Pioniere, Goldgräber und Raubritter - eine Ära wird beerdigt
Der Neue Markt und seine Protagonisten werden abgewickelt / Das Wachstumssegment ist am eigenen Geld erstickt / Von Hanno Beck
FRANKFURT, 2. Januar. Eine Ära wird beerdigt: In diesem Jahr wird der Neue Markt, das Symbol für den deutschen Aufbruch in die New Economy, beerdigt. Im Zuge einer radikalen Umgestaltung der Aktienmarktsegmente der Deutschen Börsen werden der Neue Markt und sein kleiner Bruder, der Smax, eingestellt (siehe F.A.Z. vom 27. September). Damit endet eine in vieler Hinsicht bemerkenswerte Ära am deutschen Kapitalmarkt.
Begonnen hatte alles 1997 mit zwei Unternehmen, dem Telekommunikationsunternehmen Mobilcom und dem Maschinenbauer Bertrandt. Der Neue Markt sollte als eigenständiges privatrechtliches Handelssegment auftreten, der Fokus des Marktes sollte auf kleinen, innovativen Unternehmen mit hohem Wachstumspotential liegen - unternehmerische Pioniere, denen das Geld zur Umsetzung ihrer Ideen fehlte. An die Unternehmen, die gelistet wurden, sollten besondere Anforderungen gestellt werden, um das Vertrauen der Investoren zu gewinnen. Nach anfänglich hohen Kursschwankungen lenkten die hohen Kursgewinne am Neuen Markt die Aufmerksamkeit vieler Investoren auf "Deutschlands kleine Nasdaq" - es galt, eine Menge Geld zu verdienen. Aus dem Marktsegment für Pioniere wurde rasch eine Goldgrube, sowohl für viele weitere Unternehmen, die an den Neuen Markt gingen, als auch für die Investoren, denen märchenhafte Kursgewinne winkten. Und vielen Unternehmen spülte der Börsengang mehr Geld in die Taschen, als sie überhaupt ausgeben konnten.
So keimte im Erfolg des Neuen Marktes auch schon die Saat seines Niedergangs: Die anfänglichen Kursgewinne lockten immer neue Anleger in den Markt und damit auch neues Geld, das wiederum zu Kursgewinnen führte. Diese Kursgewinne lockten weitere Anleger in den Markt, die wieder frisches Geld mitbrachten. Unter den neuen Anlegern waren auch Unternehmen des Neuen Marktes, die das viele Geld aus dem Börsengang, mit dem die Anleger sie zuwarfen, gar nicht schnell genug ausgeben konnten. Hier wird der Irrwitz dieses Systems besonders deutlich: Das Geld, das über den Neuen Markt an die Unternehmen geflossen ist und für Kursgewinne gesorgt hat, wurde ein zweites Mal in den Neuen Markt investiert, was weitere Kursgewinne mit sich brachte - die dann wieder weitere Anleger in den Markt lockten: Die Hausse nährt die Hausse.
Und die Hausse nährte sich gut: Gegen Ende des Jahres 2000 entwickelte sich der Neue Markt zu einem gigantischen, dezentralen Schneeballsystem, der Nemax-All-Share-Index stieg innerhalb von drei Jahren von zurückgerechnet 505 auf 8559 Punkte. Die Unsummen von Geld, die geflossen sind, zeigen sich auch in der Marktkapitalisierung, die zu den besten Zeiten des Neuen Marktes 230 Milliarden Euro betrug.
Über das mit einem Aktienengagement verbundene Risiko waren sich wohl viele Anleger nicht bewußt. "Meine Bank wollte mir keinen Kredit für mein Unternehmen geben und riet mir statt dessen, an die Börse zu gehen - das würden derzeit ja alle machen", sagt ein Ex-Vorstand eines mittlerweile auch gescheiterten Neue-Markt-Unternehmens. Mit anderen Worten: Ein Risiko, das eine Bank nicht bereit war zu tragen, wurde an den Neuen Markt getragen und dort auch Anlegern verkauft, die bis vor kurzen noch nicht einmal wußten, wie man "Spareckzins" buchstabiert.
Nicht nur die Anleger, auch viele Firmen folgten dem Ruf des Geldes, und wo so viel Geld investiert wird, erliegt man rasch Versuchungen. Die Banken erlagen der Versuchung, gegen gutes Geld auch Unternehmen an den Markt zu bringen, die nicht börsentauglich waren - die Pleiten am Neuen Markt, deren Reigen Gigabell eröffnete, häuften sich. Und immer noch drängten neue Unternehmen an den Markt: Waren es 1998 noch 46 Neuzugänge an den Neuen Markt, so stieg deren Zahl 1999 auf 140, und noch 2000, als die Kurse bereits den Rückwärtsgang eingelegt hatten, fanden immerhin noch 138 Unternehmen den Weg an das Wachstumssegment. Vielen Unternehmen bekam das billige Geld nicht gut: Von dem Börsenkapital wurden ziel- und planlos Unternehmen in der ganzen Welt gekauft, um die Position als "Marktführer" auszubauen. Doch für viele Unternehmen war der Happen zu groß, sie scheiterten an der Aufgabe, die neuerworbenen Akquisitionen zu konsolidieren und in das Unternehmen zu integrieren. Die von Analysten geforderten und gelobten Zukäufe entwickelten sich zu Geldvernichtern und rissen ihr Mutterunternehmen oft gleich mit in die Tiefe.
Und überhaupt, die Aussicht auf den schnellen Reichtum lockerte die Sitten bei den seriösen Marktteilnehmern und lockte auch unseriöse Geschäftemacher an, die den Neuen Markt auch zu einem Lehrstück in Sachen Börsenbetrug, mangelnder Marktaufsicht und fehlendem Anlegerschutz machten. Getürkte Umsätze, verbotene Insidergeschäfte, geschönte Prognosen, Kursmanipulation - die Liste der Vergehen liest sich wie ein Grundkurs in Börsenstrafrecht, und etliche Neue-Markt-Manager machten Bekanntschaft mit dem deutschen Strafvollzug. Auch die Rolle der Analysten wird heute wesentlich kritischer gesehen, in den Boomphasen interessierte es aber anscheinend niemanden, wenn ein Fondsmanager nebenher noch sein eigenes Börsenmagazin an die Kioske brachte. Es war wie immer, wenn es irgendwo Geld zu verdienen gibt: Den Goldgräbern folgten die Raubritter.
Mit der Zunahme der Betrugsfälle und den zunehmend riskanten Geschäftsmodellen der Unternehmen, die als "Marktführer" an die Börse drängten, erreichte der Neue Markt das letzte Reifestadium einer spekulativen Blase - es kommt zu Auswüchsen und Übertreibungen, die für erfahrene Anleger das Signal zum Ausstieg sind. Damit war das Ende der sich selbst nährenden Hausse eingeläutet: Solche explosiven Systeme fallen in sich zusammen, wenn der Mittelzufluß ins Stocken gerät. Das kann aus zwei Gründen passieren: Es gibt keine neuen Mittel mehr, die angelegt werden können, oder die Anleger verlieren das Vertrauen in die Stabilität des Systems. Beides dürfte wohl der Fall gewesen sein. Die Schlagzeile der "Bild"-Zeitung, in der die erfolgreichsten Aktien gepriesen wurden, galt vielen alten Hasen als Ausstiegssignal - wer bleibe denn jetzt noch übrig, wenn die ganze Bevölkerung bereits investiert sei? "Dienstmädchenhausse" nennt das dann der Profi. Zudem dürften Kurs-Gewinn-Verhältnisse von teilweise 200 bis 300 - wenn man überhaupt von Gewinnen sprechen konnte - dazu geführt haben, daß viele Anleger nachdenklich wurden.
Also wurden erste Gewinne mitgenommen, und das System geriet ins Stocken, denn die stetigen Kursgewinne waren ja der Motor des Marktes. Als verheerend für viele Anleger erwiesen sich wohl auch ihre mangelnde Erfahrung mit solchen Märkten und ihr offenbar nach wie vor unerschütterliches Vertrauen in den Neuen Markt: Kursrückschläge galten als Einstiegsgelegenheit, als Rastplatz auf dem Weg zu weiteren Kursgewinnen. Das führte dazu, daß die spekulative Blase, die sich aufgebaut hatte, nicht mit einem lauten Knall platzte, sondern langsam wie ein Soufflé in sich zusammenfiel - mit schmerzlichen Folgen für Anleger, die bei sinkenden Kursen nachkauften. Der Nemax-All-Share-Index fiel von seinem Hoch auf mittlerweile 400 Punkte - in weniger als drei Jahren. Dementsprechend sank die Marktkapitalisierung auf rund 21 Milliarden Euro.
Das Bild drehte sich auch rasch bei den einst so lukrativen Neuemissionen: 2001 gingen noch 12 Unternehmen an den Neuen Markt - dem standen 26 Abgänge gegenüber. 2002 gab es gerade mal einen Zugang, dem 78 Abgänge gegenüberstanden. Eine Notierung am Neuen Markt wurde für viele Unternehmen zu einem teuren Vergnügen - und zu einem Stigma. Die Zahl der Unternehmen am Neuen Markt sank von 343 in der Spitze auf mittlerweile 240.
Umstritten ist, welche realen Folgen das Platzen dieser Blase für die deutsche Wirtschaft hat. Daß sinkende Vermögenspreise - also sinkende Aktienkurse - den gesamtwirtschaftlichen Konsum drücken und damit für rezessive Tendenzen sorgen können, ist in der Theorie unbestritten. Jedoch bleibt die Frage offen, wie stark dieser Effekt angesichts eines Vermögensschwundes von Milliarden Euro sein kann. Da der Aktien- und Fondsbesitz in der Bundesrepublik nicht so breit gestreut ist wie in den Vereinigten Staaten, könnte diese negative Folge geringer ausfallen als in Amerika. Unbestritten sind jedoch die realen Folgen für die Generation Neuer Markt: Junge, hochqualifizierte Arbeitnehmer haben in Bereichen Beschäftigung gefunden, deren Existenz aus künstlich überhöhten Vermögenspreisen - sprich: Aktienkursen - resultierte. Mit dem Platzen der Blase sind viele dieser Arbeitsplätze als Potemkinsche Dörfer entlarvt worden. Ganze Abteilungen in Banken haben ebenso wie die Unternehmen am Neuen Markt nur eine kurze, von spekulativen Geldern alimentierte Blüte erlebt - jetzt wird diese Generation abgewickelt. Ihre neuen Leitbilder heißen nicht mehr Thomas Haffa oder Kurt Ochner, sondern Florian Gerster oder Peter Hartz. Und auch langfristig könnten die Folgen bedenklich sein: Das Ende des Neuen Marktes könnte sich auf absehbare Zeit als Wachstumshemmnis für die deutsche Wirtschaft erweisen, denn die Idee, eine Kapitalsammelstelle für Wachstumsunternehmen einzurichten, ist ebenso richtig wie die Tatsache, daß der erste Anlauf zur Realisierung dieser Idee unter dem Strich nicht überzeugen kann. Doch ohne Kapital auch keine Innovationen und ohne Innovationen kein Wachstum.
Damit die Idee einer Kapitalsammelstelle für Deutschlands Zukunft wieder Chancen hat, müssen einige Grundvoraussetzungen erfüllt werden: Es bedarf einer Börsen- und Anlegerkultur, in der nicht Gier, sondern Altersvorsorge das zentrale Motiv ist und in der nicht biedere Anleger in hochriskante Börsensegmente gejagt werden, die eigentlich den Profis vorbehalten sein sollten. Es bedarf aber auch einer Medienkultur, die sich einer allgemeinen Hysterie zu entziehen weiß und der Vernunft den Vortritt läßt vor den zugegebenermaßen auflagenträchtigeren 1000-Prozent-Schlagzeilen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.01.2003, Nr. 2 / Seite 21
Der Neue Markt und seine Protagonisten werden abgewickelt / Das Wachstumssegment ist am eigenen Geld erstickt / Von Hanno Beck
FRANKFURT, 2. Januar. Eine Ära wird beerdigt: In diesem Jahr wird der Neue Markt, das Symbol für den deutschen Aufbruch in die New Economy, beerdigt. Im Zuge einer radikalen Umgestaltung der Aktienmarktsegmente der Deutschen Börsen werden der Neue Markt und sein kleiner Bruder, der Smax, eingestellt (siehe F.A.Z. vom 27. September). Damit endet eine in vieler Hinsicht bemerkenswerte Ära am deutschen Kapitalmarkt.
Begonnen hatte alles 1997 mit zwei Unternehmen, dem Telekommunikationsunternehmen Mobilcom und dem Maschinenbauer Bertrandt. Der Neue Markt sollte als eigenständiges privatrechtliches Handelssegment auftreten, der Fokus des Marktes sollte auf kleinen, innovativen Unternehmen mit hohem Wachstumspotential liegen - unternehmerische Pioniere, denen das Geld zur Umsetzung ihrer Ideen fehlte. An die Unternehmen, die gelistet wurden, sollten besondere Anforderungen gestellt werden, um das Vertrauen der Investoren zu gewinnen. Nach anfänglich hohen Kursschwankungen lenkten die hohen Kursgewinne am Neuen Markt die Aufmerksamkeit vieler Investoren auf "Deutschlands kleine Nasdaq" - es galt, eine Menge Geld zu verdienen. Aus dem Marktsegment für Pioniere wurde rasch eine Goldgrube, sowohl für viele weitere Unternehmen, die an den Neuen Markt gingen, als auch für die Investoren, denen märchenhafte Kursgewinne winkten. Und vielen Unternehmen spülte der Börsengang mehr Geld in die Taschen, als sie überhaupt ausgeben konnten.
So keimte im Erfolg des Neuen Marktes auch schon die Saat seines Niedergangs: Die anfänglichen Kursgewinne lockten immer neue Anleger in den Markt und damit auch neues Geld, das wiederum zu Kursgewinnen führte. Diese Kursgewinne lockten weitere Anleger in den Markt, die wieder frisches Geld mitbrachten. Unter den neuen Anlegern waren auch Unternehmen des Neuen Marktes, die das viele Geld aus dem Börsengang, mit dem die Anleger sie zuwarfen, gar nicht schnell genug ausgeben konnten. Hier wird der Irrwitz dieses Systems besonders deutlich: Das Geld, das über den Neuen Markt an die Unternehmen geflossen ist und für Kursgewinne gesorgt hat, wurde ein zweites Mal in den Neuen Markt investiert, was weitere Kursgewinne mit sich brachte - die dann wieder weitere Anleger in den Markt lockten: Die Hausse nährt die Hausse.
Und die Hausse nährte sich gut: Gegen Ende des Jahres 2000 entwickelte sich der Neue Markt zu einem gigantischen, dezentralen Schneeballsystem, der Nemax-All-Share-Index stieg innerhalb von drei Jahren von zurückgerechnet 505 auf 8559 Punkte. Die Unsummen von Geld, die geflossen sind, zeigen sich auch in der Marktkapitalisierung, die zu den besten Zeiten des Neuen Marktes 230 Milliarden Euro betrug.
Über das mit einem Aktienengagement verbundene Risiko waren sich wohl viele Anleger nicht bewußt. "Meine Bank wollte mir keinen Kredit für mein Unternehmen geben und riet mir statt dessen, an die Börse zu gehen - das würden derzeit ja alle machen", sagt ein Ex-Vorstand eines mittlerweile auch gescheiterten Neue-Markt-Unternehmens. Mit anderen Worten: Ein Risiko, das eine Bank nicht bereit war zu tragen, wurde an den Neuen Markt getragen und dort auch Anlegern verkauft, die bis vor kurzen noch nicht einmal wußten, wie man "Spareckzins" buchstabiert.
Nicht nur die Anleger, auch viele Firmen folgten dem Ruf des Geldes, und wo so viel Geld investiert wird, erliegt man rasch Versuchungen. Die Banken erlagen der Versuchung, gegen gutes Geld auch Unternehmen an den Markt zu bringen, die nicht börsentauglich waren - die Pleiten am Neuen Markt, deren Reigen Gigabell eröffnete, häuften sich. Und immer noch drängten neue Unternehmen an den Markt: Waren es 1998 noch 46 Neuzugänge an den Neuen Markt, so stieg deren Zahl 1999 auf 140, und noch 2000, als die Kurse bereits den Rückwärtsgang eingelegt hatten, fanden immerhin noch 138 Unternehmen den Weg an das Wachstumssegment. Vielen Unternehmen bekam das billige Geld nicht gut: Von dem Börsenkapital wurden ziel- und planlos Unternehmen in der ganzen Welt gekauft, um die Position als "Marktführer" auszubauen. Doch für viele Unternehmen war der Happen zu groß, sie scheiterten an der Aufgabe, die neuerworbenen Akquisitionen zu konsolidieren und in das Unternehmen zu integrieren. Die von Analysten geforderten und gelobten Zukäufe entwickelten sich zu Geldvernichtern und rissen ihr Mutterunternehmen oft gleich mit in die Tiefe.
Und überhaupt, die Aussicht auf den schnellen Reichtum lockerte die Sitten bei den seriösen Marktteilnehmern und lockte auch unseriöse Geschäftemacher an, die den Neuen Markt auch zu einem Lehrstück in Sachen Börsenbetrug, mangelnder Marktaufsicht und fehlendem Anlegerschutz machten. Getürkte Umsätze, verbotene Insidergeschäfte, geschönte Prognosen, Kursmanipulation - die Liste der Vergehen liest sich wie ein Grundkurs in Börsenstrafrecht, und etliche Neue-Markt-Manager machten Bekanntschaft mit dem deutschen Strafvollzug. Auch die Rolle der Analysten wird heute wesentlich kritischer gesehen, in den Boomphasen interessierte es aber anscheinend niemanden, wenn ein Fondsmanager nebenher noch sein eigenes Börsenmagazin an die Kioske brachte. Es war wie immer, wenn es irgendwo Geld zu verdienen gibt: Den Goldgräbern folgten die Raubritter.
Mit der Zunahme der Betrugsfälle und den zunehmend riskanten Geschäftsmodellen der Unternehmen, die als "Marktführer" an die Börse drängten, erreichte der Neue Markt das letzte Reifestadium einer spekulativen Blase - es kommt zu Auswüchsen und Übertreibungen, die für erfahrene Anleger das Signal zum Ausstieg sind. Damit war das Ende der sich selbst nährenden Hausse eingeläutet: Solche explosiven Systeme fallen in sich zusammen, wenn der Mittelzufluß ins Stocken gerät. Das kann aus zwei Gründen passieren: Es gibt keine neuen Mittel mehr, die angelegt werden können, oder die Anleger verlieren das Vertrauen in die Stabilität des Systems. Beides dürfte wohl der Fall gewesen sein. Die Schlagzeile der "Bild"-Zeitung, in der die erfolgreichsten Aktien gepriesen wurden, galt vielen alten Hasen als Ausstiegssignal - wer bleibe denn jetzt noch übrig, wenn die ganze Bevölkerung bereits investiert sei? "Dienstmädchenhausse" nennt das dann der Profi. Zudem dürften Kurs-Gewinn-Verhältnisse von teilweise 200 bis 300 - wenn man überhaupt von Gewinnen sprechen konnte - dazu geführt haben, daß viele Anleger nachdenklich wurden.
Also wurden erste Gewinne mitgenommen, und das System geriet ins Stocken, denn die stetigen Kursgewinne waren ja der Motor des Marktes. Als verheerend für viele Anleger erwiesen sich wohl auch ihre mangelnde Erfahrung mit solchen Märkten und ihr offenbar nach wie vor unerschütterliches Vertrauen in den Neuen Markt: Kursrückschläge galten als Einstiegsgelegenheit, als Rastplatz auf dem Weg zu weiteren Kursgewinnen. Das führte dazu, daß die spekulative Blase, die sich aufgebaut hatte, nicht mit einem lauten Knall platzte, sondern langsam wie ein Soufflé in sich zusammenfiel - mit schmerzlichen Folgen für Anleger, die bei sinkenden Kursen nachkauften. Der Nemax-All-Share-Index fiel von seinem Hoch auf mittlerweile 400 Punkte - in weniger als drei Jahren. Dementsprechend sank die Marktkapitalisierung auf rund 21 Milliarden Euro.
Das Bild drehte sich auch rasch bei den einst so lukrativen Neuemissionen: 2001 gingen noch 12 Unternehmen an den Neuen Markt - dem standen 26 Abgänge gegenüber. 2002 gab es gerade mal einen Zugang, dem 78 Abgänge gegenüberstanden. Eine Notierung am Neuen Markt wurde für viele Unternehmen zu einem teuren Vergnügen - und zu einem Stigma. Die Zahl der Unternehmen am Neuen Markt sank von 343 in der Spitze auf mittlerweile 240.
Umstritten ist, welche realen Folgen das Platzen dieser Blase für die deutsche Wirtschaft hat. Daß sinkende Vermögenspreise - also sinkende Aktienkurse - den gesamtwirtschaftlichen Konsum drücken und damit für rezessive Tendenzen sorgen können, ist in der Theorie unbestritten. Jedoch bleibt die Frage offen, wie stark dieser Effekt angesichts eines Vermögensschwundes von Milliarden Euro sein kann. Da der Aktien- und Fondsbesitz in der Bundesrepublik nicht so breit gestreut ist wie in den Vereinigten Staaten, könnte diese negative Folge geringer ausfallen als in Amerika. Unbestritten sind jedoch die realen Folgen für die Generation Neuer Markt: Junge, hochqualifizierte Arbeitnehmer haben in Bereichen Beschäftigung gefunden, deren Existenz aus künstlich überhöhten Vermögenspreisen - sprich: Aktienkursen - resultierte. Mit dem Platzen der Blase sind viele dieser Arbeitsplätze als Potemkinsche Dörfer entlarvt worden. Ganze Abteilungen in Banken haben ebenso wie die Unternehmen am Neuen Markt nur eine kurze, von spekulativen Geldern alimentierte Blüte erlebt - jetzt wird diese Generation abgewickelt. Ihre neuen Leitbilder heißen nicht mehr Thomas Haffa oder Kurt Ochner, sondern Florian Gerster oder Peter Hartz. Und auch langfristig könnten die Folgen bedenklich sein: Das Ende des Neuen Marktes könnte sich auf absehbare Zeit als Wachstumshemmnis für die deutsche Wirtschaft erweisen, denn die Idee, eine Kapitalsammelstelle für Wachstumsunternehmen einzurichten, ist ebenso richtig wie die Tatsache, daß der erste Anlauf zur Realisierung dieser Idee unter dem Strich nicht überzeugen kann. Doch ohne Kapital auch keine Innovationen und ohne Innovationen kein Wachstum.
Damit die Idee einer Kapitalsammelstelle für Deutschlands Zukunft wieder Chancen hat, müssen einige Grundvoraussetzungen erfüllt werden: Es bedarf einer Börsen- und Anlegerkultur, in der nicht Gier, sondern Altersvorsorge das zentrale Motiv ist und in der nicht biedere Anleger in hochriskante Börsensegmente gejagt werden, die eigentlich den Profis vorbehalten sein sollten. Es bedarf aber auch einer Medienkultur, die sich einer allgemeinen Hysterie zu entziehen weiß und der Vernunft den Vortritt läßt vor den zugegebenermaßen auflagenträchtigeren 1000-Prozent-Schlagzeilen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.01.2003, Nr. 2 / Seite 21