Neueste Meldung von dpa-AFX Mittwoch, 04.07.2001, 17:31
HINTERGRUND: Neuer Markt im Selektionsprozess - weitere Insolvenzen erwartet
FRANKFURT (dpa-AFX) - Morgens um 10.00 war die Welt im oberbayerischen Heimstetten bei München noch in Ordnung. "Wir halten an unseren Plänen fest", sagte Rita Sander Unternehmenssprecherin beim Neuen-Markt-Aspiranten BainLab AG. Stunden später hatte sie die Realität eingeholt: Die BrainLAB AG verschob ihren Börsengang bis auf weiteres. Das Risiko einer schlechten Kursentwicklung der Aktie sei im momentanen Marktumfeld zu groß, meint der Anbieter von Medizintechnik-Software.
Ein "desolates Marktumfeld für Neuemissionen" ließ am Dienstag auch die Lignum AG ihre Börsensegel streichen. Dabei ist der Hersteller von Holzbearbeitungsmaschinen kein "Hoffnungswert", sondern schon gut am Markt verankert. Von knapp 20 Unternehmen, die seit Januar den Sprung an die Börse gewagt haben, notieren zur Jahresmitte nur fünf oberhalb des Ausgabepreises.
Noch vor zwei Jahren wurden dagegen am Neuen Markt teilweise noch Emissionserlöse von über 300 Prozent eingestrichen. Das ehemalige Wachstumssegme nt steht nach einem hoffnungsvollen Anlauf vor mehr als vier Jahren mittlerweile als Synonym als eine gewaltige Kapitalvernichtsmaschinerie. Von seinem Höchststand bei über 8.559 Punkten im März 2000 ist der Nemax-All-Share bis auf 1.414,49 Punkte in den Keller gerauscht. Durch die unzähligen Hiobsbotschaften wie Insidergeschäfte, Insolvenzverfahren, Untreue, deutlich korrigierte Umsatz- und Gewinnerwartungen hat nicht nur das Vertrauen der privaten, sondern vor allem das institutioneller Investoren gelitten, urteilt Rainer Gerdau, der bei Dresdner Kleinwort Wasserstein für die Strategie europäische Neue Märkte verantwortlich zeichnet.
Für die Analysten von SES Research findet nach wie vor ein Selektionsprozess statt. Trotzdem halte man an der Prognose von 2.800 Punkten für den NEMAX 50 bis zum Jahresende 2001 fest, sagte Robert Suckel, Geschäftsführender Gesellschafter bei SES Research. "Wir sehen auf Jahressicht nach wie vor die Wende am Neuen Markt." Am Mittwochmittag wurde der Index mit einem Minus von 2,10 Prozent bei 1.348,56 Punkten berechnet.
EXPERTE: NUR RUND 20 BIS 30 NEUE MARKT-UNTERNEHMEN FÜR PROFIS INTERESSANT
"Von den rund 350 Unternehmen am Neuen Markt konzentrieren sich die ausländischen Anleger mehrheitlich auf die NEMAX 50-Titel", sagte der Dresdner Bank-Stratege der dpa-AFX. Private inländische Anleger würden jedoch noch in rund 150 Titel des Segments investieren. Nur rund 20 bis 30 Unternehmen des schrumpfenden "Wachstumssegments" sind nach Thomas Effler, Aktienstratege der Commerzbank, noch für die Profis interessant. "Es muss eine gewisse Grundliquidität in den einzelnen Titeln da sein, damit Fonds in Titel investieren können oder sie ohne Probleme am Markt verkaufen können", urteilte Gerdau.
Solange die Gewinne nach unten wegbrechen, ist es nach Ansicht von Gerdau fast unmöglich, seriöse Schätzungen für die Entwicklung der Neuen-Markt-Indizes zu geben. So ging nach Angaben des Datenbankanbieters (Ibis-Konsensus) die Gewinnschätzung der Analysten für den gesamten Neuen Markt für das Jahr 2001 von 800 Mio. Euro im Dezember 2000 auf minus 952 Mio. Euro (15. Juni 2001) zurück, sagte Stratege Gerdau. Für das Jahr 2002 wurden im Dezember 2000 noch 2.820 Mio. Euro erwartet - Mitte Juni reduzierte sich diese Summe auf 695 Mio. Euro.
ANLEGER ERWARTEN NICHT GUTES VON KOMMENDEN QUARTALSZAHLEN
"Am Neuen Markt herrscht die absolute Verzweiflung - sowohl seitens der Anleger als auch der Marktteilnehmer", sagte Jörg Pluta, einer der Geschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW). Da hätten die "guten Unternehmen" gelitten wie Singulus und Qiagen , um nur einige zu nennen, mit dem Zutritt derjenigen Unternehmen, deren Versprechen sich "in vielen Fällen als Windei erwiesen" hätten. Von den in den kommenden Wochen anstehenden Quartalszahlen würden die Anleger jetzt nicht mehr viel erwarten. "Dann bleibt noch die Frage, ob es schon alle Konkurskandida ten aus dem Index geschüttelt hat", äußerte sich ein Marktbeobachter kritisch.
Gerdau fordert deshalb auch, dass der Druck auf die Neue-Markt-Unternehmen weiter zunehmen soll. Durch die Verschärfung des Regelwerks der Deutschen Börse würden die Unternehmen die Bilanzierung jedoch mittlerweile ernster nehmen als vorher, räumte der Dresdner Bank-Experte ein. Über einen Ausschluss der sogenannten Pennystocks - wie in den USA - aus dem Index sollte ebenfalls nachgedacht werden, räumte Gerdau ein.
Aufsichtsräte und Vorstände eines Neuer Markt-Unternehmens müssen seit dem 1. März 2001 alle Geschäfte mit Wertpapieren dieses Unternehmens bei der Deutsche Börse AG melden. Anzeigepflichtig ist auch der Handel mit Derivaten (z.B. Optionsscheine) und Optionen auf Aktien des Unternehmens. Die Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre (SdK), die diese Regelung begrüßt; bemängelt jedoch, dass die Veröffentlichungen der Börse für den Anleger nur beschränkten Nutzwert hätten. Die täglich veröffentlichten Daten geben nur Auskunft über das abgeschlossene Geschäft.
Für den Experten steht zudem außer Frage, dass es in den kommenden drei bis fünf Jahren viele Unternehmen am Neuen Markt so nicht mehr geben wird. "50 bis 100 Unternehmen werden durch Übernahmen und Insolvenz nicht mehr am Markt notiert sein." Commerzbank-Analyst Effler erwartet, dass in den kommenden 12 Monaten weitere 10 Prozent der börsennotierten Gesellschaften wegen Insolvenz vom Kurszettel des Neuen Marktes verschwinden./ep/hn/sk
---Von Elke Pfeifer, dpa-AFX---
HINTERGRUND: Neuer Markt im Selektionsprozess - weitere Insolvenzen erwartet
FRANKFURT (dpa-AFX) - Morgens um 10.00 war die Welt im oberbayerischen Heimstetten bei München noch in Ordnung. "Wir halten an unseren Plänen fest", sagte Rita Sander Unternehmenssprecherin beim Neuen-Markt-Aspiranten BainLab AG. Stunden später hatte sie die Realität eingeholt: Die BrainLAB AG verschob ihren Börsengang bis auf weiteres. Das Risiko einer schlechten Kursentwicklung der Aktie sei im momentanen Marktumfeld zu groß, meint der Anbieter von Medizintechnik-Software.
Ein "desolates Marktumfeld für Neuemissionen" ließ am Dienstag auch die Lignum AG ihre Börsensegel streichen. Dabei ist der Hersteller von Holzbearbeitungsmaschinen kein "Hoffnungswert", sondern schon gut am Markt verankert. Von knapp 20 Unternehmen, die seit Januar den Sprung an die Börse gewagt haben, notieren zur Jahresmitte nur fünf oberhalb des Ausgabepreises.
Noch vor zwei Jahren wurden dagegen am Neuen Markt teilweise noch Emissionserlöse von über 300 Prozent eingestrichen. Das ehemalige Wachstumssegme nt steht nach einem hoffnungsvollen Anlauf vor mehr als vier Jahren mittlerweile als Synonym als eine gewaltige Kapitalvernichtsmaschinerie. Von seinem Höchststand bei über 8.559 Punkten im März 2000 ist der Nemax-All-Share bis auf 1.414,49 Punkte in den Keller gerauscht. Durch die unzähligen Hiobsbotschaften wie Insidergeschäfte, Insolvenzverfahren, Untreue, deutlich korrigierte Umsatz- und Gewinnerwartungen hat nicht nur das Vertrauen der privaten, sondern vor allem das institutioneller Investoren gelitten, urteilt Rainer Gerdau, der bei Dresdner Kleinwort Wasserstein für die Strategie europäische Neue Märkte verantwortlich zeichnet.
Für die Analysten von SES Research findet nach wie vor ein Selektionsprozess statt. Trotzdem halte man an der Prognose von 2.800 Punkten für den NEMAX 50 bis zum Jahresende 2001 fest, sagte Robert Suckel, Geschäftsführender Gesellschafter bei SES Research. "Wir sehen auf Jahressicht nach wie vor die Wende am Neuen Markt." Am Mittwochmittag wurde der Index mit einem Minus von 2,10 Prozent bei 1.348,56 Punkten berechnet.
EXPERTE: NUR RUND 20 BIS 30 NEUE MARKT-UNTERNEHMEN FÜR PROFIS INTERESSANT
"Von den rund 350 Unternehmen am Neuen Markt konzentrieren sich die ausländischen Anleger mehrheitlich auf die NEMAX 50-Titel", sagte der Dresdner Bank-Stratege der dpa-AFX. Private inländische Anleger würden jedoch noch in rund 150 Titel des Segments investieren. Nur rund 20 bis 30 Unternehmen des schrumpfenden "Wachstumssegments" sind nach Thomas Effler, Aktienstratege der Commerzbank, noch für die Profis interessant. "Es muss eine gewisse Grundliquidität in den einzelnen Titeln da sein, damit Fonds in Titel investieren können oder sie ohne Probleme am Markt verkaufen können", urteilte Gerdau.
Solange die Gewinne nach unten wegbrechen, ist es nach Ansicht von Gerdau fast unmöglich, seriöse Schätzungen für die Entwicklung der Neuen-Markt-Indizes zu geben. So ging nach Angaben des Datenbankanbieters (Ibis-Konsensus) die Gewinnschätzung der Analysten für den gesamten Neuen Markt für das Jahr 2001 von 800 Mio. Euro im Dezember 2000 auf minus 952 Mio. Euro (15. Juni 2001) zurück, sagte Stratege Gerdau. Für das Jahr 2002 wurden im Dezember 2000 noch 2.820 Mio. Euro erwartet - Mitte Juni reduzierte sich diese Summe auf 695 Mio. Euro.
ANLEGER ERWARTEN NICHT GUTES VON KOMMENDEN QUARTALSZAHLEN
"Am Neuen Markt herrscht die absolute Verzweiflung - sowohl seitens der Anleger als auch der Marktteilnehmer", sagte Jörg Pluta, einer der Geschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW). Da hätten die "guten Unternehmen" gelitten wie Singulus und Qiagen , um nur einige zu nennen, mit dem Zutritt derjenigen Unternehmen, deren Versprechen sich "in vielen Fällen als Windei erwiesen" hätten. Von den in den kommenden Wochen anstehenden Quartalszahlen würden die Anleger jetzt nicht mehr viel erwarten. "Dann bleibt noch die Frage, ob es schon alle Konkurskandida ten aus dem Index geschüttelt hat", äußerte sich ein Marktbeobachter kritisch.
Gerdau fordert deshalb auch, dass der Druck auf die Neue-Markt-Unternehmen weiter zunehmen soll. Durch die Verschärfung des Regelwerks der Deutschen Börse würden die Unternehmen die Bilanzierung jedoch mittlerweile ernster nehmen als vorher, räumte der Dresdner Bank-Experte ein. Über einen Ausschluss der sogenannten Pennystocks - wie in den USA - aus dem Index sollte ebenfalls nachgedacht werden, räumte Gerdau ein.
Aufsichtsräte und Vorstände eines Neuer Markt-Unternehmens müssen seit dem 1. März 2001 alle Geschäfte mit Wertpapieren dieses Unternehmens bei der Deutsche Börse AG melden. Anzeigepflichtig ist auch der Handel mit Derivaten (z.B. Optionsscheine) und Optionen auf Aktien des Unternehmens. Die Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre (SdK), die diese Regelung begrüßt; bemängelt jedoch, dass die Veröffentlichungen der Börse für den Anleger nur beschränkten Nutzwert hätten. Die täglich veröffentlichten Daten geben nur Auskunft über das abgeschlossene Geschäft.
Für den Experten steht zudem außer Frage, dass es in den kommenden drei bis fünf Jahren viele Unternehmen am Neuen Markt so nicht mehr geben wird. "50 bis 100 Unternehmen werden durch Übernahmen und Insolvenz nicht mehr am Markt notiert sein." Commerzbank-Analyst Effler erwartet, dass in den kommenden 12 Monaten weitere 10 Prozent der börsennotierten Gesellschaften wegen Insolvenz vom Kurszettel des Neuen Marktes verschwinden./ep/hn/sk
---Von Elke Pfeifer, dpa-AFX---