Märtyrer vor Gericht-Ein Pound ist kein half Kilo!

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Dixie:

Märtyrer vor Gericht-Ein Pound ist kein half Kilo!

 
28.11.01 16:01
GROSSBRITANNIEN


Märtyrer vor Gericht


ANDREAS HOFFBAUER, London


In London stehen fünf rebellische Händler vor dem High Court, weil sie ihre Waren nicht in Kilo ausgezeichnet haben. Ein skurriler Fall – und mehr als das.


Schon nach einer Stunde hat der Oberste Richter Sir John Laws das erste Mal die Nase voll. „Kommen Sie, Mr Shrimpton, lassen Sie uns hier nicht heiße Luft produzieren und unnötig Zeit vergeuden“, poltert der kleine Mann auf der Richterkanzel los. Doch Michael Shrimpton, der Verteidiger, kämpft weiter, schon jetzt mit verrutschtem Talar. Ausführlich erklärt der Anwalt vor dem Londoner High Court, dem höchsten englischen Zivilgericht, dass die in den achtziger Jahren verordnete Einführung des Kilogramms ohne parlamentarische Grundlage erfolgt und damit ungültig sei.
Die Zwangsumstellung zum metrischen System sei mit der Regentschaft von Henry VIII zu vergleichen, wettert der Verteidiger schließlich unter dem Gelächter des bis zum letzten Platz besetzten Gerichtssaals Nummer 10. Richter Sir John dagegen findet es keineswegs angemessen, das moderne Großbritannien mit der Tyrannei im 16. Jahrhundert zu vergleichen. „Yes, my Lord“, pflichtet Shrimpton bei, „selbst Henry VIII hätte nicht im Traum daran gedacht, den Verkauf von Bananen nach Pound zu verbieten.“ Klarer Punktsieg für den Anwalt. Richter Laws rückt unwirsch die Juristenperücke zurecht.

Ein paar Bananen haben ihm den heiklen Fall eingebrockt. Eine ganze Woche musste sich der High Court im Berufungsfall mit der Frage beschäftigen, ob die Briten ihr Gemüse und Fleisch weiterhin nach alten Gewichtsmaßen kaufen dürfen. Nach einer EU-Richtlinie sind die britischen Händler gezwungen, in Gramm und Kilo zu handeln. Mindestens müssen die metrischen Maße deutlich größer als die imperialen Werte angegeben werden. Lässt das hohe Gericht das alte Pound (453,59 Gramm) wieder zu? „Wenn wir gewinnen, können die in Brüssel heimgehen“, triumphiert ein älterer Herr im Zuschauerraum, einen Anti-Euro-Aufkleber am Revers. Noch kann er hoffen, das Gericht will seine Entscheidung in den nächsten Tagen verkünden.

So skurril die Sache klingt, so skurril hat sie begonnen. Es war ein warmer Julitag im vergangenen Jahr, als eine Undercover-Agentin der nordenglischen Gemeinde Sunderland ein Bündel Bananen am Marktstand von Steven Thoburn kaufte. Der Händler wog die Ware, die Kundin zahlte – und der Skandal war geboren.

Weil er seine Ware nicht in Kilogramm, sondern in Pound abgewogen hatte, musste Thoburn vor Gericht. Inzwischen sind mit ihm vier weitere Händler aus England wegen ähnlicher Vergehen in ersten Instanzen verurteilt worden. Sie nennen sich „Metric Martyr“ (Märtyrer des metrischen Systems) und werden gefeiert wie einst Robin Hood. „Ich bin ein ehrbarer, hart arbeitender Bürger mit Frau und zwei Kindern“, sagt einer der Rebellen, der Fischhändler Neil Herron. „Doch jetzt bin ich laut der Gemeinde Sunderland, laut der britischen Regierung und laut Brüssel ein Krimineller.“

Männer wie Herron und Thoburn treffen mit ihrem Aufstand den traditionsbewussten und anti-europäischen Nerv vieler Briten. Selbst junge Leute, die in der Schule metrische Maße lernen, können mit Kilogramm und Metern wenig anfangen. Sie geben ihr Gewicht in „Stones“ an und gehen zum Bäcker 300 Yards um die Ecke. Sogar der jüngste Sohn von Tony Blair, Leo, wurde offiziell mit „6lb.12oz“ angekündigt – statt mit stolzen 3 062 Gramm. Supermarktketten wie Tesco zeichnen wieder parallel in Pound aus, weil sich Kunden beschwert hatten.

Mehr als 15 000 Briten haben für die Märtyrer gespendet, umgerechnet sind über 800 000 Mark zusammengekommen. Die fünf rebellischen Händler können also weiter kämpfen, und sie wollen notfalls ihren Pound-Streit in das britische Oberhaus bringen. Denn durch das „Diktat aus Brüssel“ seien die Menschenrechte der Händler verletzt worden, zieht Verteidiger Shrimpton seine zweite Trumpfkarte.

Im Gerichtssaal liegt das Durchschnittsalter der Zuhörer deutlich über dem Pensionsalter. Eine ältere Dame ist extra aus Buckinghamshire angereist und hat natürlich mit den anderen vor Beginn draußen protestiert. „Pound und Inches sind um Meilen besser“, so ein Schlachtruf der Demonstranten. Doch was die ältere Dame und strenge Monarchistin wirklich wurmt, ist, dass nun auch das Königshaus Ärger mit der „Kilo-Polizei“ hat.

Erst kürzlich wurde das landwirtschaftliche Gut der Queen, Sandringham in Norfolk, von der Aufsicht inspiziert. Noch immer stehen die alten Maße an der Mühle von Sandringham in großen, weißen Lettern – die metrischen Werte daneben in nur kleiner Schrift. Die EU- Vorgaben schreiben dies jedoch genau umgekehrt vor. „Soweit ich weiß, hat die Queen keine königliche Immunität in diesen Sachen“, warnte ein Behördenmitarbeiter bereits.


HANDELSBLATT, Mittwoch, 28. November 2001, 06:01 Uhr

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