"Noch keine Entwarnung am Neuen Markt"
Dr. Friedhelm Busch
Er ist ein anerkannter Kenner des Börsengeschehens, spricht regelmässig mit Händlern, Analysten und Unternehmensvorständen: Friedhelm Busch, Moderator des Nachrichtensenders n-tv. Am jedem ersten Freitag eines Monats kommentiert Busch das aktuelle Börsengeschehen für die Leser von Multex Investor Deutschland.
Schon jubeln sie wieder, die leidgeprüften Fans des Neuen Marktes. Ein längst fälliger Wechsel im EM.TV-Vorstand, schüchterne Andeutungen der neuen Führung über mögliche Zukäufe in der Zukunft, und ab geht die Post. Um fast 50% steigt der Kurs der zertrümmerten EM.TV-Aktie, um 85% verteuern sich an einem einzigen Tag die Aktien des Medienunternehmens RTV, das sich seit Frühjahr 2000 im Sturzflug befindet. Ein wichtiges Kaufargument der Börsianer: RTV könnte zu diesen Übernahmekandidaten der neuen EM.TV gehören.
Gegenüber seinem Jahrestief nahe der Marke 1 000 hat sich der Nemax 50 ein wenig verbessert, doch ist er immer noch Lichtjahre entfernt von seinem Höchststand, den er im Frühjahr 2000 mit fast 10 000 erreicht hatte. Schon keimt die generelle Zuversicht, viele Qualitätswerte am Neuen Markt seien zu Unrecht mit den Wackelkandidaten in einen Topf geworfen worden. Sie seien jetzt krass unterbewertet und würden bei der bevorstehenden Wiederentdeckung der Wachstumswerte deutlich zulegen, zumal das geänderte Regelwerk für den Neuen Markt das geschwundene Vertrauen der Anleger in dieses Börsensegment wiederbeleben werde.
Delisting - Überfälliger Schritt, aber langwierige Procedere
All diese Erwartungen könnten sich als voreilig erweisen. Es stimmt zwar, dass die Deutsche Börse ab Oktober Unternehmen, die am Neuen Markt gelistet sind, aber bestimmten Qualitätskriterien nicht genügen, vom Kurszettel streichen kann, dies ist in der Tat ein längst überfälliger Schritt in die richtige Richtung, aber das Procedere ist mehr als langwierig. Zudem bietet es genug Notausstiege, dem drohenden Rausschmiss zu entgehen.
Unternehmen, die an 30 aufeinanderfolgenden Börsentagen im Tagesdurchschnitt unter € l notieren und gleichzeitig bei der Marktkapitalisierung die Grenze von € 20 Mio. unterschreiten, kommen auf die Beobachtungsliste. Gelingt es diesen Unternehmen nicht, in den folgenden 90 Börsentagen an 15 Tagen in Folge die beiden Grenzwerte zu erreichen, werden sie vom Neuen Markt ausgeschlossen. Sie könnten dann nur noch im Freiverkehr oder im Geregelten Markt gehandelt werden.
Vor Ende März nächsten Jahres wird sich also gar nichts tun. Bis dahin ist dem Erfindungsreichtum der gefährdeten Gesellschaften genug Raum gegeben, durch Zusammenlegen der Aktien oder Rückkaufprogramme zumindest den Aktienkurs über die € 1-Hürde zu hieven.
Qualitätstitel ohne Qualität?
Immerhin hat die Deutsche Börse damit ein Signal gesetzt, dem Qualitätsverfall am Neuen Markt nicht länger tatenlos zusehen zu wollen. Eine weitere mögliche Maßnahme zur Verbesserung der Qualität wäre es, den Nemax-50 zu entschlacken. In diesem Segment werden, so die Idee seiner Gründungsväter, die 50 führenden Unternehmen des Neuen Marktes geführt. Doch nach dem dramatischen Zusammenbruch vieler Wachstumswerte erreichen gegenwärtig allenfalls 20 bis 30 Titel diesen Anspruch.
Gerade die einstigen Stars des Nemax-50, wie zum Beispiel EM.TV oder Intershop und Brokat zählen heute zu den größten Verlierern. Kein Wunder, dass es den Nemax-50 stärker erwischt hat als den breiter gefassten Nemax-All-Share-Index. Das einstige Qualitätsmerkmal hat sich längst als Hemmschuh erwiesen. Verständlich, dass einige Unternehmer erwägen, freiwillig aus diesem Markt auszuscheiden, da sie um den Ruf ihres Unternehmens fürchten.
Allen Unkenrufen zum Trotz, es gibt sie nämlich doch noch, die Qualitätstitel am Neuen Markt. Man sollte also nicht alles über einen Kamm scheren. Die Frage ist nur, woran erkennt man sie? Zweifellos an der Seriosität und Wirklichkeitsnähe ihrer Prognosen, an der Qualität ihrer Unternehmensführung, an der marktkonformen Unternehmenskonzeption, an den sinkenden Verlusten und natürlich an steigenden Gewinnen.
Zeitbomben in den Bilanzen
Doch auch hier sei vor einem möglichen Trugschluss gewarnt: Trotz aller Kursverluste, der Neue Markt ist gerade bei Qualitätstiteln immer noch nicht billig. Zu leicht verstellen niedrige Kurse die Erinnerung an vorangegangene Splittings und Berichtigungsaktien. Und noch etwas könnte sich als Zeitbombe erweisen, die in den Bilanzen vieler Unternehmen tickt: Der Abschreibungsbedarf.
In der Euphoriephase der New Economy haben wohl die meisten Unternehmer im raschen Wachstum ihrer Umsätze ihre einzige Chance gesehen, ganz vorn dabei zu sein im Rennen um Marktanteile und Macht. Wachstum im erforderlichen Tempo aber war in der Regel nur möglich durch Firmenübernahmen. Bezahlt wurde leichter Hand vor allem mit eigenen Aktien, die an den Börsen um so höher stiegen, je schneller das Wachstum explodierte.
Ein System, das sich aus eigener Kraft beschleunigte. Unter Umständen ein lebensgefährliches System, wie sich nur allzu bald herausstellen sollte. Dass die erworbenen Unternehmen nicht immer ins eigene Konzept passten, dass sie häufig den Kaufpreis nicht wert waren, dass ihre Integration teuer und zeitraubend sein würde, alles das spielte häufig keine Rolle. Leichtverdientes Geld und Kursexplosionen eigener Aktien setzten offenbar kaufmännisches Denken und Controlling außer Kraft.
Böses Erwachen
Doch jetzt hat die Konjunkturschwäche manchen Phantasten aus seinem Rausch aufgeweckt und in die Wirklichkeit zurück gebracht. Beteiligungen passen plötzlich nicht mehr in die neue abgemagerte Unternehmensstruktur und müssen verkauft werden, selbst zu verlustträchtigen Spottpreisen. Und was nicht verkauft werden kann, weil es keiner haben will oder weil es doch betriebsnotwendig ist, das muss in den Bilanzen wertberichtigt werden, weil es im Wert offenkundig unter den Kaufpreis gesunken.
Diese Wertberichtigungen werden nicht nach amerikanischem Vorbild auf mehrere Jahre verteilt, sondern werden plötzlich, auf einen Schlag durchgeführt. Nur so sind die unvorstellbaren Verluste in den Quartalsbilanzen selbst großer Konzerne zu erklären. Zwar verliert das jeweils betroffene Unternehmen durch die Bilanzierung der korrigierten Wertansätze grundsätzlich keine Liquidität, aber dennoch wird Vermögen vernichtet, steigt der Bilanz-Verlust. Kann er nicht mehr durch entsprechendes Eigenkapital gedeckt werden, kommt es unter Umständen zur Überschuldung. Auch dies ist ein Konkursgrund.
Das Ticken dieser Zeitbombe wird lauter. Nicht von ungefähr verlassen Tag für Tag immer mehr Vorstandsmitglieder die eigenen Unternehmen, die sie noch vor wenigen Monaten lauthals in den Medien als kommende Überflieger der New Economy gefeiert haben. Bleibt zu hoffen, dass bei den bevorstehenden Explosionen nicht der gesamte Neue Markt in die Luft fliegt.
Nasdaq als Vorbild
Zu wünschen wäre es, denn eine dynamische Wirtschaft braucht einen Finanzmarkt, auf dem sich innovative Unternehmen Kapital beschaffen können. Und genau dies ist die Aufgabe des Neuen Marktes. Nur darf es nicht so leichtfertig ablaufen, wie es in der Vergangenheit geschehen ist.
An einer tiefgreifenden Strukturreform dieses Marktes führt kein Weg vorbei. Die veränderten Regeln der Deutschen Börse reichen dazu nicht aus. Sie sollten von allen Beteiligten, den Unternehmern, Beratern, Banken, Medien und den Anlegern selbst als Anregung zu mehr Vernunft und Verantwortungsbewusstsein verstanden werden.
Der Blick auf das Vorbild, die amerikanische Nasdaq, mag dabei Mut machen. Auch die Nasdaq musste in ihrer langjährigen Geschichte ähnliche Herausforderungen überstehen, ehe sie erwachsen wurde.
Im Artikel erwähnte Firmen
EM.TV RTV Intershop Brokat