Am Sonntag wird das Wachstums-Segment der Deutschen Börse fünf Jahre alt, aber zum Feiern ist den Anlegern nicht zumute. Welche Ursachen hat die Krise des Neuen Marktes? Gibt es noch Hoffnung, und was sollte der Anleger tun? Antworten von Andreas Hürkamp, Analyst der WestLB.
mm.de: Die Lage am Neuen Markt ist derzeit so schwarz wie nie zuvor. Dennoch gibt es immer noch einige Fachleute, die durchaus zuversichtlich sind. Wie ist Ihre Einschätzung?
Hürkamp: Der Neue Markt ist in einer tiefen Krise, daran besteht kein Zweifel. Der Vertrauensverlust war einfach sehr stark. Dabei wird allerdings übersehen, dass es durchaus einige Unternehmen gibt, die sehr gut dastehen.
mm.de: Wie ist die desaströse Entwicklung zu erklären? Viele Fachleute sagen, zu vielen Unternehmen hätte die Börsenreife gefehlt. Wie beurteilen Sie das?
Hürkamp: Da ist was dran. Firmen, die an die Börse gehen, sollten natürlich ein stimmiges Geschäftsmodell haben. Und vor allem: Sie sollten in der Lage sein, in absehbarer Zeit Gewinne zu erwirtschaften. Das war in der Boomphase des Neuen Marktes nicht immer der Fall. Da sind zahlreiche Unternehmen an den Neuen Markt gekommen, die eigentlich nicht börsenreif waren. Die müssen jetzt erst mal wieder ausgekehrt werden.
Was man aber auch sehen sollte: Die Nasdaq hat in ihren ersten Jahren genau das gleiche durchgemacht. 1974 hat jeder gesagt: "Das Segment ist tot." Heute wissen wir, dass diese Einschätzung zu negativ war.
mm.de: Kann man die aktuelle Nemax-Krise wirklich mit den Kinderkrankheiten der Nasdaq vergleichen? Das Desaster am Neuen Markt hat doch auch damit zu tun, dass ungeheuer viel Vertrauen zerstört wurde, weil Vorstände, Analysten und Emissions-Banken die Anleger teilweise massiv getäuscht haben.
Hürkamp: Sicher kommt uns das jetzige Ausmaß der Krise gewaltig vor, aber man darf nicht vergessen: An der amerikanischen Wachstumsbörse war das nicht viel anders. Wenn man sich die Berichterstattung aus der damaligen Zeit noch einmal ansieht, liest man immer wieder Begriffe wie "Zockermarkt" und ähnliches.
Man hatte sich darauf geeinigt, dass die Nasdaq immer ein Markt für risikofreudige Kleinanleger bleiben würde. Keiner hätte erwartet, dass das ein ernstzunehmendes Segment werden könnte. Wir sind ziemlich überzeugt, dass die Entwicklung am Neuen Markt ähnlich verlaufen wird.
mm.de: Ist der Vergleich Nemax/Nasdaq nicht etwas gewagt - angesichts der hohen Zahl an Insolvenzen, die es am Neuen Markt gab und weiter geben wird?
Die Entwicklung des Nemax All Share im Vergleich zum Nasdaq 100 (rot)
Hürkamp: Man darf eines nicht vergessen: An Wachstumsmärkten ist es eine ganz normale Sache, dass es Insolvenzen gibt. Das wird auch in Zukunft so sein. Es kann nicht jedes Geschäftsmodell aufgehen. Was wir derzeit sehen, hat vor allem mit zwei Dingen zu tun: Einerseits haben wir eine Konjunkturkrise, andererseits zeigen sich jetzt die Folgen des Umstands, dass zu viele Firmen bei ihrem IPO zuwenig Börsenreife hatten.
mm.de: Teilen Sie die pessimistische Einschätzung vieler Fachleute für die Zukunft des Neuen Marktes?
Hürkamp: Wenn man jetzt zu schwarz malt, macht man den gleichen Fehler wie die Anleger, die damals vor drei Jahren alles zu optimistisch gesehen haben. Wir sind der Meinung, dass es 50 bis 60 gute Geschäftsmodelle bzw. interessante Unternehmen am Neuen Markt gibt.
Sobald die Konjunktur wieder anspringt, werden diese Firmen ihre Stärke zeigen. Das sind die Unternehmen, die am Ende auch die Reputation des Neuen Marktes wieder retten und das Vertrauen der Anleger zurückbringen werden. So sieht unser Szenario aus.
mm.de: Wenn Sie mit dieser These recht behalten sollten, hieße das ja, dass über 250 Unternehmen scheitern werden…
Hürkamp: Wir rechnen langfristig - auch aufgrund der Erfahrungen an der Nasdaq - damit, dass ungefähr 10 Prozent der Firmen pro Jahr das Segment verlassen werden. Das wäre pro Jahr ein Schwund von rund 30 Unternehmen, und für 2002 könnten wir uns sogar vorstellen, dass es bis zu 50 Unternehmen sind. Einige davon werden freiwillig gehen, andere aufgrund von Insolvenz. Das wird den Markt kurzfristig noch einmal belasten, aber am Ende bleiben nur die guten übrig.
mm.de: Was ist Ihrer Ansicht nach der Grund dafür, dass so viele Firmen scheitern werden?
Hürkamp: Ein Grund ist ganz sicher die fehlende Börsenreife vieler Unternehmen beim IPO. Manche Firmen hatten gar kein Geschäftsmodell, andere hatten eines, das lediglich die zehnte Kopie einer erfolgreichen Idee war. Das wurde damals in den Jahren 1999 und 2000 falsch eingeschätzt, daher kamen so viele Firmen an die Börse, die nicht überlebensfähig waren.
mm.de: Aber diese Firmen wurden doch zum großen Teil von Venture-Capital-Firmen an den Markt gebracht. Haben diese die mangelnde Börsenreife ihrer "Exit-Kandidaten" nicht gesehen?
Hürkamp: Das war mit Sicherheit oft der Fall, aber zum Börsengang kam es dann trotzdem. Damit wurde das Risiko kurzerhand verlagert…
mm.de: ...und zwar vom Risikokapitalgeber auf den Anleger?
Hürkamp: So muss man das wohl sagen. Diejenigen, die das Risiko kannten, haben sich von ihrem Investment getrennt und es an diejenigen weitergereicht, die sich der Gefahr nicht so bewusst waren.
mm.de: Hätte die Deutsche Börse das nicht verhindern müssen?
Hürkamp: Da haben Sie absolut recht. Aber es war in den Boomzeiten einfach diese unglaubliche Stimmung, die alles andere übertönt hat. Und im übrigen gab es solche Auswüchse ja auch in anderen Bereichen. Denken Sie an die Versteigerung der UMTS-Lizenzen: Im Nachhinein wird einem da klar, wie irrational das alles war.
Aber ich kann Ihnen da nur zustimmen - wäre man mit etwas mehr Courage an die Sache herangegangen, hätten viele Unternehmen keine Börsenzulassung bekommen dürfen. Dass das nicht geschehen ist, ist mit Sicherheit einer der Gründe für die aktuelle Krise.
mm.de: Nun hat die Deutsche Börse ja einige Maßnahmen beschlossen, um die Regeln zu verschärfen. Reicht das aus?
Hürkamp: Da muss man zunächst mal sehen, dass die Zulassungsregeln ja schon die schärfsten in Europa sind…
mm.de: ...zumindest theoretisch.
Hürkamp: Aber man hat natürlich auch große Fehler gemacht. Zum Beispiel damit, dass man vergessen hat, rechtzeitig eine Penny-Stock-Regelung einzuführen. Das rächt sich jetzt.
Auch in anderen Punkten sehen wir noch Nachbesserungsbedarf, beispielsweise bei den Meldepflichten. In Amerika müssen Vorstände eigene Aktienverkäufe vorher anmelden, das ist am Neuen Markt bis heute anders. Dort müssen Verkäufe erst im Nachhinein gemeldet werden, mit einer Frist von drei Tagen. Das hilft dem Anleger natürlich wenig.
mm.de: Welche weiteren Maßnahmen würden Sie für erforderlich halten?
Hürkamp: Die Börse muss dringend darüber nachdenken, den Nemax 50 durch einen Index mit weniger Werten zu ersetzen. Wir haben rund 320 Werte am Neuen Markt, und davon 50 für einen Index herauszugreifen, ist einfach nicht angemessen. An der Nasdaq ist das anders. Dort gibt es für rund 4000 notierte Werte einen Nasdaq 100. Auf den Neuen Markt übertragen würde das bedeuten, dass wir einen Nemax 10 haben müssten.
mm.de: Was halten Sie von der Berichterstattungspflicht am Neuen Markt?
Hürkamp: Was uns immer wieder ärgert, ist die Unart, dass in den Quartalsberichten die wichtigsten Informationen oft so gut versteckt werden, dass man sie selbst als Fachmann kaum findet. Das muss sich ändern. Die Börse müsste ein stringentes Format vorgeben, das solche Tricksereien nicht mehr ermöglicht.
mm.de: Aber die Deutsche Börse betont doch immer wieder, dass sie ungewöhnlich strenge Regeln hat, die zum Teil sogar strafbewehrt sind. Als Berichterstatter hat man allerdings oft den Eindruck, dass diese Strafen überhaupt nicht ernstgenommen werden. Hätte die Börse da nicht wesentlich rigoroser sein müssen?
Hürkamp: Das würde ich auch sagen.
mm.de: Wie lange wird es Ihrer Meinung nach dauern, bis der Neue Markt sich wieder gefangen hat?
Hürkamp: Wir nehmen an, dass man damit wohl erst Ende 2003 rechnen kann. Bis dahin kann es natürlich noch einige Insolvenzen und auch weitere Betrügereien geben.
mm.de: Auf welche Werte sollte sich der Anleger fokussieren, wenn er nach der Konsolidierung noch einmal am Neuen Markt sein Glück versuchen will?
Hürkamp: Wir haben ein Sektormodell für den Neuen Markt entwickelt, und dabei schneiden zwei Bereiche überdurchschnittlich ab: Technologie und Biotech-Werte. Wir setzen vor allem auf den ersten Sektor. Wenn die Börsen wieder anspringen, wird die Technologie ganz klar der Sieger sein. Dort sind Werte vertreten, die in ihren Bereichen Weltmarktführer sind - Unternehmen wie Süss Microtec und Aixtron .
Die Biotech-Branche finden wir vor allem deshalb so interessant, weil es hier am wenigsten gescheiterte Geschäftsmodelle gab. Werte wie Sanochemia und Qiagen haben noch einiges Potential.
mm.de: Welche anderen Einzelwerte gehören zu Ihren Favoriten?
Hürkamp: Wir haben uns zunächst einmal angesehen, welche Firmen am Neuen Markt bislang nicht enttäuscht haben. Das sind schon etwa zehn Gesellschaften, die wir sehr positiv sehen. Zum Beispiel FJA , Grenke Leasing , Medion und Thiel Logistic . Es ist schon bewundernswert, dass diese Firmen es geschafft haben, trotz des schwierigen Umfeldes befriedigende Zahlen vorzulegen.
Sehr zuversichtlich sind wir auch zum Beispiel auch für Singulus , Teleplan und Augusta . Da sehen wir ein Potential von 100 bis 200 Prozent.
mm.de: Gibt es auch Bereiche, von denen Sie abraten würden?
Hürkamp: Auf jeden Fall. Ein Beispiel ist der Softwaresektor. Dort haben wir etwa 50 Firmen, 40 davon werden es nach unserer Einschätzung nicht schaffen – da kann die Konjunktur machen, was sie will.
mm.de: Abschließende Frage: Würden Sie jetzt schon zum (Wieder-) Einstieg raten?
Hürkamp: Wir setzen vor allem auf die Konjunktur-Erholung, und die scheint nun langsam zu kommen. Viele Indizien deuten darauf hin, dass das Gröbste überstanden ist. Insofern könnte man jetzt damit anfangen, erste Bestände aufzubauen.
mm.de: Die Lage am Neuen Markt ist derzeit so schwarz wie nie zuvor. Dennoch gibt es immer noch einige Fachleute, die durchaus zuversichtlich sind. Wie ist Ihre Einschätzung?
Hürkamp: Der Neue Markt ist in einer tiefen Krise, daran besteht kein Zweifel. Der Vertrauensverlust war einfach sehr stark. Dabei wird allerdings übersehen, dass es durchaus einige Unternehmen gibt, die sehr gut dastehen.
mm.de: Wie ist die desaströse Entwicklung zu erklären? Viele Fachleute sagen, zu vielen Unternehmen hätte die Börsenreife gefehlt. Wie beurteilen Sie das?
Hürkamp: Da ist was dran. Firmen, die an die Börse gehen, sollten natürlich ein stimmiges Geschäftsmodell haben. Und vor allem: Sie sollten in der Lage sein, in absehbarer Zeit Gewinne zu erwirtschaften. Das war in der Boomphase des Neuen Marktes nicht immer der Fall. Da sind zahlreiche Unternehmen an den Neuen Markt gekommen, die eigentlich nicht börsenreif waren. Die müssen jetzt erst mal wieder ausgekehrt werden.
Was man aber auch sehen sollte: Die Nasdaq hat in ihren ersten Jahren genau das gleiche durchgemacht. 1974 hat jeder gesagt: "Das Segment ist tot." Heute wissen wir, dass diese Einschätzung zu negativ war.
mm.de: Kann man die aktuelle Nemax-Krise wirklich mit den Kinderkrankheiten der Nasdaq vergleichen? Das Desaster am Neuen Markt hat doch auch damit zu tun, dass ungeheuer viel Vertrauen zerstört wurde, weil Vorstände, Analysten und Emissions-Banken die Anleger teilweise massiv getäuscht haben.
Hürkamp: Sicher kommt uns das jetzige Ausmaß der Krise gewaltig vor, aber man darf nicht vergessen: An der amerikanischen Wachstumsbörse war das nicht viel anders. Wenn man sich die Berichterstattung aus der damaligen Zeit noch einmal ansieht, liest man immer wieder Begriffe wie "Zockermarkt" und ähnliches.
Man hatte sich darauf geeinigt, dass die Nasdaq immer ein Markt für risikofreudige Kleinanleger bleiben würde. Keiner hätte erwartet, dass das ein ernstzunehmendes Segment werden könnte. Wir sind ziemlich überzeugt, dass die Entwicklung am Neuen Markt ähnlich verlaufen wird.
Bis zu 50 Pleiten in 2002
mm.de: Ist der Vergleich Nemax/Nasdaq nicht etwas gewagt - angesichts der hohen Zahl an Insolvenzen, die es am Neuen Markt gab und weiter geben wird?
Die Entwicklung des Nemax All Share im Vergleich zum Nasdaq 100 (rot)
Hürkamp: Man darf eines nicht vergessen: An Wachstumsmärkten ist es eine ganz normale Sache, dass es Insolvenzen gibt. Das wird auch in Zukunft so sein. Es kann nicht jedes Geschäftsmodell aufgehen. Was wir derzeit sehen, hat vor allem mit zwei Dingen zu tun: Einerseits haben wir eine Konjunkturkrise, andererseits zeigen sich jetzt die Folgen des Umstands, dass zu viele Firmen bei ihrem IPO zuwenig Börsenreife hatten.
mm.de: Teilen Sie die pessimistische Einschätzung vieler Fachleute für die Zukunft des Neuen Marktes?
Hürkamp: Wenn man jetzt zu schwarz malt, macht man den gleichen Fehler wie die Anleger, die damals vor drei Jahren alles zu optimistisch gesehen haben. Wir sind der Meinung, dass es 50 bis 60 gute Geschäftsmodelle bzw. interessante Unternehmen am Neuen Markt gibt.
Sobald die Konjunktur wieder anspringt, werden diese Firmen ihre Stärke zeigen. Das sind die Unternehmen, die am Ende auch die Reputation des Neuen Marktes wieder retten und das Vertrauen der Anleger zurückbringen werden. So sieht unser Szenario aus.
mm.de: Wenn Sie mit dieser These recht behalten sollten, hieße das ja, dass über 250 Unternehmen scheitern werden…
Hürkamp: Wir rechnen langfristig - auch aufgrund der Erfahrungen an der Nasdaq - damit, dass ungefähr 10 Prozent der Firmen pro Jahr das Segment verlassen werden. Das wäre pro Jahr ein Schwund von rund 30 Unternehmen, und für 2002 könnten wir uns sogar vorstellen, dass es bis zu 50 Unternehmen sind. Einige davon werden freiwillig gehen, andere aufgrund von Insolvenz. Das wird den Markt kurzfristig noch einmal belasten, aber am Ende bleiben nur die guten übrig.
mm.de: Was ist Ihrer Ansicht nach der Grund dafür, dass so viele Firmen scheitern werden?
Hürkamp: Ein Grund ist ganz sicher die fehlende Börsenreife vieler Unternehmen beim IPO. Manche Firmen hatten gar kein Geschäftsmodell, andere hatten eines, das lediglich die zehnte Kopie einer erfolgreichen Idee war. Das wurde damals in den Jahren 1999 und 2000 falsch eingeschätzt, daher kamen so viele Firmen an die Börse, die nicht überlebensfähig waren.
Was sich ändern muss
mm.de: Aber diese Firmen wurden doch zum großen Teil von Venture-Capital-Firmen an den Markt gebracht. Haben diese die mangelnde Börsenreife ihrer "Exit-Kandidaten" nicht gesehen?
Hürkamp: Das war mit Sicherheit oft der Fall, aber zum Börsengang kam es dann trotzdem. Damit wurde das Risiko kurzerhand verlagert…
mm.de: ...und zwar vom Risikokapitalgeber auf den Anleger?
Hürkamp: So muss man das wohl sagen. Diejenigen, die das Risiko kannten, haben sich von ihrem Investment getrennt und es an diejenigen weitergereicht, die sich der Gefahr nicht so bewusst waren.
mm.de: Hätte die Deutsche Börse das nicht verhindern müssen?
Hürkamp: Da haben Sie absolut recht. Aber es war in den Boomzeiten einfach diese unglaubliche Stimmung, die alles andere übertönt hat. Und im übrigen gab es solche Auswüchse ja auch in anderen Bereichen. Denken Sie an die Versteigerung der UMTS-Lizenzen: Im Nachhinein wird einem da klar, wie irrational das alles war.
Aber ich kann Ihnen da nur zustimmen - wäre man mit etwas mehr Courage an die Sache herangegangen, hätten viele Unternehmen keine Börsenzulassung bekommen dürfen. Dass das nicht geschehen ist, ist mit Sicherheit einer der Gründe für die aktuelle Krise.
mm.de: Nun hat die Deutsche Börse ja einige Maßnahmen beschlossen, um die Regeln zu verschärfen. Reicht das aus?
Hürkamp: Da muss man zunächst mal sehen, dass die Zulassungsregeln ja schon die schärfsten in Europa sind…
mm.de: ...zumindest theoretisch.
Hürkamp: Aber man hat natürlich auch große Fehler gemacht. Zum Beispiel damit, dass man vergessen hat, rechtzeitig eine Penny-Stock-Regelung einzuführen. Das rächt sich jetzt.
Auch in anderen Punkten sehen wir noch Nachbesserungsbedarf, beispielsweise bei den Meldepflichten. In Amerika müssen Vorstände eigene Aktienverkäufe vorher anmelden, das ist am Neuen Markt bis heute anders. Dort müssen Verkäufe erst im Nachhinein gemeldet werden, mit einer Frist von drei Tagen. Das hilft dem Anleger natürlich wenig.
Die aussichtsreichsten Sektoren
mm.de: Welche weiteren Maßnahmen würden Sie für erforderlich halten?
Hürkamp: Die Börse muss dringend darüber nachdenken, den Nemax 50 durch einen Index mit weniger Werten zu ersetzen. Wir haben rund 320 Werte am Neuen Markt, und davon 50 für einen Index herauszugreifen, ist einfach nicht angemessen. An der Nasdaq ist das anders. Dort gibt es für rund 4000 notierte Werte einen Nasdaq 100. Auf den Neuen Markt übertragen würde das bedeuten, dass wir einen Nemax 10 haben müssten.
mm.de: Was halten Sie von der Berichterstattungspflicht am Neuen Markt?
Hürkamp: Was uns immer wieder ärgert, ist die Unart, dass in den Quartalsberichten die wichtigsten Informationen oft so gut versteckt werden, dass man sie selbst als Fachmann kaum findet. Das muss sich ändern. Die Börse müsste ein stringentes Format vorgeben, das solche Tricksereien nicht mehr ermöglicht.
mm.de: Aber die Deutsche Börse betont doch immer wieder, dass sie ungewöhnlich strenge Regeln hat, die zum Teil sogar strafbewehrt sind. Als Berichterstatter hat man allerdings oft den Eindruck, dass diese Strafen überhaupt nicht ernstgenommen werden. Hätte die Börse da nicht wesentlich rigoroser sein müssen?
Hürkamp: Das würde ich auch sagen.
mm.de: Wie lange wird es Ihrer Meinung nach dauern, bis der Neue Markt sich wieder gefangen hat?
Hürkamp: Wir nehmen an, dass man damit wohl erst Ende 2003 rechnen kann. Bis dahin kann es natürlich noch einige Insolvenzen und auch weitere Betrügereien geben.
mm.de: Auf welche Werte sollte sich der Anleger fokussieren, wenn er nach der Konsolidierung noch einmal am Neuen Markt sein Glück versuchen will?
Hürkamp: Wir haben ein Sektormodell für den Neuen Markt entwickelt, und dabei schneiden zwei Bereiche überdurchschnittlich ab: Technologie und Biotech-Werte. Wir setzen vor allem auf den ersten Sektor. Wenn die Börsen wieder anspringen, wird die Technologie ganz klar der Sieger sein. Dort sind Werte vertreten, die in ihren Bereichen Weltmarktführer sind - Unternehmen wie Süss Microtec und Aixtron .
Die Biotech-Branche finden wir vor allem deshalb so interessant, weil es hier am wenigsten gescheiterte Geschäftsmodelle gab. Werte wie Sanochemia und Qiagen haben noch einiges Potential.
Welche Einzelwerte sind kaufenswert?
mm.de: Welche anderen Einzelwerte gehören zu Ihren Favoriten?
Hürkamp: Wir haben uns zunächst einmal angesehen, welche Firmen am Neuen Markt bislang nicht enttäuscht haben. Das sind schon etwa zehn Gesellschaften, die wir sehr positiv sehen. Zum Beispiel FJA , Grenke Leasing , Medion und Thiel Logistic . Es ist schon bewundernswert, dass diese Firmen es geschafft haben, trotz des schwierigen Umfeldes befriedigende Zahlen vorzulegen.
Sehr zuversichtlich sind wir auch zum Beispiel auch für Singulus , Teleplan und Augusta . Da sehen wir ein Potential von 100 bis 200 Prozent.
mm.de: Gibt es auch Bereiche, von denen Sie abraten würden?
Hürkamp: Auf jeden Fall. Ein Beispiel ist der Softwaresektor. Dort haben wir etwa 50 Firmen, 40 davon werden es nach unserer Einschätzung nicht schaffen – da kann die Konjunktur machen, was sie will.
mm.de: Abschließende Frage: Würden Sie jetzt schon zum (Wieder-) Einstieg raten?
Hürkamp: Wir setzen vor allem auf die Konjunktur-Erholung, und die scheint nun langsam zu kommen. Viele Indizien deuten darauf hin, dass das Gröbste überstanden ist. Insofern könnte man jetzt damit anfangen, erste Bestände aufzubauen.