Dax über 5.500 ist sicher ... so etwas ist Vorstandsvorgabe:
ck Frankfurt - Trotz der durch das Enron-Debakel eingetretenen Verunsicherung der Anleger werden die Aussichten des deutschen Aktienmarktes in den Research-Abteilungen weiterhin positiv beurteilt. Von der Börsen-Zeitung befragte Analysten prognostizierten gestern einen Anstieg des Dax über 5 500.
Die aktuelle Kursschwäche der Aktienmärkte bietet nach Ansicht von Analysten Kaufgelegenheiten. Denn die Enronitis, die von dubiosen Bilanzierungspraktiken ausgelöste Verunsicherung hinsichtlich der Unternehmensgewinne, gilt als vorübergehender Belastungsfaktor, der an der mittelfristigen Perspektive einer Erholung von Konjunktur und Gewinnen nichts ändert.
Künstlich aufgeblasen
Matthias Jörss, Aktienstratege des Bankhauses Sal. Oppenheim sieht in der gegenwärtigen Entwicklung eine gewisse Übertreibung. Es sei allerdings noch nicht klar, ob die Marktschwäche abgeschlossen sei. Hauptproblem seien die immer aggressiveren Gewinnausweise der Vergangenheit, die nun ihren Tribut forderten. Es zeige sich, dass die Ausweise vielfach künstlich aufgeblasen worden seien. Der Glaube an ein kräftiges, weitgehend kontinuierliches Wachstum der Gewinne sei nach dem Enron-Schock aufgegeben worden.
Das Konjunktur- und Gewinnerholungsszenario sei jedoch nach wie vor intakt. Die zugrunde liegenden Unternehmensgewinne hätten begonnen, sich leicht zu verbessern. Vor diesem Hintergrund bieten sich nach Ansicht von Jörss derzeit gute Kaufgelegenheiten. Zum Jahresende erwartet das Bankhaus den Dax bei 5 700. In den kommenden drei Monaten werde sich der Index voraussichtlich in einer Bandbreite von 4 600 bis 5 400 Zählern bewegen, wobei mit einer Annährung an den oberen Bereich der Spanne zum Ende dieses Zeitraums zu rechnen sei, so Jörss.
Weitere Gewinnwarnungen
Kurzfristig litten die Aktienmärkte unter dem Enron-Unsicherheitskomplex, so Gerhard Schwarz, Leiter Portfolio Strategy bei der HypoVereinsbank. Eigenwillige Rechnungslegungspraktiken wie bei Enron müsse man aufgrund des deutschen Bilanzrechts für Deutschland zwar nicht vermuten. Die mit Enron verbundene Verschuldungsproblematik sei jedoch auch im Inland ein Belastungsfaktor. Das Thema Unternehmensgewinne werde in nächster Zeit nicht von der Agenda verschwinden. Denn in den kommenden Wochen müsse außerdem noch mit weiteren Gewinnwarnungen gerechnet werden. So stehe in den USA ab Mitte März die Gewinnwarnungssaison für das erste Kalenderquartal 2002 an.
Auf die mittelfristigen Aussichten habe die derzeitige Verunsicherung um die Unternehmensgewinne jedoch keinen wesentlichen Einfluss. Entscheidend sei vielmehr, dass vermehrt Anzeichen dafür eingingen, dass der Konjunkturaufschwung komme. Dadurch böten sich in dem aktuellen Umfeld gute Gelegenheiten, Positionen aufzubauen. Einstiegsgelegenheiten würden sich in den kommenden Wochen beispielsweise im Technologiesektor ergeben, da dieser ein hohes Potenzial habe, von einer konjunkturellen Erholung zu profitieren. Mittelfristig, d. h. auf Sicht von rund sechs Monaten, erwarte die HypoVereinsbank den Dax bei 5 600 Zählern.
Bei M.M. Warburg erwartet man den Dax zum Jahresende bei 5 550 Punkten. Die Anleger seien durch Enron skeptisch geworden, sagte Helmut Seidenstücker, Anlagestratege des Bankhauses, gestern der Börsen-Zeitung. Tatsächlich sei die Lage jedoch besser als die Stimmung. Die Konjunkturindikatoren zeigten, dass die Rezession beendet sei. Zwar seien die Erwartungen an die Unternehmensgewinne für das Jahr 2002 und 2003 in Teilbereichen noch zu hoch. Die Dynamik der Gewinnschätzungsrevisionen verbessere sich jedoch. Die Raten der Revisionen seien nicht mehr so negativ wie in der Vergangenheit.
Zunächst noch labil
Die Seitwärtsbewegung bzw. der labile Trend werde sich allerdings zunächst noch fortsetzen. Dazu trage bei, dass die Unternehmen derzeit noch sehr stark zögerten, präzise Prognosen für das laufende Jahr abzugeben. Unterbewertet seien an den europäischen Aktienmärkten die Sektoren Finanzdienstleister und Versicherungen. Die Branchen Automobil, Banken, Handel, Industrie, nichtzyklischer Konsum, Healthcare sowie Versorgung seien leicht unterbewertet. Überbewertet seien die Branchen Technologie, zyklischer Konsum, Chemie und Grundstoffe.
Das undifferenzierte Misstrauen auch gegenüber grundsoliden Unternehmen ist übertrieben, sagte Roland Ziegler, Aktienmarktstratege der BHF-Bank Private Banking der Börsen-Zeitung. Durch die Enronitis reagiere der Markt momentan relativ wenig auf die sich langsam verbessernden konjunkturellen Daten. Es lägen deutliche Anzeichen dafür vor, dass die Talsohle möglicherweise bereits durchschritten sei. Die Wahrscheinlichkeit einer Erholung sei deutlich höher als noch vor zwei Monaten. Gegenwärtig stehe jedoch die "Vertrauensfrage" im Vordergrund. Der Markt preise sehr viel Schlechtes ein. Es fehle der Glaube an die Erholung, obwohl dafür immer mehr Belege vorlägen.
Auf Sicht von zwölf Monaten habe der Dax ein Potenzial von 5 700 bis 5 800 Zählern. Aufgrund seiner stark zyklischen Ausrichtung und des relativ hohen Gewichts des Technologiesektors werde der Index überproportional von einer konjunkturellen Erholung profitieren. Überzugewichten seien unter anderem die Sektoren Technologie und Telekommunikation. Allerdings müsse in diesen Bereichen stärker differenziert werden als in den zurückliegenden Boom-Zeiten. So sei im Technologiebereich beispielsweise im Segment Telekommunikationsinfrastruktur Vorsicht geboten. Positiv seien dagegen die Aussichten im Halbleiterbereich. Darüber hinaus seien klassische Zykliker überzugewichten. Unterzugewichten seien Finanzdienstleister und die Pharmabranche. Für die Nahrungsmittelbranche empfehle die BHF-Bank Private Banking eine leichte Untergewichtung.
Börsen-Zeitung, 26.2.2002