Edmund Stoiber: Warum? Die Union hat viele Hoffnungsträger.
ZEIT: Trotzdem scheinen Sie sich für Höheres zu positionieren, einen Bundesjob.
Stoiber: Der Eindruck ist falsch, weil Fragesteller außerhalb Bayerns meinen, das Amt des Kanzlers sei etwas Höheres als das des Ministerpräsidenten.
ZEIT: Aber der Union geht es nicht gut.
ZEIT: 54 Prozent der Unionsanhänger wollen Stoiber als Kandidaten, nur 22 Frau Merkel.
Stoiber: Das sind Momentaufnahmen, von denen man sich nicht beeinflussen lassen darf.
Stoiber: Ich sage in aller Deutlichkeit: Ich strebe keine anderen politischen Ämter an.
Im Übrigen halte ich überhaupt nichts von der Schröderschen Reduzierung von Politik auf Personen. Primär ist, ob es der Union in ihrer Gesamtheit gelingt, den Wählern deutlich zu machen, wer die Verantwortung für die Fehlentwicklungen in Deutschland trägt.
ZEIT: Schröder hat gehöhnt, die Union sei nicht einmal oppositions-, geschweige denn regierungsfähig. Betrachtet man das Herumeiern der Union in Fragen wie Arbeitslosigkeit, Einwanderung, Bioethik, Außenpolitik, muss man dem Kanzler wohl Recht geben.
Stoiber: Ich bitte Sie! Die Union hat ein Gesamtkonzept Zuwanderung vorgelegt - bei der Bundesregierung Fehlanzeige. In Sachen Bioethik gibt es in der Bundesregierung einen vielstimmigen Chor. Die Konjunktur bricht ein, und in der Außenpolitik lässt Schröder kaum eine Chance aus, Porzellan zu zerschlagen.
Außerdem wählen die Bürger nach meiner politischen Lebenserfahrung die Opposition nicht wegen deren Güte in die Regierungsverantwortung. Eine Regierung wird abgewählt, die Opposition nicht auserwählt.
ZEIT: Schröder gewinnt also die nächste Wahl.
Stoiber: Davon können Sie nicht ausgehen, weil es vor einem halben Jahr unvorstellbar gewesen wäre, dass seit Monaten die strukturelle Arbeitslosigkeit steigt, die Inflation auf jetzt 3,5 Prozent gewachsen ist und die Rentenerhöhung mit nur 1,9 Prozent nicht einmal mehr die Inflation ausgleicht. Deutschland ist in der Wirtschaft jetzt das Schlusslicht in Europa und ist in Göteborg deshalb kritisiert worden.
ZEIT: Dennoch, auch eine Opposition braucht einen Kandidaten mit Strahlkraft. Und da scheint es auf Sie zuzulaufen. Wenn 54 Prozent den Stoiber wollen, kann Sie das nicht kalt lassen.
Stoiber: Ich sage Ihnen noch einmal, das sind Momentaufnahmen. Und ich sage Ihnen auch ganz klar, die Vorsitzende der CDU, Angela Merkel, hat absolut die Voraussetzung, das politisch wichtigste Amt in Deutschland auszufüllen. Unsere Hauptaufgabe ist es zu sagen, dass dieser Bundeskanzler die Verantwortung für den konjunkturellen Abschwung und den letzten Platz im Wirtschaftswachstum in Europa und beim Abbau der Arbeitslosigkeit trägt. Dazu braucht man in allen Bereichen die richtigen Gesichter: zum Beispiel für die Außenpolitik Rühe, für Renten und Gesundheit Horst Seehofer.
ZEIT: Und Frau Merkel?
Stoiber: Als Parteivorsitzende der CDU steht sie selbstverständlich im Zentrum.
ZEIT: Auch für die Demontage von Schäuble in Berlin? Jetzt wird doch das Personaltableau der CDU arg eng.
stoiber: Das ist doch völliger Unsinn. Auch Wolfgang Schäuble steht voll hinter der Entscheidung der Berliner CDU. Gerade der junge Berliner Spitzenkandidat Frank Steffel ist ein Beweis für das große Personaltableau der Union.
ZEIT: Sie werfen dem Kanzler vor, mal den Bossen, mal den Gewerkschaften Bonbons zuzuwerfen und fordern mehr Deregulierung. Wie weit würden Sie sich denn mit den Gewerkschaften anlegen? Würden Sie den Kündigungsschutz lockern?
Stoiber: Ich halte es jetzt nicht für sinnvoll, über den Kündigungsschutz zu reden, sondern über die Benachteiligung des Mittelstandes durch die Steuerreform und über das neue Betriebsverfassungsgesetz. Das kostet Arbeitsplätze.
ZEIT: In Berlin entsteht mit Unterstützung Schröders eine neue Linksmehrheit. Ein Horror - oder eine Chance für den Wahlkämpfer Stoiber?
Stoiber: Berlin zeigt, dass dem Kanzler die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands wenn nicht gleichgültig, dann doch nachrangig ist gegenüber machtpolitischem Kalkül: Er will eine sichere Mehrheit im Bundesrat. Alle Schwüre - keine Koalition mit der PDS in Berlin - werden jetzt über Bord geworfen. Das wurde von langer Hand vorbereitet, seit den Abendessen mit Bisky, Gysi und Holter. Nur: Eine PDS-Koalition in Berlin wird wirtschaftliche Auswirkungen haben ...
ZEIT: Die PDS will BMW verstaatlichen.
Stoiber: ... die das Land weiter zurückwerfen. Wenn die SPD mit einer Partei paktiert, welche die SPD-geführte Bundesregierung gleichzeitig vom Bundesverfassungsschutz wegen linksextremistischer Bestrebungen beobachten lässt, dann zeigt das schon eine unglaubliche Chuzpe und eine politische Bewusstseinsspaltung. Außerdem führt das zweifelsohne zu einer wirtschaftlichen Spaltung des Landes, weil Unternehmen sich in erster Linie dort ansiedeln, wo diese Leute nicht regieren.
ZEIT: Ihre Partei will über den Länderfinanzausgleich nachdenken, wenn eine Koalition mit der PDS zustande kommt. Eine Drohung?
Stoiber: Nein, das ist keine Drohung. Wir wollen den Finanzausgleich nicht grundsätzlich infrage stellen, aber es ist ein Problem, wenn Länder sich Regierungen wählen, die ganz eindeutig keinen wirtschaftsfreundlichen Kurs fahren, von Vergesellschaftung reden und die ganze Eigentumsordnung ablehnen. Glauben Sie denn, irgendjemand investiert gern in einer Stadt, wo die Mitregierenden linkssozialistischen Träumen nachhängen, wenn er auch in Düsseldorf, München, Italien oder Holland investieren kann?
ZEIT: In der Woche, da Bush in Europa war, haben Schröder und Jospin gemeinsam Front gegen ihn in der Raketenabwehr gemacht. Welche Außenpolitik würden Sie denn betreiben?
Stoiber: Auf jeden Fall würde die Union George W. Bush nicht so unterschätzen, wie es der Bundeskanzler tut, der ihn anscheinend für einen texanischen Cowboy hält. Für uns ist, bei aller Integration Europas, die transatlantische Allianz und Kooperation Teil der Staatsräson der Bundesrepublik. Diese offenkundige Klimastörung, die hier in Kauf genommen wird aus übersteigertem Selbstwertgefühl, ist gefährlich. Ich meine, dass Bush sich in Bezug auf Kyoto noch bewegen muss. Aber man sollte das nicht jetzt in Form einer öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Europa und Amerika, den guten und den bösen Menschen machen. So wird viel außenpolitisches Porzellan zerschlagen.
ZEIT: Warum würden Sie sich für eine Raketenabwehr stark machen?
Stoiber: Weil wir wie die Amerikaner der Meinung sind, dass die Gefahren heute von Schurkenstaaten, von mafiösen Strukturen ausgehen. Das Problem ist nicht der große Konflikt mit Russland oder China oder einem anderen Land, sondern unsere Verwundbarkeit gegen die bin Ladens dieser Welt oder andere Terroristen. Dagegen müssen wir gewappnet sein. Wir Europäer brauchen den Schutz ebenso wie die Russen und Amerikaner.
ZEIT: Also keine strategische Unabhängigkeit von Amerika, wie es sich die Franzosen ...?
Stoiber: ... nein, die Franzosen wollen ja schon lange eine Sicherheitspolitik, die bisher keine Bundesregierung eins zu eins übernommen hat. Schon de Gaulle wollte Europa von Amerika verteidigungspolitisch unabhängig machen. Ich halte das so für falsch, weil ich Amerika auch als eine europäische Nation begreife, als ein Stück Europa. Und weil man die Amerikaner mit einer zu starken eigenständigen Position von Europa wegdrängt. Das ist nicht in unserem wohlverstandenen Interesse. Diese europäische Wurzel Amerikas sollten wir pflegen und fördern.
ZEIT: Bleiben wir bei Europa. Das irische Nein zum Nizza-Vertrag war ein Rückschlag.
Stoiber: Ich habe es eigentlich so kommen sehen. Denn bei allen Volksabstimmungen zu Europa spüren wir inzwischen den wachsenden Unmut der Bürger. Sie ärgern sich über die mangelnde Durchschaubarkeit Brüsseler Entscheidungen.
ZEIT: Hätten Sie auch mit Nein gestimmt?
Stoiber: Ich bin kein Ire. Aber in den vergangenen Jahren ist in Europa etwas fürchterlich schief gelaufen. Die Union entscheidet plötzlich über wichtige Lebensfragen, ohne dass die Menschen genau wissen, wer in Europa eigentlich was zu sagen hat. Konkret: Wer ist eigentlich für den Euro verantwortlich? Das ist für den Bürger nicht mehr transparent.
ZEIT: Sie selbst haben gesagt, man müsste alles, was Europa machen soll, in einem Papier zusammenfassen. Dafür gibt es ein einfaches Wort: Verfassung. Der Kanzler ist dafür. Sie auch?
Stoiber: Nein, das Wort Verfassung suggeriert, Europa sei ein Staat mit einer eigenen Regierung. Das aber wollen wir nicht, weil Europa ein Verbund von Nationalstaaten bleiben muss.
ZEIT: Sie stört also nur das Wort?
Stoiber: Ich bevorzuge den Begriff Grundlagenvertrag oder Verfassungsvertrag ...
ZEIT: ... der was beeinhalten würde?
Stoiber: Eine Grundrechte-Charta und klare Kompetenzabgrenzungen.
ZEIT: Also doch eine Verfassung.
Stoiber: Nur vom Inhalt her. Wir brauchen eindeutige Regelungen darüber, was die Nationalstaaten dürfen und was Brüssel darf. Im Augenblick haben die Menschen doch den Eindruck, es werde über ihre Köpfe hinweg entschieden. Das wichtige und gute Projekt Europa könnte daran scheitern.
ZEIT: Wie wollen Sie dieser miesen Stimmung entgegenwirken?
Stoiber: Indem ich deutlich sage, dass Europa eine Union selbstständiger Staaten mit unterschiedlichen Mentalitäten ist und bleibt. Wir Deutschen hätten die Maul-und-Klauen-Krise nicht so wie die Engländer hingenommen. Wir reagieren nicht so gelassen wie sie. Wir sind halt sensibler, manche sagen sogar: hysterischer. Aber das ist unsere Eigenart, und daran kann Brüssel nichts ändern.
ZEIT: Ist dies die ganze Antwort eines möglichen Kanzlerkandidaten auf die europäische Krise?
Stoiber: Wir müssen die Menschen wieder für die europäische Idee gewinnen. Wir entwerfen die künftige Architektur des Kontinents und bewegen Milliardenbeträge - aber wir sprechen uns nicht darüber aus. Das Volk bleibt außen vor. Wir sollten uns ein Beispiel an den Dänen nehmen, die intensiv über Europa streiten ...
ZEIT: ... und abstimmen.
Stoiber: Ja, warum nicht. Wenn Europa einen Verfassungsvertrag erhält, dann sollte das Volk befragt werden.
ZEIT: Sie sind für ein Plebiszit?
Stoiber: Bei der anstehenden Entscheidung über die umfassende Neufestlegung der Befugnisse Europas und der Mitgliedstaaten bin ich für ein Referendum in Deutschland.
ZEIT: Alle Europäer gemeinsam?
Stoiber: Zunächst sollte jedes Land für sich entscheiden. Im Übrigen sieht auch unser Grundgesetz in Artikel 146 die Möglichkeit einer Volksabstimmung für den Fall vor, dass das Grundgesetz umfassend geändert wird. Und das müsste es ja, wenn ein EU-Verfassungsvertrag kommt. Eine Volksabstimmung wäre zudem ein großer Schritt in Richtung mehr Demokratie und Glaubwürdigkeit in Europa. Das ist ein mühsamer Weg, zwingt aber alle Politiker, sich frühzeitig mit Hoffnungen und Ängsten der Menschen auseinander zu setzen.
ZEIT: Könnten Sie sich auch für Volksabstimmungen in anderen Fragen erwärmen? Bei der Zuwanderung?
Stoiber: Ich bin ein Anhänger der repräsentativen Demokratie. Aber ein wichtiges Thema ist die Zuwanderung allemal, denn dazu gehört alles, was die Menschen bewegt.
ZEIT: Ist für Sie Einwanderungs- auch Bevölkerungspolitik?
Stoiber: Unser demografisches Problem lässt sich nicht durch Einwanderung lösen. In diesem Punkt halte ich den Vorbericht der Süssmuth-Kommission für falsch. Die Überalterung der Gesellschaft lässt sich nicht durch Einwanderung bewältigen.
ZEIT: Sie wollen also nicht mehr, sondern lediglich andere Einwanderer?
Stoiber: Wir brauchen eine Öffnung unseres Landes aus wirtschaftlichen Gründen. Wir müssen im Wettbewerb um die hellsten Köpfe unsere Zuwanderungsregeln anpassen.
ZEIT: Also brauchen wir doch mehr Einwanderer.
Stoiber: Nein, die Gesamtzahl der Zuwanderer darf nicht ansteigen. Je mehr es uns gelingt, die Zuwanderung aus anderen Gründen zu begrenzen und Missbräuche des Asylrechts zu beschränken, desto mehr Möglichkeiten haben wir, qualifizierte Arbeitskräfte ins Land zu holen.
ZEIT: Wollen Sie anders als die CDU dem Asylrecht doch an den Kragen?
Stoiber: In der Europäischen Grundrechtscharta steht bereits, was ich auch im Grundgesetz haben will: eine staatliche Institutsgarantie, aber kein einklagbarer individueller Anspruch auf Asyl. Wenn die Charta Gesetz wird, läuft die Entwicklung ohnehin auf eine institutionelle Garantie hinaus.
ZEIT: Bei der Zuwanderung sucht die Bundesregierung vor dem Wahlkampf 2002 die Einigung mit Ihnen. Nach allem, was Sie hier sagen, stehen die Zeichen dafür nicht sonderlich günstig.
Stoiber: Ich sehe wenig Chancen für eine Einigung. Rot-Grün will die Möglichkeiten, Asyl zu erhalten, eher erweitern statt begrenzen. Und es ist falsch, unser Geburtendefizit durch demografische Zuwanderung ausgleichen zu wollen.
ZEIT:ZEIT: Edmund Stoiber verweigert sich also einer großen Einwanderungslösung?
Stoiber: Zuwanderung gibt es für mich nur, um die Spezialisten zu holen, die wir trotz Aus- und Fortbildung aktuell nicht haben. Alles andere führt in die falsche Richtung. Das ist eine der ganz großen Meinungsverschiedenheiten mit der Regierung. Sehen Sie sich einmal die Umfragen an: Eine überwältigende Mehrheit der Deutschen lehnt mehr Zuwanderung ab. Was für Europa zutrifft, gilt auch hier: Wir dürfen keine Politik über die Köpfe der Menschen hinweg machen.
Die Zeit