SPIEGEL ONLINE - 13. Dezember 2001, 18:37
URL: www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,172590,00.html
Video-Veröffentlichung
"Der Zorn wird intensiviert"
Schon oft haben Video-Veröffentlichungen die amerikanische Öffentlichkeit nachhaltig beeinflusst. Beim neuesten Bin-Laden-Band dürfte das nicht anders sein. Die Wut auf den al-Qaida-Chef wird weiter anschwellen.
Washington - Mit den körnigen Schwarz-Weiß-Bildern von der Ermordung John F. Kennedys fing es an, heute ist es alltäglich: Die Gefühlswelt der Amerikaner ist nicht unwesentlich abhängig von im Fernsehen gesendeten dokumentarischen Bildern. Die öffentliche Meinung wird stark beeinflusst von der TV-Realität.
Amerikanische Politiker wissen, dass dies auch bei dem Video der Fall sein wird, das Osama Bin Laden zeigt, wie er über die Terroranschläge vom 11. September redet. "Dieses Video wird vielen die Augen öffnen", sagte US-Senator Ron Wyden. Will heißen: Niemand in den USA wird noch Zweifel daran haben, dass der al-Qaida-Chef einfach als Staatsfeind Nummer eins gelten muss.
"Es ist etwas an dieser Kombination von Sehen und Hören, dass eine Information noch realer erscheinen lässt", erklärt Robert Lichter die Macht der bewegten Bilder. Lichter ist Präsident des amerikanischen Zentrums für Medien und Öffentliche Angelegenheiten.
Clinton-Video war "seine Kreuzigung"
Beispiele für die Video-Macht gibt es zur Genüge. 1998 wurde das Band veröffentlicht, das die vierstündige Zeugenaussage des damaligen Präsidenten Bill Clinton zu seiner Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky zeigte. Die Amerikaner konnten sehen, wie Clinton sich gegenüber den Anklägern gab und Fragen auswich.
"Ich denke, das war seine Kreuzigung, weil man sah, was er tat", meint Stuart Fischoff, ein Psychologe, der sich auf die Erklärung medialer Phänomene spezialisiert hat. Es sei eine Sache, von etwas zu hören, eine andere, es selbst zu sehen.
1991 waren die Aufnahmen öffentlich zu sehen, die zeigten, wie der Schwarze Rodney King von Polizisten in Los Angeles verprügelt wurde. Kings Anwälte setzten auf den Beweis-Effekt. Allerdings konnte man die Bilder unterschiedlich interpretieren. Als ein Gericht die Polizisten freisprach, waren Tumulte und Unruhen in Los Angeles die Folge.
"Manchmal interpretieren Menschen Dinge, die sie sehen können, auch in einer Art und Weise, die zu dem passt, was sie glauben", so Psychologe Fischoff. Als O.J. Simpson 1994 gefilmt wurde, wie er in seinem Auto den Polizeiwagen davon raste, hätten die Leute sofort geglaubt, "dass er sich der Justiz entzieht und etwas zu verbergen hat".
Übersetzung schwächt den emotionalen Effekt
Was das Bin-Laden-Video angeht, so hoffen offenbar einige US-Offizielle, dass es sogar einen Effekt in der arabischen Welt gibt und Sympathien für den al-Qaida-Führer beseitigt oder gemildert werden. Aber eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums sagte auch: "Die Leute werden ihre eigenen Schlüsse ziehen."
Die Regierung riskiere aber ihre eigene Glaubwürdigkeit, wenn das Video nicht halte, was erste Indiskretionen "versprochen" hätten, erklärte Anthony Perkins, Psychologie-Professor an der Universität von Kalifornien in Santa Cruz.
Die meisten Experten glauben aber, dass die negativen Meinungen über Bin Laden verstärkt werden. "Der Zorn der Amerikaner wird intensiviert", prophezeit Robert Lichter. Allerdings werde der Effekt abgemildert durch die Tatsache, dass der Ton aus dem Arabischen übersetzt werden musste. "Wenn man einfach zuhören und selbst verstehen könnte, wäre das Ganze noch emotionaler."