnland, und kaum ein finnischer Ort ist Nokia so ausgeliefert wie Tampere. Ein Streifzug durch das finnische Zukunftslabor.
Tampere - Hannu Nieminen ist ein kleiner, unscheinbarer Mann. Fast verloren steht er in der Mitte des blauen Schauraumes. Wenn er redet, blickt er meistens zu Boden. Nieminen scheut große Worte: "Es ist vielleicht nicht so weise, elektronische Geräte in einen Schuh einzubauen, der Schuh könnte riechen. Aber wenn wir merken, dass die Leute solche Schuhe wollen, dann werden wir sie anbieten". Wieder blickt er zu Boden.
Der 41-jährige Finne hat vielleicht einen der interessantesten Jobs der Welt. Er ist einer der Chefs des Nokia Research Centers in Tampere. Mit ihm arbeiten derzeit 3342 Forscher und Entwickler an den Mobiltelefonen der Zukunft, Durchschnittsalter 31 Jahre. Hier in Tampere wurde der Nokia Communicator entwickelt und natürlich präsentiert Nieminen auch stolz das neue Nokia 7650, das Handy mit Auge, das im Sommer nächsten Jahres auf den Markt kommen soll. Da Nieminen Experte für visuelle Mobilfunkanwendungen ist, liegt ihm die Kamera-Funktion besonders am Herzen. "Es ist sehr erstaunlich, was die Nutzer schon mit den 160 Zeichen veranstalten, die in eine SMS passen. Ich träume davon, dass Menschen mit Bildern und kleinen Filmsequenzen noch viel kreativer werden". Während er das sagt, redet er schneller, seine Stimme wird etwas höher.
Doch die ersten Versuche mit dem neuen Wunderding sind eher ernüchternd. Artig sagen alle Besucher "Muikku", das finnische "Cheese", aber das macht das Bild auf dem Display auch nicht besser. Unscharf und verwackelt kommen sie einem auf der ansonsten so futuristischen Leinwand wie ein Ausrutscher vor. Schwer vorstellbar, dass solche Bilder eine Welle der Begeisterung auslösen werden. Aber die beispiellose SMS-Euphorie hat ja auch keiner so recht erwartet, hält Nieminen dagegen. Allein im Dezember 2001 wurden weltweit 15 Milliarden dieser Kurznachrichten verschickt, bei finnischen Jugendlichen sorgt das wilde Gefriemel auf der Tastatur mittlerweile für rund 90 Prozent der Telefonrechnung.
Anfassbare Informationsblasen
Nieminen beschäftigen jedoch längst andere Dinge. Mit einer Handbewegung zeigt er eines davon: Er nimmt seinen Communicator in die eine Hand, seinen Geldbeutel in die andere und klatscht beide zusammen. Geld, Personalausweis, Kreditkarten, Führerschein - das alles wäre leicht in ein Handy zu integrieren. Wird man in Zukunft bei Auslandsreisen nur noch sein Handy vorzeigen? Werden die Strafpunkte für Verkehrsverstöße noch während der Fahrt auf dem Display sichtbar? Könnte der Kunde und Bürger damit ferngesteuert werden? Wie soll das Ganze sicher ablaufen? Auf konkrete Fragen blickt Nieminen zu Boden und flüchtet sich in allgemeine Floskeln. Vielleicht hat er die Lösungen längst in der Tasche, reden will er darüber nicht - noch nicht.
Lieber benutzt er wolkige Worte wie "Kontextualität". Bildlich gesprochen geht in Nieminens Augen jeder Mensch in einer persönlichen Informationsblase durch die Welt. "Wie wäre es, wenn diese Blasen anfassbar wären?", fragt er in den abgedunkelten Raum, durch den ständig eine undefinierbare Raumschiff-Musik wabert. Nieminen antwortet sich selbst. "Wenn ich jemanden treffe, würde ich vielleicht gleich eine Nachricht auf meinem Display haben, dass er Geburtstag hat oder so was". Wieder will er nicht konkreter werden.
Das ist typisch für Nokia und für Tampere. Gerne redet man hier über den Mobilfunkriesen und über großartige Zukunftsaussichten für die Region. In jedem zweiten Satz fällt Mobilfunk, IT oder eben Nokia. Der Fluss, der Ort, die Gummischuhfabrik, von denen das finnische Wirtschaftswunder ausging, sind nur ein paar Kilometer von Tampere entfernt.
Ein Wahrzeichen für den Wandel der Stadt ist der Finlayson-Komplex. Die Textilfabrik, die der schottische Kaufmann James Finlayson 1820 gründete, machte Tampere um die Jahrhundertwende zur bedeutendsten Industriestadt Finnlands. 1882 leuchtete bei Finlayson die erste Glühbirne in ganz Skandinavien auf. Heute sind die ehrwürdigen Gebäude entkernt, innendrin tummeln sich Hightech-Firmen, die alle irgendwas mit dem Mobilfunkriesen zu tun haben wollen.
Ein Beispiel ist Media Tampere. An der Beratungsfirma, die ihre Expertise in digitaler Kommunikation und Internet-Anwendungen verkauft, hält Nokia 19,5 Prozent. Deren Chef Jarkko Lumio Lumio redet lieber über die Internet-Sauna, die gerade in seine neuen Finlayson-Büros eingebaut wird. Eine Sauna im Büro ist in Finnland keineswegs unüblich, fast jeder Neubau wird mit Schwitzstube geplant. In der Sauna von Media Tampere soll es aber möglich sein, im Internet zu surfen. Dafür wird eigens eine hitzeresistenter Bildschirm entwickelt, den man nicht berühren muss, um die Maus zu bewegen. Eine Webcam und ein Mikrofon für Sauna-Chats sind natürlich auch schon drin.
Geschäfte bei 90 Grad Lufttemperatur
Was momentan noch wie ein finnischer Witz erscheint, könnte bald Geld bringen. "Ein paar Fernsehsender haben sich schon angemeldet, für Live-Chats über die Webcam", sagt Lumio. Gut möglich, dass die interaktive Sauna in Finnland ähnliche Begeisterung hervorrufen wird wie die Containershow "Big Brother" in Deutschland. In diesem Land, in dem das Wetter nicht selten Selbstmordgedanken aufkommen lässt, ist die Sauna einer der wichtigsten Versammlungsorte. Die meisten Geschäfte in Finnland werden - sagt man - bei rund 90 Grad Lufttemperatur gemacht. Auch die Tüftler von Nokia haben sich für ihre Büro-Sauna etwas Tolles einfallen lassen: Wer "Heitää löylyä" sagt, was so viel heißt wie "Wasser bitte", muss den Aufguss nicht selbst machen. Das Wasser tropft wie von Geisterhand auf die heißen Steine.
Über Sauna-Themen könnte man mit Lumio stundenlang reden. Auf Fragen, welche Projekte MediaTampere für Nokia umsetzt, schweigt er dagegen eisern - alles streng geheim. Firmen die für Nokia forschen, dürfen darüber kein Wort verlieren - dafür hat der Mobilfunkriese vertraglich gesorgt. Zu jedem ordentlichen Eingang gehören ein oder zwei Aufkleber von Sicherheitsfirmen, Besucher werden sofort in einen Konferenzraum geleitet, der nahe beim Eingang liegt. Auch die Toiletten sind direkt nebenan, überall sonst ist der Zutritt streng verboten. Den übermächtigen Auftraggeber Nokia zu reizen, wäre für viele der kleinen und mittelgroßen Firmen wirtschaftlicher Selbstmord. 40 Prozent aller privaten Forschungs- und Entwicklungsprojekte in Finnland vergibt der Mobilfunkriese. In Tampere ist Nokia außerdem der größte private Arbeitgeber.
Die Abhängigkeit der Finnen von dem Mobilfunkriesen ist beispiellos. Nach einer Berechnung der "New York Times" würden in den USA bei einem ähnlichen Verhältnis von Nokia-Mitarbeitern zur Gesamtbevölkerung rund eine Million Menschen für den Konzern arbeiten. Von den weltweit 54.000 Nokia-Stellen sind rund 20.000 in Finnland, rund 11.000 davon sind in der Forschung und Entwicklung eingesetzt, die meisten von ihnen in Tampere.
Nachsitzen im Internet-Bus
Die Bevölkerung von Tampere ist von Kopf bis Fuß auf Mobilfunk und Internet eingestellt. Von den rund 200.000 Einwohnern hatten schon Ende 2000 etwa 65 Prozent einen Internetzugang, die Handy-Penetration soll mittlerweile über 80 Prozent liegen - mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Und wer immer noch nicht online ist, muss nachsitzen. Dafür fährt eigens der Internet-Bus namens Netti-Nysse durch Stadt und Umland. In dieser modernen Variante des Bücherbus bekommen Unkundige kostenlos die erste Schritte ins Netz beigebracht. Gesponsert wird das Ganze von der Stadt und - wen wundert es - von Nokia. "Wir sind bis Mai ausgebucht", sagt Elina Harju, die Chefin und Fahrerin der fahrenden Netz-Nachhilfe. Für das große Interesse an ihrem Angebot hat sie eine einfache Erklärung. "Die Leute sparen dadurch Geld, hier in Finnland ist es zum Beispiel ziemlich teuer, Bankgeschäfte noch am Schalter abzuwickeln", sagt sie.
Der Internet-Bus ist ein Teil des städtischen eTampere-Projekts. Rund 132 Millionen Euro wollen öffentliche und private Investoren in den nächsten fünf Jahren ausgeben, um der Stadt eine weltweite Spitzenstellung in der Umsetzung neuer Technologien zu verschaffen. Dafür ist die Stadt gut gerüstet: In rund 300 Unternehmen arbeiten etwa 10.000 Forscher und Entwickler an neuen Technologien, mehr als 30.000 Studenten verteilen sich auf zwei Universitäten und zwei Fachhochschulen, die allesamt bestens ausgestattet sind. "Wir haben sehr hoch gesteckte Ziele, sagt Jarmo Viteli, Direktor des eTampere-Projekts. "Wir wollen eine der führenden Städte in der Informationsgesellschaft sein".
Dafür müsste noch einiges passieren. Mit 13 Prozent Arbeitslosigkeit liegt Tampere weit über dem finnischen Durchschnitt von knapp zehn Prozent. Die Hauptstadt Helsinki lockt in Finnland immer noch die meisten Talente und Investitionen an und das im Norden des Landes gelegene Oulu versucht gerade, Tampere den Rang abzulaufen. Außerdem sorgt die große Abhängigkeit von Nokia nicht nur für Freude. Dass Nokia-Chef Jorma Ollila bereits laut darüber nachgedacht hat, Teile seines Unternehmens aus steuerlichen Gründen ins Ausland zu verlagern, sorgte in Tampere für helle Aufregung. "Wir müssen das sehr ernst nehmen", sagt Heidi Huhtamella, die sich im eTampere-Projekt um die Firmenförderung kümmert, "aber wir hoffen, dass er nur etwas politischen Druck machen wollte".
Früher die Sowjetunion, jetzt Nokia
Finnland ist dem Mobilfunkriesen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Auch wenn nur rund 1,5 Prozent des Umsatzes in Finnland gemacht werden und rund 90 Prozent der Nokia-Aktien in ausländischen Händen sind, sorgt ein Husten bei Nokia für eine handfeste Erkältung der finnischen Wirtschaft. Das zeigte sich im letzten Jahr, als Nokias Wachstum erstmals zurückging. Obwohl sich die sonstigen Rahmendaten in Finnland nicht groß verändert hatten, fiel das Wirtschaftswachstum von fünf Prozent (2000) auf 0,7 Prozent (2001). "Wir hatten einmal die Sowjetunion, vor der wir uns verbeugen mussten. Jetzt ist das vorbei, und wir haben Nokia", sagt Leila Mustanoja kürzlich der "New York Times". Die ehemalige Vorsitzende der finnischen Fulbright-Kommission ist eine der wenigen, die die Abhängigkeit von Nokia öffentlich kritisieren. Sie trägt aus Protest ein Motorola-Handy und wettert gegen den Schmusekurs der finnischen Regierung mit China. Ihrer Ansicht nach gäbe es dafür keinen Grund, hätte nicht Nokia zum Angriff auf den chinesischen Markt geblasen.
Den Druck von Nokia bekommen sogar Firmen in Tampere zu spüren, die gar nichts mit Mobilfunk zu tun haben. "In früheren Jahren hatten wir echte Probleme, Ingenieurs-Nachwuchs für unsere Firma zu bekommen. Die sind alle direkt von Nokia abgegriffen worden", sagt Pertti Huusko, Manager der Firma Timberjack. Dabei gelten die Timberjack-Entwickler als echte Pioniere auf ihrem Gebiet. Keine Firma der Welt baut bisher Maschinen wie den "Schreitharvester". Diese futuristische Holzfällmaschine fährt nicht auf Rädern, sie bewegt sich wie eine Spinne auf sechs Füßen, um beispielsweise empfindlichen Waldboden zu schonen.
Als Nokia im vergangenen Jahr unter dem Einbruch im Mobilfunkmarkt litt, wollte sich Huusko dennoch nicht freuen. "Was denken Sie, wie viele Nokia-Aktien ich habe?", sagt er und lacht. Konkret will er die Summe nicht nennen. Natürlich nicht.
URL: www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,181822,00.html
Von Carsten Matthäus
Kaum ein Land ist so abhängig von einer einzige Firma wie Finnland, und kaum ein finnischer Ort ist Nokia so ausgeliefert wie Tampere. Ein Streifzug durch das finnische Zukunftslabor.
Tampere - Hannu Nieminen ist ein kleiner, unscheinbarer Mann. Fast verloren steht er in der Mitte des blauen Schauraumes. Wenn er redet, blickt er meistens zu Boden. Nieminen scheut große Worte: "Es ist vielleicht nicht so weise, elektronische Geräte in einen Schuh einzubauen, der Schuh könnte riechen. Aber wenn wir merken, dass die Leute solche Schuhe wollen, dann werden wir sie anbieten". Wieder blickt er zu Boden.
Der 41-jährige Finne hat vielleicht einen der interessantesten Jobs der Welt. Er ist einer der Chefs des Nokia Research Centers in Tampere. Mit ihm arbeiten derzeit 3342 Forscher und Entwickler an den Mobiltelefonen der Zukunft, Durchschnittsalter 31 Jahre. Hier in Tampere wurde der Nokia Communicator entwickelt und natürlich präsentiert Nieminen auch stolz das neue Nokia 7650, das Handy mit Auge, das im Sommer nächsten Jahres auf den Markt kommen soll. Da Nieminen Experte für visuelle Mobilfunkanwendungen ist, liegt ihm die Kamera-Funktion besonders am Herzen. "Es ist sehr erstaunlich, was die Nutzer schon mit den 160 Zeichen veranstalten, die in eine SMS passen. Ich träume davon, dass Menschen mit Bildern und kleinen Filmsequenzen noch viel kreativer werden". Während er das sagt, redet er schneller, seine Stimme wird etwas höher.
Doch die ersten Versuche mit dem neuen Wunderding sind eher ernüchternd. Artig sagen alle Besucher "Muikku", das finnische "Cheese", aber das macht das Bild auf dem Display auch nicht besser. Unscharf und verwackelt kommen sie einem auf der ansonsten so futuristischen Leinwand wie ein Ausrutscher vor. Schwer vorstellbar, dass solche Bilder eine Welle der Begeisterung auslösen werden. Aber die beispiellose SMS-Euphorie hat ja auch keiner so recht erwartet, hält Nieminen dagegen. Allein im Dezember 2001 wurden weltweit 15 Milliarden dieser Kurznachrichten verschickt, bei finnischen Jugendlichen sorgt das wilde Gefriemel auf der Tastatur mittlerweile für rund 90 Prozent der Telefonrechnung.
Anfassbare Informationsblasen
Nieminen beschäftigen jedoch längst andere Dinge. Mit einer Handbewegung zeigt er eines davon: Er nimmt seinen Communicator in die eine Hand, seinen Geldbeutel in die andere und klatscht beide zusammen. Geld, Personalausweis, Kreditkarten, Führerschein - das alles wäre leicht in ein Handy zu integrieren. Wird man in Zukunft bei Auslandsreisen nur noch sein Handy vorzeigen? Werden die Strafpunkte für Verkehrsverstöße noch während der Fahrt auf dem Display sichtbar? Könnte der Kunde und Bürger damit ferngesteuert werden? Wie soll das Ganze sicher ablaufen? Auf konkrete Fragen blickt Nieminen zu Boden und flüchtet sich in allgemeine Floskeln. Vielleicht hat er die Lösungen längst in der Tasche, reden will er darüber nicht - noch nicht.
Lieber benutzt er wolkige Worte wie "Kontextualität". Bildlich gesprochen geht in Nieminens Augen jeder Mensch in einer persönlichen Informationsblase durch die Welt. "Wie wäre es, wenn diese Blasen anfassbar wären?", fragt er in den abgedunkelten Raum, durch den ständig eine undefinierbare Raumschiff-Musik wabert. Nieminen antwortet sich selbst. "Wenn ich jemanden treffe, würde ich vielleicht gleich eine Nachricht auf meinem Display haben, dass er Geburtstag hat oder so was". Wieder will er nicht konkreter werden.
Das ist typisch für Nokia und für Tampere. Gerne redet man hier über den Mobilfunkriesen und über großartige Zukunftsaussichten für die Region. In jedem zweiten Satz fällt Mobilfunk, IT oder eben Nokia. Der Fluss, der Ort, die Gummischuhfabrik, von denen das finnische Wirtschaftswunder ausging, sind nur ein paar Kilometer von Tampere entfernt.
Ein Wahrzeichen für den Wandel der Stadt ist der Finlayson-Komplex. Die Textilfabrik, die der schottische Kaufmann James Finlayson 1820 gründete, machte Tampere um die Jahrhundertwende zur bedeutendsten Industriestadt Finnlands. 1882 leuchtete bei Finlayson die erste Glühbirne in ganz Skandinavien auf. Heute sind die ehrwürdigen Gebäude entkernt, innendrin tummeln sich Hightech-Firmen, die alle irgendwas mit dem Mobilfunkriesen zu tun haben wollen.
Ein Beispiel ist Media Tampere. An der Beratungsfirma, die ihre Expertise in digitaler Kommunikation und Internet-Anwendungen verkauft, hält Nokia 19,5 Prozent. Deren Chef Jarkko Lumio Lumio redet lieber über die Internet-Sauna, die gerade in seine neuen Finlayson-Büros eingebaut wird. Eine Sauna im Büro ist in Finnland keineswegs unüblich, fast jeder Neubau wird mit Schwitzstube geplant. In der Sauna von Media Tampere soll es aber möglich sein, im Internet zu surfen. Dafür wird eigens eine hitzeresistenter Bildschirm entwickelt, den man nicht berühren muss, um die Maus zu bewegen. Eine Webcam und ein Mikrofon für Sauna-Chats sind natürlich auch schon drin.
Geschäfte bei 90 Grad Lufttemperatur
Was momentan noch wie ein finnischer Witz erscheint, könnte bald Geld bringen. "Ein paar Fernsehsender haben sich schon angemeldet, für Live-Chats über die Webcam", sagt Lumio. Gut möglich, dass die interaktive Sauna in Finnland ähnliche Begeisterung hervorrufen wird wie die Containershow "Big Brother" in Deutschland. In diesem Land, in dem das Wetter nicht selten Selbstmordgedanken aufkommen lässt, ist die Sauna einer der wichtigsten Versammlungsorte. Die meisten Geschäfte in Finnland werden - sagt man - bei rund 90 Grad Lufttemperatur gemacht. Auch die Tüftler von Nokia haben sich für ihre Büro-Sauna etwas Tolles einfallen lassen: Wer "Heitää löylyä" sagt, was so viel heißt wie "Wasser bitte", muss den Aufguss nicht selbst machen. Das Wasser tropft wie von Geisterhand auf die heißen Steine.
Über Sauna-Themen könnte man mit Lumio stundenlang reden. Auf Fragen, welche Projekte MediaTampere für Nokia umsetzt, schweigt er dagegen eisern - alles streng geheim. Firmen die für Nokia forschen, dürfen darüber kein Wort verlieren - dafür hat der Mobilfunkriese vertraglich gesorgt. Zu jedem ordentlichen Eingang gehören ein oder zwei Aufkleber von Sicherheitsfirmen, Besucher werden sofort in einen Konferenzraum geleitet, der nahe beim Eingang liegt. Auch die Toiletten sind direkt nebenan, überall sonst ist der Zutritt streng verboten. Den übermächtigen Auftraggeber Nokia zu reizen, wäre für viele der kleinen und mittelgroßen Firmen wirtschaftlicher Selbstmord. 40 Prozent aller privaten Forschungs- und Entwicklungsprojekte in Finnland vergibt der Mobilfunkriese. In Tampere ist Nokia außerdem der größte private Arbeitgeber.
Die Abhängigkeit der Finnen von dem Mobilfunkriesen ist beispiellos. Nach einer Berechnung der "New York Times" würden in den USA bei einem ähnlichen Verhältnis von Nokia-Mitarbeitern zur Gesamtbevölkerung rund eine Million Menschen für den Konzern arbeiten. Von den weltweit 54.000 Nokia-Stellen sind rund 20.000 in Finnland, rund 11.000 davon sind in der Forschung und Entwicklung eingesetzt, die meisten von ihnen in Tampere.
Nachsitzen im Internet-Bus
Die Bevölkerung von Tampere ist von Kopf bis Fuß auf Mobilfunk und Internet eingestellt. Von den rund 200.000 Einwohnern hatten schon Ende 2000 etwa 65 Prozent einen Internetzugang, die Handy-Penetration soll mittlerweile über 80 Prozent liegen - mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Und wer immer noch nicht online ist, muss nachsitzen. Dafür fährt eigens der Internet-Bus namens Netti-Nysse durch Stadt und Umland. In dieser modernen Variante des Bücherbus bekommen Unkundige kostenlos die erste Schritte ins Netz beigebracht. Gesponsert wird das Ganze von der Stadt und - wen wundert es - von Nokia. "Wir sind bis Mai ausgebucht", sagt Elina Harju, die Chefin und Fahrerin der fahrenden Netz-Nachhilfe. Für das große Interesse an ihrem Angebot hat sie eine einfache Erklärung. "Die Leute sparen dadurch Geld, hier in Finnland ist es zum Beispiel ziemlich teuer, Bankgeschäfte noch am Schalter abzuwickeln", sagt sie.
Der Internet-Bus ist ein Teil des städtischen eTampere-Projekts. Rund 132 Millionen Euro wollen öffentliche und private Investoren in den nächsten fünf Jahren ausgeben, um der Stadt eine weltweite Spitzenstellung in der Umsetzung neuer Technologien zu verschaffen. Dafür ist die Stadt gut gerüstet: In rund 300 Unternehmen arbeiten etwa 10.000 Forscher und Entwickler an neuen Technologien, mehr als 30.000 Studenten verteilen sich auf zwei Universitäten und zwei Fachhochschulen, die allesamt bestens ausgestattet sind. "Wir haben sehr hoch gesteckte Ziele, sagt Jarmo Viteli, Direktor des eTampere-Projekts. "Wir wollen eine der führenden Städte in der Informationsgesellschaft sein".
Dafür müsste noch einiges passieren. Mit 13 Prozent Arbeitslosigkeit liegt Tampere weit über dem finnischen Durchschnitt von knapp zehn Prozent. Die Hauptstadt Helsinki lockt in Finnland immer noch die meisten Talente und Investitionen an und das im Norden des Landes gelegene Oulu versucht gerade, Tampere den Rang abzulaufen. Außerdem sorgt die große Abhängigkeit von Nokia nicht nur für Freude. Dass Nokia-Chef Jorma Ollila bereits laut darüber nachgedacht hat, Teile seines Unternehmens aus steuerlichen Gründen ins Ausland zu verlagern, sorgte in Tampere für helle Aufregung. "Wir müssen das sehr ernst nehmen", sagt Heidi Huhtamella, die sich im eTampere-Projekt um die Firmenförderung kümmert, "aber wir hoffen, dass er nur etwas politischen Druck machen wollte".
Früher die Sowjetunion, jetzt Nokia
Finnland ist dem Mobilfunkriesen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Auch wenn nur rund 1,5 Prozent des Umsatzes in Finnland gemacht werden und rund 90 Prozent der Nokia-Aktien in ausländischen Händen sind, sorgt ein Husten bei Nokia für eine handfeste Erkältung der finnischen Wirtschaft. Das zeigte sich im letzten Jahr, als Nokias Wachstum erstmals zurückging. Obwohl sich die sonstigen Rahmendaten in Finnland nicht groß verändert hatten, fiel das Wirtschaftswachstum von fünf Prozent (2000) auf 0,7 Prozent (2001). "Wir hatten einmal die Sowjetunion, vor der wir uns verbeugen mussten. Jetzt ist das vorbei, und wir haben Nokia", sagt Leila Mustanoja kürzlich der "New York Times". Die ehemalige Vorsitzende der finnischen Fulbright-Kommission ist eine der wenigen, die die Abhängigkeit von Nokia öffentlich kritisieren. Sie trägt aus Protest ein Motorola-Handy und wettert gegen den Schmusekurs der finnischen Regierung mit China. Ihrer Ansicht nach gäbe es dafür keinen Grund, hätte nicht Nokia zum Angriff auf den chinesischen Markt geblasen.
Den Druck von Nokia bekommen sogar Firmen in Tampere zu spüren, die gar nichts mit Mobilfunk zu tun haben. "In früheren Jahren hatten wir echte Probleme, Ingenieurs-Nachwuchs für unsere Firma zu bekommen. Die sind alle direkt von Nokia abgegriffen worden", sagt Pertti Huusko, Manager der Firma Timberjack. Dabei gelten die Timberjack-Entwickler als echte Pioniere auf ihrem Gebiet. Keine Firma der Welt baut bisher Maschinen wie den "Schreitharvester". Diese futuristische Holzfällmaschine fährt nicht auf Rädern, sie bewegt sich wie eine Spinne auf sechs Füßen, um beispielsweise empfindlichen Waldboden zu schonen.
Als Nokia im vergangenen Jahr unter dem Einbruch im Mobilfunkmarkt litt, wollte sich Huusko dennoch nicht freuen. "Was denken Sie, wie viele Nokia-Aktien ich habe?", sagt er und lacht. Konkret will er die Summe nicht nennen. Natürlich nicht.
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