Vom Spiegel kopiert. Ich erkenne mich in jedem zweiten Satz wieder und das ist gut.
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Boom oder Baisse? Kaufen, verkaufen oder halten? Die Zitterbörse der vergangenen Wochen stürzte vor allem die Kleinanleger ins Gefühlschaos. Ein Börsengang von Matthias Matussek.
Das Blutbad kündigte sich schon vor Wochen an - auf dem Spielplatz.
Wir schauten zu, wie sich unsere Sprößlinge an die Kehle gingen, und mein Freund Kai fragte: "Meinst du, der Chinese wertet ab?"
Das Bedenkliche war: Ich hatte mit der Frage gerechnet. Die Knirpse würden ihre Angelegenheiten regeln, aber China drückte erheblich auf die Stimmung.
Früher hatten wir übers Kino geredet oder die Bundesliga. Doch in Tagen wie diesen sind Kleinanleger in erster Linie Kleinanleger und als solche auf Insidertips angewiesen, auf ein gutes Informantennetz.
Kai zum Beispiel kennt einen pensionierten Broker und mich. Ich wiederum kenne China aus Zeiten, als ich die "Peking Rundschau" abonniert hatte, und ich weiß, was Schweinefleisch süßsauer auf chinesisch heißt: "Nummer 32".
Unsere Sprößlinge waren mittlerweile in einen ausdauernden Stellungskrieg verwickelt, beschmissen sich mit Sand, andere Kinder gerieten in die Schußlinie, Mütter schrien auf - ich behielt die Nerven.
Für den Kleinanleger ist das wichtigste: Nerven behalten. Der Chinese, meinte ich, würde nie abwerten. Der Asiate im allgemeinen werte ungern ab.
Damit würde er sein Gesicht verlieren. Kai nickte befriedigt. Dann begannen wir vorsichtig, unsere Söhne zu entzerren, und verloren kurzfristig mächtig an Gesicht.
Glückliche Tage. Da war diese leichte '.., Nervosität, dieses untergründige Rumoren, '' aber die Kurse hielten sich noch. Sie notierten nur ein wenig "leichter", wie wir Börsianer sagen. Es war eine andere Epoche, damals, vor
vier Wochen, als die Asienkrise noch im wesentlichen dort stattfand, wo sie hingehörte: in Asien.
Kai und ich sind Aktionäre. Viele sind es, seit die Telekom die Volksaktie erfand. In Amerika hält jeder Aktien, weil er den staatlichen Sicherungssystemen mit Recht mißtraut. Hier sind es gerade mal über acht Prozent. Dennoch: In Espresso-Bars und Altersheimen zwischen Passau und Flensburg wird gezockt, daß sich die Kurse biegen, und wir sind dabei. Wir sind vor allem dabei, seit Anlageberater als konservativ gelten, wenn sie Gewinne auf Wertpapiere von nur 20 Prozent versprechen.
Selbstverständlich leisteten auch die großen Publikumszeitschriften sanfte Überzeugungsarbeit. Die Titelgeschichten des Frühjahrs hatten alle den gleichen Tenor: Noch keine Aktien, du Idiot? Alle anderen werden Millionär und du nicht, du Versager! Erschieß dich!
Unsere Portfolios waren prächtig bestückt. Ein Portfolio ist die Gesamtheit der Aktien, die man sich zulegt. Aktien kaufen macht Spaß, wenn dich jede einzelne anbrüllt: Ich bin das Los der Woche.
Hier was und da was, und davon darf's ein bißchen mehr sein, und auf dem Weg zur Kasse nimmt man noch was für die Kleinen mit.
Wir hatten Blue Chips und Exoten, also solide Großunternehmen und Namen, von denen keiner wußte, was sie eigentlich herstellen- Man wußte nur, daß sich ihr Wert ständig verdoppelte. Wahrscheinlich druckten sie Geld.
Vor allem setzten wir auf Branchen, denen wir die besten Zukunftschancen einräumten. Kai hatte sich auf Technologiewerte spezialisiert, ich auf Altersheime und Potenzmittel. Später nahm ich noch eine Telefongesellschaft
an Bord. Wir leben in einer Gesellschaft, die altert und sexbesessen ist und telefoniert wie verrückt, denn man kann mit Telefonieren so viel Geld sparen, daß man bald Millionär ist und sich zu Manfred Krug auf die Dachterrasse setzen kann.
Es war ein schöner Sommer. Sicher, man litt ein wenig unter dem Dauerregen an der Ostsee, aber die Notierungen auf dem Computerschirm waren alle im grünen Bereich. Beschwingt warf man sich am Strand die Regenhaut über und freute sich des Lebens, ganz nach dem Motto: Geld allein macht auch glücklich.
Der 20. Juli brach den Rekord nach oben. Ich versprach meiner Frau ein neues Auto und meinem Sohn neue, strengere Eltern, wenn er nicht sofort den Gummidelphin herausrückt, der dem netten Mädchen vom Strandkorb nebenan gehört. Auch wenn es in den nachfolgenden Wochen sanft weiterbröckelte: Ich hatte ein geregeltes Familienleben, geregelte Mahlzeiten, und abends las ich meinem Sohn hektographierte Börsenbriefe vor, die von Verfassern mit Doktortiteln und Kinnbart in kleinen Auflagen gegen Gebühr vertrieben
wurden. Man sollte die wesentlichen Dinge des Lebens früh vermitteln. Dazu gehört Insiderwissen!
Börsentechnisch gesprochen, waren Kai und ich unglücklich auf hohem Niveau, denn der Dax, der gerade den Sechstausender Gipfel erklommen hatte, lag nun irgendwo in den hohen Fünftausendern. Eine verdiente Pause, sagten wir uns, eine Art hohes Basislager, um Kräfte für den nächsten Gipfelsturm zu sammeln.
Über den einen oder anderen Kursausreißer nach unten lächelten wir noch abgebrüht, besonders, wenn ernicht die eigene Aktie betraf.
Schließlich weiß jeder, daß eine Veba unter 1oo ein Schnäppchen ist und ein kleiner Kurseinbruch nur eine "notwendige Korrektur".
Sicher machten wir uns Sorgen um Clintons Lewinsky-Verhör. Laien können das nicht wissen, aber der Dow Jones ist prü-de. Ein belastender DNA-Test genügt, und er rutscht nach unten wie eine Präsiden-tenunterhose. Ob man amerikanische Werte abstoßen sollte?
Kleinanleger sind Kosmopoliten, und sie sind kosmopolitischer und solidarischer, als es die Protestgeneration je war. Den Kleinanleger geht alles ganz persönlich an. Während sich der Protestler in den sechziger
Jahren ganz auf unterjochte asiatische Kolonialvölker konzentrieren konnte, muß der Kleinanleger indonesische Mietwagenfirmen und Scherings brasilianische Antibabypillen-Prozesse gleichzeitig im Auge behalten.
Der KIeinanleger drückt den Volkswirtschaften der Welt den Daumen. Er weiß: Wirtschaften und Geldströme sind verflochten. Das schafft Leidensgemeinschaften über Grenzen hinweg. Ich begann in die Tischgebete den Wunsch einzuschließen, daß Venezuela nicht abwertet.
Plötzlich jedoch begann der Berg zu rutschen. Ich legte mentale Übungen ein. Ich murmelte den Namen des japanischen Premiers. Offenbar patzte ich bei der Aussprache, denn meine Frau wurde rot, und mein Sohn wies mich zurecht: "So was sagt man nicht, Papa." Ich fand es bedenklich, daß die
Drachme unter Druck geriet. Dann kaufte ich Veba nach, um zu verbilligen. Ein Schnäppchen.
Das hatte ich bei n-tv gelernt, das ich nun öfter einschaltete. Dann zugreifen, wenn eine Aktie an Boden verloren hat. Allerdings hörte Veba einfach nicht auf, an Wert zu verlieren. Zu spät erfuhr ich, daß es noch eine andere Börsenweisheit gab: "Never catch a falling knife" - versuch nie, ein fallendes Messer aufzufangen. Allerdings: Wann weiß man, ob eine Aktie nur eine fallende Aktie ist oder ein fallendes Messer, daß dir die zuschnappenden Finger durchtrennt?
Die Börsianer auf dem Frankfurter Parkett wußten es auch nicht, weshalb sie sich darauf verlegten, was am meisten Spaß macht. Kaufen. Lächelnde Analysten großer Bankhäuser, die später nie wieder gesehen wurden, empfahlen, jetzt zuzugreifen.
Man lernt eine neue Sprache. Börsensprache. Es gibt zum Beispiel keine schlechten Papiere. Es gibt nur solche, die "langfristig sicher eine gute Anlage sind". Dann heißt es: Finger weg für Rentner und alle anderen über 20, denn man wird sich über diese stinkende Depotleiche jahrzehntelang
ärgern, Morgen für Morgen. Natürlich hatten wir, neben Werten des Neuen Marktes, solide deutsche Edelmarken als Unterfutter mit im Portfolio. Schließlich sind wir keine
Spekulanten, sondern Investoren.
Ein großer Unterschied. Ein Spekulant ist, pfui Deibel, nur an der schnellen Mark interessiert. Ein Investor dagegen kann die Namen der Unternehmen buchstabieren, an denen er Anteile hält, und ist ansonsten ganz besonders an der schnellen Mark interessiert. Kurz gesagt: Ich hätte nie gedacht, daß ich irgendwann in meinem Leben einmal einem Spritzdüsenhersteller die Daumen drücken würde.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Der erste Kurssturz des Dow Jones am 4. August, der bis dahin dritthöchste der Geschichte, traf mich völlig unvorbereitet in den Rücken. Ich war nämlich mit der Asienkrise beschäftigt und paukte gerade eine Liste mit Kaufempfehlungen total unterbewerteter
Aktien "der Zeitschrift" "Capital", als der mir völlig unbekannte Analyst Ralph Acampora den Markt kaputtredete.
Natürlich versuchte ich sofort, ihn wieder hochzureden. Aber bei Kai war besetzt, und im Weißen Haus meldete sich nur der Anrufbeantworter mit der Mitteilung, daß der Präsident im juristischen Sinne nie eine sexuelle Beziehung zum Dow Jones unterhalten habe.
In der Zwischenzeit hatte die internationale Finanzgemeinschaft mich persönlich für die amerikanische Konjunkturabflachung verantwortlich gemacht und mein Portfolio entwertet.
Ich bekam kalte Füße. Ich lag noch knapp vorne. Meine Kriegslist: Ich würde die fallenden Messer an mir vorbeiregnen lassen und sie dann unten einsammeln.
Kai hatte dafür überhaupt kein Verständnis. Weder er noch Carola Ferstl von n-tv. Keine Blondine der Welt ist cooler. Sie hat den Ansatz zu Grübchen und eine Stimme aus Stahl. Und wenn sie von Bullen und Bären spricht, klingt es so, als habe sie jeden einzelnen von ihnen persönlich mit Blicken in die Knie gezwungen.
Alle also redeten auf mich ein: Das mußt du durchstehen, du Kleinanleger!
Du blutest, na und? Wir bluten alle. Offenbar ist das Börsenspiel eine Art Mutprobe. Wer in der Raserei hin auf den Abgrund am längsten auf dem Gas bleibt, hat gewonnen.
Merkwürdige Aktienphilosophie. Die Idee ist: alles stehen lassen, auf alle Ewigkeit. Das Geld komplett in den virtuellen Raum einsperren und nicht antasten, denn den richtigen Zeitpunkt zum Verkauf gibt es nie.
Eine steigende Aktie zu verkaufen ist dumm, weil sie weitersteigen und weitere goldene Eier werfen könnte. Eine fallende Aktie zu verkaufen hieße, Verluste zu realisieren, und ist daher doppeldumm, denn sie könnte die Verluste schon am nächsten Tag mit einem kleinen Anstieg wettgemacht haben.
Es ist wie mit der Bankräuberbeute: Das Geld ist vergraben, und du darfst es nicht anrühren, sonst fliegst du auf.
Allerdings gilt diese Logik offenbar nur für Kleinanleger. Wenn Kurse nach unten rauschen, heißt das ja, daß viele, viele Aktien verkauft werden.
Erwiesenermaßen waren es jedoch nicht Kleinanleger, sondern große Häuser, die da "Gewinne realisierten". Es waren Profis, die Massen abwarfen. Es waren Unternehmenspräsidenten wie der meiner LHS Group, die auf dem Weg nach draußen ihre Aktienoptionen verscherbelten. Und die Kleinanleger standen brav im Regen herum, tapfere Frontschweine, die die Stellung hielten.
Nichts für mich. Meine Anlageberaterin schien persönlich enttäuscht von mir. Ich solle doch nicht kopflos werden. immerhin, ich war ihr wichtig. Ich reimte mir ihre Widerstände so zusammen: Wenn ich jetzt aussteige, ich,
der typische Kleinanleger, steigen alle anderen auch aus. Dann ist die Börse kaputt, Deutschland geht den Bach runter, die Banken entlassen Personal, ihr Mann würde die Scheidung einreichen, und Aufständische würden die Innenstädte plündern. Das ganze System stand auf dem Spiel. Würde ich
ein zweites 1929 verantworten wollen?
Aber sicher. Die Solidarität des Kleinanlegers hat Grenzen, besonders wenn es um eigene Ersparnisse geht. "Nun gut", seufzte sie pikiert, "wenn Sie meinen ..."
Ich schlief eine ruhige Nacht. Und dann wurde das Leben zur Hölle. Ich hatte mich entschlossen, gegen den Dax zu wetten und wiederum gewann der Dax. Das grausame Schicksal hatte ihn gedreht. Auf meinem Computerbildschirm: alles grün. Die Messer fielen nicht mehr, sie hatten Flügel bekommen. Und ich Idiot war auf dem Tiefpunkt abgesprungen (oder der
Marke, die wir alle damals - selige Dax-Zeiten von 5270 - für den Tiefpunkt hielten).
Es gibt nichts Dümmeres. Ich schämte mich. Und nun wurde ich abgestraft von der Lottogemeinschaft der Aktionäre. Kai blickte auf mich herab, Passanten schüttelten den Kopf, wenn sie mich sahen, mein Sohn fragte mich unter Tränen: "Papa, stimmt es, daß du Siemens bei 118 abgestoßen hast?"
Nun waren die Kurse auf und davon. Ich würde mich ihnen ein Lebtag hinterherkaufen müssen. Dann las ich noch, daß Abby Cohen, die große alte Dame der Wall Street, bei ihrer Prognose für ein neues Rekordhoch am Jahresende blieb. Diejenigen also, die die Nerven behalten hatten, würden
demnächst mit ihren neuen Jaguars und BMW Roadstern am Spielplatz vorfahren und ihre Kinder in teuren Privatschulen anmelden.
Ich begann, mir Argumente fürs öffentliche Schulsystem zurechtzulegen und mit den Grünen zu sympathisieren, die den unrechtmäßig erworbenen Reichtum der Jaguar Fahrer wenigstens über den Benzinpreis wieder abschöpfen würden.
Ich murmelte Beschwörungen über den Kurs seiten der "Frankfurter Allgemeinen". Das Wunder - es trat ein. Der Dax
hatte Mitleid. Ein paar Tage später holte er mich dort wieder ab, wo ich abgesprungen war. Ich stieg wieder ein, mit lauter Schnäppchen im Portfolio, ab nach oben.
Das Glück hielt zwei Tage. Dann blieb der Dax ächzend hängen. Dann rasselte er abwärts. Zunächst dachte ich, er wollte nur schnell noch ein paar andereFeiglinge einsammeln. Doch nun hielt er überhaupt nicht mehr an. Er wollte
nur runter. Das Tageslicht verschwand, und ich saß festgeschnallt im Expreß nach unten, hinab in den siebten Kreis der Hölle.
Es sind andere Lebensbedingungen hier unten. Die Tage sind klarer strukturiert. Sie beginnen um 7.15 Uhr mit "Märkte am Morgen" auf n-tv.
Diese berichten halbstündlich von der Stimmung auf dem Parkett.
Man muß sich diese Morgenmeditationen als permanent tagende
Selbsterfahrungsgruppe von Börsensüchtigen vorstellen. Sicher, sie reden von "Kurskorrekturen" und tragen Anzüge und zaubern Unterstützungslinien" aus dem Hut, aber "eigentlich sagen sie: Hallo, ich bin der Michael von der Deutschen Bank, und ich hasse mich und meinen Beruf
und bin mit meinem Latein am Ende.
Nach diesen Übungen vor dem Fernseher, die wir Kleinanleger so peinlich genau einhalten wie Strenggläubige die Gebete nach Mekka, beginnt der Tag.
Nun kommt es darauf an, den Sohn einzukleiden, Frühstück zu bereiten, die Wirtschaftsseiten zu lesen und 8o Zigaretten zu rauchen, ohne das Tickerband aus den Augen zu verlieren. Es folgen die Telebörsen von n-tv um 11.30 Uhr, 12.30 Uhr und 13.30 Uhr.
Bis dahin sollte man sich rund tausendmal gefragt haben: Warum bin ich Idiot nicht zwei Jahre früher eingestiegen und zwei Wochen früher ausgestiegen, und dann sollte man sich zutiefst für diesen Fehler verachten.
Es sind Tage der Selbstbegegnung, denn die Börse ist pures Zen. Du hast deine Gefühle unter dem Vergrößerungsglas. Schau sie dir genau an: Gier, Neid, Schadenfreude, Haß, Angst, Panik, alles gute alte Bekannte, von denen du nie etwas wissen wolltest und die jetzt mit dir qualmend auf der
Sofakante sitzen und n-tv gucken.
Es gibt ein paar eiserne Regeln, um hier unten in der Börsenhölle zu überleben. Erstens: Nimm nie das Telefon vor acht Uhr morgens ab, denn es könnte Kai sein, der dir rät, jetzt in thailändische Banken zu investieren.
Zweitens: Nimm auch später nicht das Telefon ab. Es ist Zeitverschwendung.
Man meldet sich selbstvergessen mit "Mannesmann", stammelt
Entschuldigungen, und es gibt ohnehin nichts, absolut nichts, das wichtiger sein könnte als der Kurs deiner LHS-Aktie Drittens: Bitte deine Ehefrau, die Batterien in der Fernbedienung zu ersetzen, bevor sie die Wohnung verläßt, um mit Kind und Kegel zur Mutter zu ziehen. Soviel Zeit muß sein. Viertens: Meide den Umgang mit aktienlosen Freunden, die du wegen ihrer nackten, blöden Aktienlosigkeit früher offen verhöhnt hast.
Fünftens: Wenn ein Experte künftig über einen Wert am Neuen Markt die Wendung gebraucht, "da ist Phantasie drin", mach es wie Odysseus: Wachs in die Ohren, am Mast festbinden, Kreditkarte verbrennen, Selbstsperre für Wall Street, Frankfurt und Tokio.
Sechstens: Die Börse ist pure Psychologie. Sie hat nichts mit Fakten zu tun. Jeder Experte wird jeden erdenklichen Börsenverlauf mit vernünftig klingenden Argumenten belegen können, den neuen Rekordflug genauso wie den Supersupercrash. Mach dich darauf gefaßt, daß der Dax auf minus 18 000 fällt. Dann freust du dich schon, wenn er bei minus 17 000 für eine Weile unentschlossen herumzappelt.
Im Börsen-Voodoo gibt es verschiedene Gruppen. Die exotischste sind wohl die Charttechniker. Wenn sie auftauchen, ist die Party vorbei. Dann wandern die Stühle auf den Tisch, und vom Parkett werden die Blutlachen gewischt.
Die Charttechniker sind vergleichbar mit den Leuten, die todsichere Systeme für den Roulette-Tisch entwickeln. Sie tragen rosa Hemden zu grünen Jacketts, sprechen süddeutsche Dialekte und erläutern auf großen, selbstgefertigten Schautafeln die verschiedenen "Unterstützungslinien" der
Aktienkurse.
Das sind dicke, rote Balken, unter welche die Aktienkurse nicht fallen dürfen, bei Strafe allergrößter Verachtung. Sollten sie es dennoch tun, werden sie von der nächsten unteren Linie aufgefangen. Der Dax haßte diese Linien in den vergangenen Wochen. Er durchschlug sie wie ein beleidigter
Karatekämpfer. Zack, wusch. Dann schmiß er uns die Bretterreste um die Ohren und zog weiter. Nach unten.
Wir Kleinanleger also lagen im Börsenkeller und bluteten. Kai und ich schworen uns stündlich: Sollten wir hier je halbwegs heil wieder herauskommen, würden wir alles auf Postsparbücher transferieren und bei ehrlichen Mikrozinsen ein fortan rechtschaffenes karges Langeweiler-Leben führen.
Das Todesurteil kam schneller als erwartet. Es wurde von Carola Ferstl verlesen. Am Montag vergangener Woche begann sie die Telebörse mit den Worten: "Wenn Sie in den vergangenen Tagen kalte Füße hatten, sollten Sie jetzt besser ausschalten. An der Wall Street gab es ein Blutbad." Innerhalb von drei Minuten war der Dow Jones um 400 Punkte gefallen.
Der Grund waren, wie sollte es anders sein die Russen. Nachdem der junge Premier Kirijenko den Rubel abgewertet hatte, war er selbst abgewertet worden. Nun aber war der von Jelzin vorgeschlagene Kandidat Tschernomyrdin von den Kommunisten in der Duma im ersten Wahlgang abgelehnt worden. Sein Gegenspieler, ein finsterer Altsowjet mit steifem Hut, hatte die freie Börsenwelt zertreten.
Mir war zwar nicht ganz klar, warum Disney-Chef Eisner seine Aktien abstoßen sollte, weil Sjuganow "njet" gesagt hatte , aber Börse ist, wie gesagt, Psychologie. Rot hatte gewonnen.
Kai keuchte von einer neuen Existenz irgendwo auf Mallorca. Ich blieb merkwürdig gefaßt. Mein Sohn würde sich auch in einer Gesamtschule eingliedern lernen. Vielleicht könnte man ihn zur Vorbereitung in einen Selbstverteidigungskurs stecken? Solange unser altes Auto noch nicht auseinanderfällt, könnte ich ihn dorthin fahren.
Der New Yorker Kurssturz war der zweittiefste in der Geschichte. Der Dax stand vor der Börseneröffnung früh am nächsten Morgen auf dem Fenstersims, um zu springen. Doch merkwürdig: Er sprang nicht. Sicher, er begann schwach. Doch dann stand dort Friedhelm Busch, der n-tv-Veteran, auf dem
Frankfurter Parkett und - war gut gelaunt. Nicht nur, weil er seinen 60.
Geburtstag feierte, wie wir im Keller mit großer Rührung vernahmen.
Busch beschenkte uns. Mit seinem grauzerzausten Dirigentenhaupt sieht Friedhelm Busch aus, als sei er in jedem Crash seit 1929 unter die Räder gekommen - und jedesmal wieder aufgestanden. Und nun stand er dort wie ein
siegreicher General.
Tokio hatte eine satte Plusvorgabe geliefert. Der Dax kletterte, er fiel, er fuhr Achterbahn, aber er kletterte. Plötzlich strömte Geld aufs Parkett.
Institutionelle Anleger kauften, statt abzustoßen. Das New Yorker Blutbad vom Vortag blieb in Frankfurt aus. Im Gegenteil.
Als New York später noch mit über ~,2 Milliarden gehandelten Aktien einen neuen Rekord aufstellte und der Dow Jones fast vier Prozent zulegte, läuteten die Osterglocken. Die Erde hatte uns wieder, Kai und mich. Am nächsten Spätnachmittag traf ich ihn auf dem Spielplatz. Wir waren beide gealtert, beide gereift. Wir blinzelten in die Sonne. Unsere Söhne spielten einträchtig mit einem neuen Modellauto, einem Jaguar.
"Willst du jetzt tatsächlich aussteigen?" fragte ich ihn. Er war entgeistert. "Bist du wahnsinnig?" Er hatte zugekauft. Ich auch. So sind wir Kleinanleger. Die wahren Profis. In Schweden ließ man kürzlich einen Analysten gegen einen Affen antreten, der seine Aktien mit Dartpfeilen auswählte. Der Affe gewann.
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Boom oder Baisse? Kaufen, verkaufen oder halten? Die Zitterbörse der vergangenen Wochen stürzte vor allem die Kleinanleger ins Gefühlschaos. Ein Börsengang von Matthias Matussek.
Das Blutbad kündigte sich schon vor Wochen an - auf dem Spielplatz.
Wir schauten zu, wie sich unsere Sprößlinge an die Kehle gingen, und mein Freund Kai fragte: "Meinst du, der Chinese wertet ab?"
Das Bedenkliche war: Ich hatte mit der Frage gerechnet. Die Knirpse würden ihre Angelegenheiten regeln, aber China drückte erheblich auf die Stimmung.
Früher hatten wir übers Kino geredet oder die Bundesliga. Doch in Tagen wie diesen sind Kleinanleger in erster Linie Kleinanleger und als solche auf Insidertips angewiesen, auf ein gutes Informantennetz.
Kai zum Beispiel kennt einen pensionierten Broker und mich. Ich wiederum kenne China aus Zeiten, als ich die "Peking Rundschau" abonniert hatte, und ich weiß, was Schweinefleisch süßsauer auf chinesisch heißt: "Nummer 32".
Unsere Sprößlinge waren mittlerweile in einen ausdauernden Stellungskrieg verwickelt, beschmissen sich mit Sand, andere Kinder gerieten in die Schußlinie, Mütter schrien auf - ich behielt die Nerven.
Für den Kleinanleger ist das wichtigste: Nerven behalten. Der Chinese, meinte ich, würde nie abwerten. Der Asiate im allgemeinen werte ungern ab.
Damit würde er sein Gesicht verlieren. Kai nickte befriedigt. Dann begannen wir vorsichtig, unsere Söhne zu entzerren, und verloren kurzfristig mächtig an Gesicht.
Glückliche Tage. Da war diese leichte '.., Nervosität, dieses untergründige Rumoren, '' aber die Kurse hielten sich noch. Sie notierten nur ein wenig "leichter", wie wir Börsianer sagen. Es war eine andere Epoche, damals, vor
vier Wochen, als die Asienkrise noch im wesentlichen dort stattfand, wo sie hingehörte: in Asien.
Kai und ich sind Aktionäre. Viele sind es, seit die Telekom die Volksaktie erfand. In Amerika hält jeder Aktien, weil er den staatlichen Sicherungssystemen mit Recht mißtraut. Hier sind es gerade mal über acht Prozent. Dennoch: In Espresso-Bars und Altersheimen zwischen Passau und Flensburg wird gezockt, daß sich die Kurse biegen, und wir sind dabei. Wir sind vor allem dabei, seit Anlageberater als konservativ gelten, wenn sie Gewinne auf Wertpapiere von nur 20 Prozent versprechen.
Selbstverständlich leisteten auch die großen Publikumszeitschriften sanfte Überzeugungsarbeit. Die Titelgeschichten des Frühjahrs hatten alle den gleichen Tenor: Noch keine Aktien, du Idiot? Alle anderen werden Millionär und du nicht, du Versager! Erschieß dich!
Unsere Portfolios waren prächtig bestückt. Ein Portfolio ist die Gesamtheit der Aktien, die man sich zulegt. Aktien kaufen macht Spaß, wenn dich jede einzelne anbrüllt: Ich bin das Los der Woche.
Hier was und da was, und davon darf's ein bißchen mehr sein, und auf dem Weg zur Kasse nimmt man noch was für die Kleinen mit.
Wir hatten Blue Chips und Exoten, also solide Großunternehmen und Namen, von denen keiner wußte, was sie eigentlich herstellen- Man wußte nur, daß sich ihr Wert ständig verdoppelte. Wahrscheinlich druckten sie Geld.
Vor allem setzten wir auf Branchen, denen wir die besten Zukunftschancen einräumten. Kai hatte sich auf Technologiewerte spezialisiert, ich auf Altersheime und Potenzmittel. Später nahm ich noch eine Telefongesellschaft
an Bord. Wir leben in einer Gesellschaft, die altert und sexbesessen ist und telefoniert wie verrückt, denn man kann mit Telefonieren so viel Geld sparen, daß man bald Millionär ist und sich zu Manfred Krug auf die Dachterrasse setzen kann.
Es war ein schöner Sommer. Sicher, man litt ein wenig unter dem Dauerregen an der Ostsee, aber die Notierungen auf dem Computerschirm waren alle im grünen Bereich. Beschwingt warf man sich am Strand die Regenhaut über und freute sich des Lebens, ganz nach dem Motto: Geld allein macht auch glücklich.
Der 20. Juli brach den Rekord nach oben. Ich versprach meiner Frau ein neues Auto und meinem Sohn neue, strengere Eltern, wenn er nicht sofort den Gummidelphin herausrückt, der dem netten Mädchen vom Strandkorb nebenan gehört. Auch wenn es in den nachfolgenden Wochen sanft weiterbröckelte: Ich hatte ein geregeltes Familienleben, geregelte Mahlzeiten, und abends las ich meinem Sohn hektographierte Börsenbriefe vor, die von Verfassern mit Doktortiteln und Kinnbart in kleinen Auflagen gegen Gebühr vertrieben
wurden. Man sollte die wesentlichen Dinge des Lebens früh vermitteln. Dazu gehört Insiderwissen!
Börsentechnisch gesprochen, waren Kai und ich unglücklich auf hohem Niveau, denn der Dax, der gerade den Sechstausender Gipfel erklommen hatte, lag nun irgendwo in den hohen Fünftausendern. Eine verdiente Pause, sagten wir uns, eine Art hohes Basislager, um Kräfte für den nächsten Gipfelsturm zu sammeln.
Über den einen oder anderen Kursausreißer nach unten lächelten wir noch abgebrüht, besonders, wenn ernicht die eigene Aktie betraf.
Schließlich weiß jeder, daß eine Veba unter 1oo ein Schnäppchen ist und ein kleiner Kurseinbruch nur eine "notwendige Korrektur".
Sicher machten wir uns Sorgen um Clintons Lewinsky-Verhör. Laien können das nicht wissen, aber der Dow Jones ist prü-de. Ein belastender DNA-Test genügt, und er rutscht nach unten wie eine Präsiden-tenunterhose. Ob man amerikanische Werte abstoßen sollte?
Kleinanleger sind Kosmopoliten, und sie sind kosmopolitischer und solidarischer, als es die Protestgeneration je war. Den Kleinanleger geht alles ganz persönlich an. Während sich der Protestler in den sechziger
Jahren ganz auf unterjochte asiatische Kolonialvölker konzentrieren konnte, muß der Kleinanleger indonesische Mietwagenfirmen und Scherings brasilianische Antibabypillen-Prozesse gleichzeitig im Auge behalten.
Der KIeinanleger drückt den Volkswirtschaften der Welt den Daumen. Er weiß: Wirtschaften und Geldströme sind verflochten. Das schafft Leidensgemeinschaften über Grenzen hinweg. Ich begann in die Tischgebete den Wunsch einzuschließen, daß Venezuela nicht abwertet.
Plötzlich jedoch begann der Berg zu rutschen. Ich legte mentale Übungen ein. Ich murmelte den Namen des japanischen Premiers. Offenbar patzte ich bei der Aussprache, denn meine Frau wurde rot, und mein Sohn wies mich zurecht: "So was sagt man nicht, Papa." Ich fand es bedenklich, daß die
Drachme unter Druck geriet. Dann kaufte ich Veba nach, um zu verbilligen. Ein Schnäppchen.
Das hatte ich bei n-tv gelernt, das ich nun öfter einschaltete. Dann zugreifen, wenn eine Aktie an Boden verloren hat. Allerdings hörte Veba einfach nicht auf, an Wert zu verlieren. Zu spät erfuhr ich, daß es noch eine andere Börsenweisheit gab: "Never catch a falling knife" - versuch nie, ein fallendes Messer aufzufangen. Allerdings: Wann weiß man, ob eine Aktie nur eine fallende Aktie ist oder ein fallendes Messer, daß dir die zuschnappenden Finger durchtrennt?
Die Börsianer auf dem Frankfurter Parkett wußten es auch nicht, weshalb sie sich darauf verlegten, was am meisten Spaß macht. Kaufen. Lächelnde Analysten großer Bankhäuser, die später nie wieder gesehen wurden, empfahlen, jetzt zuzugreifen.
Man lernt eine neue Sprache. Börsensprache. Es gibt zum Beispiel keine schlechten Papiere. Es gibt nur solche, die "langfristig sicher eine gute Anlage sind". Dann heißt es: Finger weg für Rentner und alle anderen über 20, denn man wird sich über diese stinkende Depotleiche jahrzehntelang
ärgern, Morgen für Morgen. Natürlich hatten wir, neben Werten des Neuen Marktes, solide deutsche Edelmarken als Unterfutter mit im Portfolio. Schließlich sind wir keine
Spekulanten, sondern Investoren.
Ein großer Unterschied. Ein Spekulant ist, pfui Deibel, nur an der schnellen Mark interessiert. Ein Investor dagegen kann die Namen der Unternehmen buchstabieren, an denen er Anteile hält, und ist ansonsten ganz besonders an der schnellen Mark interessiert. Kurz gesagt: Ich hätte nie gedacht, daß ich irgendwann in meinem Leben einmal einem Spritzdüsenhersteller die Daumen drücken würde.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Der erste Kurssturz des Dow Jones am 4. August, der bis dahin dritthöchste der Geschichte, traf mich völlig unvorbereitet in den Rücken. Ich war nämlich mit der Asienkrise beschäftigt und paukte gerade eine Liste mit Kaufempfehlungen total unterbewerteter
Aktien "der Zeitschrift" "Capital", als der mir völlig unbekannte Analyst Ralph Acampora den Markt kaputtredete.
Natürlich versuchte ich sofort, ihn wieder hochzureden. Aber bei Kai war besetzt, und im Weißen Haus meldete sich nur der Anrufbeantworter mit der Mitteilung, daß der Präsident im juristischen Sinne nie eine sexuelle Beziehung zum Dow Jones unterhalten habe.
In der Zwischenzeit hatte die internationale Finanzgemeinschaft mich persönlich für die amerikanische Konjunkturabflachung verantwortlich gemacht und mein Portfolio entwertet.
Ich bekam kalte Füße. Ich lag noch knapp vorne. Meine Kriegslist: Ich würde die fallenden Messer an mir vorbeiregnen lassen und sie dann unten einsammeln.
Kai hatte dafür überhaupt kein Verständnis. Weder er noch Carola Ferstl von n-tv. Keine Blondine der Welt ist cooler. Sie hat den Ansatz zu Grübchen und eine Stimme aus Stahl. Und wenn sie von Bullen und Bären spricht, klingt es so, als habe sie jeden einzelnen von ihnen persönlich mit Blicken in die Knie gezwungen.
Alle also redeten auf mich ein: Das mußt du durchstehen, du Kleinanleger!
Du blutest, na und? Wir bluten alle. Offenbar ist das Börsenspiel eine Art Mutprobe. Wer in der Raserei hin auf den Abgrund am längsten auf dem Gas bleibt, hat gewonnen.
Merkwürdige Aktienphilosophie. Die Idee ist: alles stehen lassen, auf alle Ewigkeit. Das Geld komplett in den virtuellen Raum einsperren und nicht antasten, denn den richtigen Zeitpunkt zum Verkauf gibt es nie.
Eine steigende Aktie zu verkaufen ist dumm, weil sie weitersteigen und weitere goldene Eier werfen könnte. Eine fallende Aktie zu verkaufen hieße, Verluste zu realisieren, und ist daher doppeldumm, denn sie könnte die Verluste schon am nächsten Tag mit einem kleinen Anstieg wettgemacht haben.
Es ist wie mit der Bankräuberbeute: Das Geld ist vergraben, und du darfst es nicht anrühren, sonst fliegst du auf.
Allerdings gilt diese Logik offenbar nur für Kleinanleger. Wenn Kurse nach unten rauschen, heißt das ja, daß viele, viele Aktien verkauft werden.
Erwiesenermaßen waren es jedoch nicht Kleinanleger, sondern große Häuser, die da "Gewinne realisierten". Es waren Profis, die Massen abwarfen. Es waren Unternehmenspräsidenten wie der meiner LHS Group, die auf dem Weg nach draußen ihre Aktienoptionen verscherbelten. Und die Kleinanleger standen brav im Regen herum, tapfere Frontschweine, die die Stellung hielten.
Nichts für mich. Meine Anlageberaterin schien persönlich enttäuscht von mir. Ich solle doch nicht kopflos werden. immerhin, ich war ihr wichtig. Ich reimte mir ihre Widerstände so zusammen: Wenn ich jetzt aussteige, ich,
der typische Kleinanleger, steigen alle anderen auch aus. Dann ist die Börse kaputt, Deutschland geht den Bach runter, die Banken entlassen Personal, ihr Mann würde die Scheidung einreichen, und Aufständische würden die Innenstädte plündern. Das ganze System stand auf dem Spiel. Würde ich
ein zweites 1929 verantworten wollen?
Aber sicher. Die Solidarität des Kleinanlegers hat Grenzen, besonders wenn es um eigene Ersparnisse geht. "Nun gut", seufzte sie pikiert, "wenn Sie meinen ..."
Ich schlief eine ruhige Nacht. Und dann wurde das Leben zur Hölle. Ich hatte mich entschlossen, gegen den Dax zu wetten und wiederum gewann der Dax. Das grausame Schicksal hatte ihn gedreht. Auf meinem Computerbildschirm: alles grün. Die Messer fielen nicht mehr, sie hatten Flügel bekommen. Und ich Idiot war auf dem Tiefpunkt abgesprungen (oder der
Marke, die wir alle damals - selige Dax-Zeiten von 5270 - für den Tiefpunkt hielten).
Es gibt nichts Dümmeres. Ich schämte mich. Und nun wurde ich abgestraft von der Lottogemeinschaft der Aktionäre. Kai blickte auf mich herab, Passanten schüttelten den Kopf, wenn sie mich sahen, mein Sohn fragte mich unter Tränen: "Papa, stimmt es, daß du Siemens bei 118 abgestoßen hast?"
Nun waren die Kurse auf und davon. Ich würde mich ihnen ein Lebtag hinterherkaufen müssen. Dann las ich noch, daß Abby Cohen, die große alte Dame der Wall Street, bei ihrer Prognose für ein neues Rekordhoch am Jahresende blieb. Diejenigen also, die die Nerven behalten hatten, würden
demnächst mit ihren neuen Jaguars und BMW Roadstern am Spielplatz vorfahren und ihre Kinder in teuren Privatschulen anmelden.
Ich begann, mir Argumente fürs öffentliche Schulsystem zurechtzulegen und mit den Grünen zu sympathisieren, die den unrechtmäßig erworbenen Reichtum der Jaguar Fahrer wenigstens über den Benzinpreis wieder abschöpfen würden.
Ich murmelte Beschwörungen über den Kurs seiten der "Frankfurter Allgemeinen". Das Wunder - es trat ein. Der Dax
hatte Mitleid. Ein paar Tage später holte er mich dort wieder ab, wo ich abgesprungen war. Ich stieg wieder ein, mit lauter Schnäppchen im Portfolio, ab nach oben.
Das Glück hielt zwei Tage. Dann blieb der Dax ächzend hängen. Dann rasselte er abwärts. Zunächst dachte ich, er wollte nur schnell noch ein paar andereFeiglinge einsammeln. Doch nun hielt er überhaupt nicht mehr an. Er wollte
nur runter. Das Tageslicht verschwand, und ich saß festgeschnallt im Expreß nach unten, hinab in den siebten Kreis der Hölle.
Es sind andere Lebensbedingungen hier unten. Die Tage sind klarer strukturiert. Sie beginnen um 7.15 Uhr mit "Märkte am Morgen" auf n-tv.
Diese berichten halbstündlich von der Stimmung auf dem Parkett.
Man muß sich diese Morgenmeditationen als permanent tagende
Selbsterfahrungsgruppe von Börsensüchtigen vorstellen. Sicher, sie reden von "Kurskorrekturen" und tragen Anzüge und zaubern Unterstützungslinien" aus dem Hut, aber "eigentlich sagen sie: Hallo, ich bin der Michael von der Deutschen Bank, und ich hasse mich und meinen Beruf
und bin mit meinem Latein am Ende.
Nach diesen Übungen vor dem Fernseher, die wir Kleinanleger so peinlich genau einhalten wie Strenggläubige die Gebete nach Mekka, beginnt der Tag.
Nun kommt es darauf an, den Sohn einzukleiden, Frühstück zu bereiten, die Wirtschaftsseiten zu lesen und 8o Zigaretten zu rauchen, ohne das Tickerband aus den Augen zu verlieren. Es folgen die Telebörsen von n-tv um 11.30 Uhr, 12.30 Uhr und 13.30 Uhr.
Bis dahin sollte man sich rund tausendmal gefragt haben: Warum bin ich Idiot nicht zwei Jahre früher eingestiegen und zwei Wochen früher ausgestiegen, und dann sollte man sich zutiefst für diesen Fehler verachten.
Es sind Tage der Selbstbegegnung, denn die Börse ist pures Zen. Du hast deine Gefühle unter dem Vergrößerungsglas. Schau sie dir genau an: Gier, Neid, Schadenfreude, Haß, Angst, Panik, alles gute alte Bekannte, von denen du nie etwas wissen wolltest und die jetzt mit dir qualmend auf der
Sofakante sitzen und n-tv gucken.
Es gibt ein paar eiserne Regeln, um hier unten in der Börsenhölle zu überleben. Erstens: Nimm nie das Telefon vor acht Uhr morgens ab, denn es könnte Kai sein, der dir rät, jetzt in thailändische Banken zu investieren.
Zweitens: Nimm auch später nicht das Telefon ab. Es ist Zeitverschwendung.
Man meldet sich selbstvergessen mit "Mannesmann", stammelt
Entschuldigungen, und es gibt ohnehin nichts, absolut nichts, das wichtiger sein könnte als der Kurs deiner LHS-Aktie Drittens: Bitte deine Ehefrau, die Batterien in der Fernbedienung zu ersetzen, bevor sie die Wohnung verläßt, um mit Kind und Kegel zur Mutter zu ziehen. Soviel Zeit muß sein. Viertens: Meide den Umgang mit aktienlosen Freunden, die du wegen ihrer nackten, blöden Aktienlosigkeit früher offen verhöhnt hast.
Fünftens: Wenn ein Experte künftig über einen Wert am Neuen Markt die Wendung gebraucht, "da ist Phantasie drin", mach es wie Odysseus: Wachs in die Ohren, am Mast festbinden, Kreditkarte verbrennen, Selbstsperre für Wall Street, Frankfurt und Tokio.
Sechstens: Die Börse ist pure Psychologie. Sie hat nichts mit Fakten zu tun. Jeder Experte wird jeden erdenklichen Börsenverlauf mit vernünftig klingenden Argumenten belegen können, den neuen Rekordflug genauso wie den Supersupercrash. Mach dich darauf gefaßt, daß der Dax auf minus 18 000 fällt. Dann freust du dich schon, wenn er bei minus 17 000 für eine Weile unentschlossen herumzappelt.
Im Börsen-Voodoo gibt es verschiedene Gruppen. Die exotischste sind wohl die Charttechniker. Wenn sie auftauchen, ist die Party vorbei. Dann wandern die Stühle auf den Tisch, und vom Parkett werden die Blutlachen gewischt.
Die Charttechniker sind vergleichbar mit den Leuten, die todsichere Systeme für den Roulette-Tisch entwickeln. Sie tragen rosa Hemden zu grünen Jacketts, sprechen süddeutsche Dialekte und erläutern auf großen, selbstgefertigten Schautafeln die verschiedenen "Unterstützungslinien" der
Aktienkurse.
Das sind dicke, rote Balken, unter welche die Aktienkurse nicht fallen dürfen, bei Strafe allergrößter Verachtung. Sollten sie es dennoch tun, werden sie von der nächsten unteren Linie aufgefangen. Der Dax haßte diese Linien in den vergangenen Wochen. Er durchschlug sie wie ein beleidigter
Karatekämpfer. Zack, wusch. Dann schmiß er uns die Bretterreste um die Ohren und zog weiter. Nach unten.
Wir Kleinanleger also lagen im Börsenkeller und bluteten. Kai und ich schworen uns stündlich: Sollten wir hier je halbwegs heil wieder herauskommen, würden wir alles auf Postsparbücher transferieren und bei ehrlichen Mikrozinsen ein fortan rechtschaffenes karges Langeweiler-Leben führen.
Das Todesurteil kam schneller als erwartet. Es wurde von Carola Ferstl verlesen. Am Montag vergangener Woche begann sie die Telebörse mit den Worten: "Wenn Sie in den vergangenen Tagen kalte Füße hatten, sollten Sie jetzt besser ausschalten. An der Wall Street gab es ein Blutbad." Innerhalb von drei Minuten war der Dow Jones um 400 Punkte gefallen.
Der Grund waren, wie sollte es anders sein die Russen. Nachdem der junge Premier Kirijenko den Rubel abgewertet hatte, war er selbst abgewertet worden. Nun aber war der von Jelzin vorgeschlagene Kandidat Tschernomyrdin von den Kommunisten in der Duma im ersten Wahlgang abgelehnt worden. Sein Gegenspieler, ein finsterer Altsowjet mit steifem Hut, hatte die freie Börsenwelt zertreten.
Mir war zwar nicht ganz klar, warum Disney-Chef Eisner seine Aktien abstoßen sollte, weil Sjuganow "njet" gesagt hatte , aber Börse ist, wie gesagt, Psychologie. Rot hatte gewonnen.
Kai keuchte von einer neuen Existenz irgendwo auf Mallorca. Ich blieb merkwürdig gefaßt. Mein Sohn würde sich auch in einer Gesamtschule eingliedern lernen. Vielleicht könnte man ihn zur Vorbereitung in einen Selbstverteidigungskurs stecken? Solange unser altes Auto noch nicht auseinanderfällt, könnte ich ihn dorthin fahren.
Der New Yorker Kurssturz war der zweittiefste in der Geschichte. Der Dax stand vor der Börseneröffnung früh am nächsten Morgen auf dem Fenstersims, um zu springen. Doch merkwürdig: Er sprang nicht. Sicher, er begann schwach. Doch dann stand dort Friedhelm Busch, der n-tv-Veteran, auf dem
Frankfurter Parkett und - war gut gelaunt. Nicht nur, weil er seinen 60.
Geburtstag feierte, wie wir im Keller mit großer Rührung vernahmen.
Busch beschenkte uns. Mit seinem grauzerzausten Dirigentenhaupt sieht Friedhelm Busch aus, als sei er in jedem Crash seit 1929 unter die Räder gekommen - und jedesmal wieder aufgestanden. Und nun stand er dort wie ein
siegreicher General.
Tokio hatte eine satte Plusvorgabe geliefert. Der Dax kletterte, er fiel, er fuhr Achterbahn, aber er kletterte. Plötzlich strömte Geld aufs Parkett.
Institutionelle Anleger kauften, statt abzustoßen. Das New Yorker Blutbad vom Vortag blieb in Frankfurt aus. Im Gegenteil.
Als New York später noch mit über ~,2 Milliarden gehandelten Aktien einen neuen Rekord aufstellte und der Dow Jones fast vier Prozent zulegte, läuteten die Osterglocken. Die Erde hatte uns wieder, Kai und mich. Am nächsten Spätnachmittag traf ich ihn auf dem Spielplatz. Wir waren beide gealtert, beide gereift. Wir blinzelten in die Sonne. Unsere Söhne spielten einträchtig mit einem neuen Modellauto, einem Jaguar.
"Willst du jetzt tatsächlich aussteigen?" fragte ich ihn. Er war entgeistert. "Bist du wahnsinnig?" Er hatte zugekauft. Ich auch. So sind wir Kleinanleger. Die wahren Profis. In Schweden ließ man kürzlich einen Analysten gegen einen Affen antreten, der seine Aktien mit Dartpfeilen auswählte. Der Affe gewann.
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