Wie sich die Europäische Zentralbank selbst die Arbeit schwer macht
Die Finanzmärkte machen wieder einmal das, was sie immer machen: Sie versuchen, die Zukunft vorwegzunehmen. Kaum zeichnet sich das Ende der weltweiten Wachstumsschwäche ab, spekulieren die Investoren schon wieder darauf, dass die Zentralbanken kräftig die Zinsen erhöhen. Die Wertpapierhändler und Fondsmanager machen dabei eine simple Rechnung auf: Wirtschaftswachstum führt zu Inflation, und um diese zu bekämpfen, müssen die Zentralbanken dieser Welt die Leitzinsen erhöhen. Die Finanzmärkte scheinen Recht zu behalten. Den Anfang machten Mitte März die Schweden und die Neuseeländer. Die anderen, allen voran die auf Preisstabilität verpflichtete Europäische Zentralbank (EZB), werden folgen - das gilt an den Terminmärkten als ausgemachte Sache.
Aber sollte die EZB auch tun, was der Markt verlangt? Bislang hat EZB-Chef Wim Duisenberg nur signalisiert, dass er die Zinsen nicht weiter senken will, und dabei sollte er es auch belassen. Denn die Händler übertreiben wieder einmal. Sie übersehen die riesigen Überkapazitäten in fast allen großen Volkswirtschaften. Während der globalen Rezession haben die Unternehmen ihre Produktion so sehr reduziert, dass die Wirtschaft nun ziemlich lange und kräftig wachsen kann, bevor sie wieder voll ausgelastet ist und mit höheren Preisen auf die steigende Nachfrage antwortet. Zumal von Letzterer zumindest in Euroland ohnehin noch nicht sonderlich viel zu spüren ist.
Wer glaubt, dass sich das demnächst ändert, sollte lieber die europäischen Regierungen beim Wort nehmen, die bis 2004 einen ausgeglichenen Staatshaushalt versprochen haben. Diese Kraftanstrengung bedeutet einen erheblichen gesamtwirtschaftlichen Nachfrageausfall. Die Investmentbank Goldman Sachs schätzt ihn auf rund 1,4 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts, selbst wenn sich die Finanzminister noch bis 2005 Zeit lassen. Kurz, in Europa ist in näherer Zukunft eine hausgemachte Inflation nicht zu befürchten.
Aber da ist ja noch der Ölpreis. Seit der Eskalation im Nahen Osten wird der Rohstoff fast täglich teurer. Zunächst wird sich das in der gesamtwirtschaftlichen Statistik nicht sonderlich bemerkbar machen. Im Mai und Juni stehen trotz teuren Öls die Chancen gut, dass die monatliche Inflationsrate unter die von der EZB definierten Maximalgrenze von zwei Prozent fällt. Das liegt an den so genannten Basiseffekten. Die Preissteigerungen fielen im Mai und Juni des vergangenen Jahres so kräftig aus, dass die diesjährigen dagegen verblassen. Aber das bringt nur vorübergehende Erleichterung. Kein Wunder, dass EZB-Chef Wim Duisenberg die verklausulierte Inflationsprognose für 2002 implizit schon von 1,6 auf 1,9 Prozent erhöht hat. Selbst dafür jedoch müsste sich der Ölpreis wieder in Richtung 20 Dollar je Fass bewegen - von derzeit 27 Dollar. Wenn sich die Lage im Nahen Osten also nicht bald beruhigt, wenn der Ölpreis bis in den Herbst hinein bei klar über 25 Dollar je Fass Rohöl verharrt, wird die europäische Inflationsrate im dritten Jahr in Folge die magische Zweiprozentmarke überschreiten.
Also doch die Zinsen erhöhen? Jetzt rächt sich das 1998 geschnürte Korsett des unnötig engen Inflationsziels. Die Europäer legten es damals fest, um die skeptischen Deutschen zu beruhigen, die an der Bundesbank besonders die Preisstabilität schätzten. Kann es sich die EZB nun erlauben, in den ersten vier Jahren ihrer Existenz dreimal über das Ziel hinauszuschießen?
Sie muss es sogar. Das teure Öl ist für die noch immer geschwächte Wirtschaft schon schlimm genug. Als Faustregel gilt: Eine Erhöhung des Ölpreises von zehn Prozent kostet etwa 0,5 Prozentpunkte Wirtschaftswachstum. Und selbst wenn der Sprit bald wieder billiger wird, erwarten vorsichtige Volkswirte für dieses Jahr in Euroland nur ein Wachstum von zwei Prozent. Höhere Zinsen könnten viele Unternehmen da kaum verkraften. Würde die EZB nun allein wegen ihrer Reputation als strenger Preiswächter Euroland zurück in die Rezession stoßen, wäre das unverantwortlich. Also heißt es, Augen zu und Finger weg von den Leitzinsen.
Klüger wäre es, endlich das enge Inflationsziel zu ändern, das mit und ohne Ölpreis langfristig die Wirtschaft einschnürt und so die Arbeitslosigkeit hoch hält. Die Europäische Zentralbank wird nicht umhinkönnen, irgendwann ihren heutigen Zielkorridor von null bis zwei Prozent neu festzulegen. Sie könnte dann zum Beispiel ins Feld führen, dass ein etwas großzügigerer Korridor, etwa von ein bis drei oder zwei bis drei Prozent sogar gut für die Wirtschaft ist.
Zwei Gründe sprechen für ein höheres Inflationsziel. Erstens liegt die gemessene Inflation in der Regel um etwa 0,5 bis einen Prozentpunkt über der tatsächlichen Inflation. Das liegt daran, dass die statistischen Ämter den Warenkorb, der die Preissteigerungen misst, nur alle paar Jahre neu bestücken. Mit der Zeit ersetzen Verbraucher jedoch teurer gewordene Güter durch günstigere. Auch die Qualität der Waren verbessert sich ständig, die Speicherkapazität der Computer wird größer, die Ausstattungen in den Autos luxuriöser. Die Verbraucher bekommen also oft auch mehr, wenn sie etwas mehr zahlen müssen. Das aber bedeutet, absolute Preisstabilität ist schon oberhalb der Nulllinie erreicht.
Zweitens sind Preise, vor allem Löhne, oftmals nominal rigide, das heißt, sie fallen selten. Damit es dennoch zu realen Preisverschiebungen zwischen einzelnen Gütern kommen kann, bedarf es der Hilfe der Inflation. Je höher die tolerierte Rate ist, desto leichter kann das Problem der nach unten starren nominalen Preise bewältigt werden. Denn die sich ändernden Bedürfnisse der Konsumenten führen immer zu Preisverschiebungen. Steigt die Nachfrage nach einem Produkt stark an, steigt auch sein Preis. Höhere Preise zeigen wiederum den Produzenten die Knappheit an und lassen sie mehr von den begehrten Gütern fertigen. Wenn aber die Preise anderer Güter nicht im gleichen Ausmaß fallen, kommt es zwangsläufig zu Inflation. Wird sie dann mit Zinserhöhungen bekämpft, leidet die Konjunktur unnötig. Wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, hat Euroland keine sonderlich flexiblen Güter- und Dienstleistungsmärkte. Selbst Länder, denen eine geringere Regulierungsdichte zugebilligt wird, wie England oder die USA, haben ein höheres Inflationsziel. Die britische Notenbank etwa peilt explizit 2,5 Prozent an, die amerikanische Federal Reserve implizit 2,5 bis 3 Prozent.
Die EZB sollte sich also endlich eingestehen, dass sie 1998 das Korsett zu eng geschnürt hat. Es ist Zeit, ein wenig mehr Inflation zu wagen.
Die Finanzmärkte machen wieder einmal das, was sie immer machen: Sie versuchen, die Zukunft vorwegzunehmen. Kaum zeichnet sich das Ende der weltweiten Wachstumsschwäche ab, spekulieren die Investoren schon wieder darauf, dass die Zentralbanken kräftig die Zinsen erhöhen. Die Wertpapierhändler und Fondsmanager machen dabei eine simple Rechnung auf: Wirtschaftswachstum führt zu Inflation, und um diese zu bekämpfen, müssen die Zentralbanken dieser Welt die Leitzinsen erhöhen. Die Finanzmärkte scheinen Recht zu behalten. Den Anfang machten Mitte März die Schweden und die Neuseeländer. Die anderen, allen voran die auf Preisstabilität verpflichtete Europäische Zentralbank (EZB), werden folgen - das gilt an den Terminmärkten als ausgemachte Sache.
Aber sollte die EZB auch tun, was der Markt verlangt? Bislang hat EZB-Chef Wim Duisenberg nur signalisiert, dass er die Zinsen nicht weiter senken will, und dabei sollte er es auch belassen. Denn die Händler übertreiben wieder einmal. Sie übersehen die riesigen Überkapazitäten in fast allen großen Volkswirtschaften. Während der globalen Rezession haben die Unternehmen ihre Produktion so sehr reduziert, dass die Wirtschaft nun ziemlich lange und kräftig wachsen kann, bevor sie wieder voll ausgelastet ist und mit höheren Preisen auf die steigende Nachfrage antwortet. Zumal von Letzterer zumindest in Euroland ohnehin noch nicht sonderlich viel zu spüren ist.
Wer glaubt, dass sich das demnächst ändert, sollte lieber die europäischen Regierungen beim Wort nehmen, die bis 2004 einen ausgeglichenen Staatshaushalt versprochen haben. Diese Kraftanstrengung bedeutet einen erheblichen gesamtwirtschaftlichen Nachfrageausfall. Die Investmentbank Goldman Sachs schätzt ihn auf rund 1,4 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts, selbst wenn sich die Finanzminister noch bis 2005 Zeit lassen. Kurz, in Europa ist in näherer Zukunft eine hausgemachte Inflation nicht zu befürchten.
Aber da ist ja noch der Ölpreis. Seit der Eskalation im Nahen Osten wird der Rohstoff fast täglich teurer. Zunächst wird sich das in der gesamtwirtschaftlichen Statistik nicht sonderlich bemerkbar machen. Im Mai und Juni stehen trotz teuren Öls die Chancen gut, dass die monatliche Inflationsrate unter die von der EZB definierten Maximalgrenze von zwei Prozent fällt. Das liegt an den so genannten Basiseffekten. Die Preissteigerungen fielen im Mai und Juni des vergangenen Jahres so kräftig aus, dass die diesjährigen dagegen verblassen. Aber das bringt nur vorübergehende Erleichterung. Kein Wunder, dass EZB-Chef Wim Duisenberg die verklausulierte Inflationsprognose für 2002 implizit schon von 1,6 auf 1,9 Prozent erhöht hat. Selbst dafür jedoch müsste sich der Ölpreis wieder in Richtung 20 Dollar je Fass bewegen - von derzeit 27 Dollar. Wenn sich die Lage im Nahen Osten also nicht bald beruhigt, wenn der Ölpreis bis in den Herbst hinein bei klar über 25 Dollar je Fass Rohöl verharrt, wird die europäische Inflationsrate im dritten Jahr in Folge die magische Zweiprozentmarke überschreiten.
Also doch die Zinsen erhöhen? Jetzt rächt sich das 1998 geschnürte Korsett des unnötig engen Inflationsziels. Die Europäer legten es damals fest, um die skeptischen Deutschen zu beruhigen, die an der Bundesbank besonders die Preisstabilität schätzten. Kann es sich die EZB nun erlauben, in den ersten vier Jahren ihrer Existenz dreimal über das Ziel hinauszuschießen?
Sie muss es sogar. Das teure Öl ist für die noch immer geschwächte Wirtschaft schon schlimm genug. Als Faustregel gilt: Eine Erhöhung des Ölpreises von zehn Prozent kostet etwa 0,5 Prozentpunkte Wirtschaftswachstum. Und selbst wenn der Sprit bald wieder billiger wird, erwarten vorsichtige Volkswirte für dieses Jahr in Euroland nur ein Wachstum von zwei Prozent. Höhere Zinsen könnten viele Unternehmen da kaum verkraften. Würde die EZB nun allein wegen ihrer Reputation als strenger Preiswächter Euroland zurück in die Rezession stoßen, wäre das unverantwortlich. Also heißt es, Augen zu und Finger weg von den Leitzinsen.
Klüger wäre es, endlich das enge Inflationsziel zu ändern, das mit und ohne Ölpreis langfristig die Wirtschaft einschnürt und so die Arbeitslosigkeit hoch hält. Die Europäische Zentralbank wird nicht umhinkönnen, irgendwann ihren heutigen Zielkorridor von null bis zwei Prozent neu festzulegen. Sie könnte dann zum Beispiel ins Feld führen, dass ein etwas großzügigerer Korridor, etwa von ein bis drei oder zwei bis drei Prozent sogar gut für die Wirtschaft ist.
Zwei Gründe sprechen für ein höheres Inflationsziel. Erstens liegt die gemessene Inflation in der Regel um etwa 0,5 bis einen Prozentpunkt über der tatsächlichen Inflation. Das liegt daran, dass die statistischen Ämter den Warenkorb, der die Preissteigerungen misst, nur alle paar Jahre neu bestücken. Mit der Zeit ersetzen Verbraucher jedoch teurer gewordene Güter durch günstigere. Auch die Qualität der Waren verbessert sich ständig, die Speicherkapazität der Computer wird größer, die Ausstattungen in den Autos luxuriöser. Die Verbraucher bekommen also oft auch mehr, wenn sie etwas mehr zahlen müssen. Das aber bedeutet, absolute Preisstabilität ist schon oberhalb der Nulllinie erreicht.
Zweitens sind Preise, vor allem Löhne, oftmals nominal rigide, das heißt, sie fallen selten. Damit es dennoch zu realen Preisverschiebungen zwischen einzelnen Gütern kommen kann, bedarf es der Hilfe der Inflation. Je höher die tolerierte Rate ist, desto leichter kann das Problem der nach unten starren nominalen Preise bewältigt werden. Denn die sich ändernden Bedürfnisse der Konsumenten führen immer zu Preisverschiebungen. Steigt die Nachfrage nach einem Produkt stark an, steigt auch sein Preis. Höhere Preise zeigen wiederum den Produzenten die Knappheit an und lassen sie mehr von den begehrten Gütern fertigen. Wenn aber die Preise anderer Güter nicht im gleichen Ausmaß fallen, kommt es zwangsläufig zu Inflation. Wird sie dann mit Zinserhöhungen bekämpft, leidet die Konjunktur unnötig. Wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, hat Euroland keine sonderlich flexiblen Güter- und Dienstleistungsmärkte. Selbst Länder, denen eine geringere Regulierungsdichte zugebilligt wird, wie England oder die USA, haben ein höheres Inflationsziel. Die britische Notenbank etwa peilt explizit 2,5 Prozent an, die amerikanische Federal Reserve implizit 2,5 bis 3 Prozent.
Die EZB sollte sich also endlich eingestehen, dass sie 1998 das Korsett zu eng geschnürt hat. Es ist Zeit, ein wenig mehr Inflation zu wagen.